Pressemitteilung : Bündnis Freiheit für Ali Ihsan / Prozessauftakt im § 129 b Verfahren gegen Ali Ihsan Kitay

Ermächtigung des Justizministeriums zur Verfolgung ohne Rechtsgrundlage Erneute Kriminalisierung trotz jahrelang erlittener Folter Am Montag, den 13. August, hat vor dem Oberlandesgericht (OLG) Hamburg das Verfahren gegen den kurdischen Politiker und Aktivisten Ali Ihsan Kitay begonnen.

 Ca. 90 Menschen beobachteten solidarisch den Prozessauftakt. Um einen Einblick in das intensive Prozessgeschehen des ersten Tages zu geben informieren wir im Folgenden ausführlich.

Anklage

Zu Anfang des Prozesses verlas die Vertreterin der Bundesanwaltschaft

(BAW) eine Kurzfassung der Anklageschrift. Der Vorwurf gegen Ali Ihsan

Kitay lautet, dass er sich von Mai 2007 bis Mitte September 2008 in

Hamburg, Kiel, Bremen, Oldenburg und an weiteren Orten in der

Bundesrepublik Deutschland sowie im Nord-Irak als Mitglied an einer

„terroristischen Vereinigung im Ausland“ beteiligt habe. In diesem

Rahmen soll er als Kader der PKK und der CDK ab Mai 2007 das Gebiet

Hamburg und ab Juni 2007 zusätzlich die Region Hamburg geleitet haben.

Straftaten in Deutschland werden ihm nicht vorgeworfen.

 

Anträge der Verteidigung

Die Verteidigung thematisierte die Problematik des §129 b und stellte

zwei Anträge.

1. Ermächtigung des Justizministeriums ohne Grundlage

 

Das Verfahren müsse eingestellt und der Mandant frei gelassen werden, da

es an der Verfahrensvoraussetzung, einer rechtmäßig zustande gekommenen

Ermächtigung zur Strafverfolgung durch das Bundesministerium für Justiz

(BMJ) fehle. Die dem Gericht vorliegende Ermächtigung sei unter einem

derart „krassen Ermessensausfall“ (juristischer Fachbegriff) zustande

gekommen, dass diese nur als nichtig betrachtet werden könne. Der

„krasse Ermessensausfall“ liegt aus Sicht der Verteidigung u.a. darin,

dass die Ermächtigung zur Verfolgung gemäß §129b StGB gegeben wurde,

ohne menschenrechtliche und völkerrechtliche Aspekte in Erwägung zu ziehen.

 

Das BMJ habe lediglich die völlig einseitigen Ausführungen der BAW zur

Grundlage genommen, in denen weder auf die Geschichte des Konflikts

zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Bewegung, noch auf die

gesellschaftliche Realität in der Türkei sowie die kontinuierlichen

staatlichen Gewaltakte gegen die kurdische Bevölkerung Bezug genommen

werde. Jahrzehntelanges Leid und gravierende Menschenrechtsverletzungen

bis hin zu extralegalen Hinrichtungen und Folter wären in der

Entscheidungsfindung völlig ausgeblendet worden.

 

In der Erklärung der Verteidigung wurde deutlich, dass in der Türkei in

den letzten Jahrzehnten, bis heute kontinuierlich schwerste

Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen stattfinden. Belegt

wurde dies anhand von Zitaten aus Urteilen von europäischen und

deutschen Gerichten, Berichten des Auswärtigen Amtes, Berichten von

Amnesty International, Expertengutachten und Zeitungsartikeln. Besonders

kritisierte die Verteidigung die Inhaftierung mehrerer tausend KurdInnen

(darunter u.a. über 200 gewählte PolitikerInnen und 50 AnwältInnen) seit

2009 und systematische Angriffe auf die Zivilbevölkerung, wie z.B. im

Dezember 2011 in Roboski, nahe der türkisch-irakischen Grenze, wo 34

ZivilistInnen per Bombardement durch die türkisches Luftwaffe getötet

wurden. Rechtsanwalt Carsten Gericke legte die historische Entwicklung

und Kontinuität der staatlichen Gewalt seit den 1990er Jahren an einer

Vielzahl von Beispielen anschaulich dar.

Zudem geht die Verteidigung davon aus, dass der Beamte des BMJ der die

Ermächtigung unterzeichnete, Dr. Boehm, nicht dafür zuständig gewesen

ist, da ihm die Kompetenz für eine derartige, weitreichende politische

Grundsatzentscheidung gefehlt habe. Diese Entscheidung hätte vielmehr

auf höchster Ebene getroffen werden müssen. Zusätzlich werde sehenden

Auges und politisch gewollt durch den § 129 b StGB zur Politisierung und

Instrumentalisierung der Strafjustiz geführt. Dies sei ein Novum

deutscher Rechtsgeschichte. Es würde damit der Regierung ein breiter

Spielraum gegeben, die strafrechtliche Verfolgung nach strategischen und

außenpolitischen Interessen zu steuern. In der strafrechtlichen

Literatur werde dies auch durchaus kritisch gesehen.

 

Das Gericht vertagte die Entscheidung über diesen Antrag – auf einen

„angemessenen Zeitpunkt“ – und entschied das Verfahren bis dahin

fortzusetzen.

 

2. Bundesanwaltschaft hält Akten zurück – unfaires Verfahren

 

In einem zweiten Antrag kritisierte die Verteidigung mangelnde

Akteneinsicht. Dies bedeute massive Verstöße gegen die Grundsätze der

„Waffengleichheit“ und ein faires Verfahren. Die BAW habe wesentliche

ihr selbst für eine angemessene Befragung von Zeugen aus den Reihen des

Bundeskriminalamts (BKA) vorliegende Akten gegenüber Gericht und

Verteidigung zurück-gehalten. Daher solle der Prozess bis Nachreichung

der Akten ausgesetzt werden. An mehreren Beispielen verdeutlichte die

Verteidigung, dass wesentliche Teile des Anklagekonstrukts auf

Erkenntnissen aus Rechtshilfeersuchen an Belgien und die Türkei sowie

Akten über die Struktur der PKK – und der ihr seitens der

Verfolgungsbehörden zugeordneten Organisationen – beruhen, die seitens

der BAW zurückgehalten werden. „Die BAW hält mit Absicht Erkenntnisse

und Akten zurück, um diese wenn es ihr passt, aus dem Hut zu zaubern“,

so Rechtsanwalt Gericke in der Antragsbegründung.

 

Das Gericht lehnte diesen Antrag ohne nachvollziehbare Begründung ab, da

die Akteneinsicht auch im Verlauf des Verfahrens rechtzeitig gegeben

werden könne.

Prozesserklärung von Ali Ihsan Kitay

Am Nachmittag der Verhandlung gab Ali Ihsan Kitay eine politische Erklärung ab.

 

Die Realität in den kurdischen Provinzen der Türkei

Der Politiker und Aktivist schilderte eindrücklich die Realität in den

kurdischen Provinzen der Türkei. „Jeder Mensch definiert sich aus dem

Spannungsfeld zwischen seiner individuellen Entwicklung und den

gesellschaftlichen Verhältnissen. Jeder Mensch ist ein soziales Wesen,

das durch seine Bezüge zu anderen Menschen lebt und hat das Recht sich

in solchen Beziehungen zu finden. Dieser Findungsprozess spielt sich

insbesondere in der Jugend der Menschen ab. Je weiter entfernt eine

Gesellschaft von sozialen Idealen ist, umso schwieriger ist dieser

Prozess“, so Kitay.

Zudem skizzierte er die Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung und

die Schwierigkeit der Betroffenen dabei diese in Ländern wie der Türkei,

bei ständiger Gewaltandrohung- und Ausübung durch staatliche Kräfte und

der Unterdrückung ganzer Bevölkerungsgruppen, umzusetzen. Kitay

beschrieb die Entwicklung der Politik des türkischen Staates gegenüber

der kurdischen Bevölkerungsgruppe von Beginn des 20 Jahrhunderts an.

Nach mehreren brutal niedergeschlagenen Aufständen in den 1930-er Jahren

sei der Konflikt seit Mitte 1980 wieder zu einer militärischen

Auseinandersetzung geworden. Die Allgegenwärtigkeit des Leids der

Bevölkerung durch Folter, Vergewaltigungen und 17.000 Morde unbekannter

Täter von denen auch Kinder und Alte Menschen betroffen waren und sind

sowie der Versuch der Vernichtung der kurdischen Kultur und der

„Schmutzige Krieg“ und die psychologische Kriegsführung seien nicht

hinnehmbar gewesen.

 

Kitay selbst war seit seiner Kindheit in seiner Heimatstadt Bingöl mit

Gewalt und Folter durch Soldaten und staatliche Kräfte konfrontiert.

Viele seiner Familienmitglieder wurden gefoltert und im Verlauf der lang

anhaltenden Unterdrückungs- und Assimilationspolitik gegen die kurdische

Bevölkerung ermordet. Er selbst habe sich in seiner Jugend dazu

positionieren müssen – und sich nach langem innerlichen Dialog dafür

entschieden Widerstand zu leisten. In einer Männerdominierten – und

Frauen auf Objekte reduzierenden – Gesellschaft, habe er sich der

Gleichberechtigung der Frau besonders verpflichtet gefühlt und dem

entsprechend eine besonders innige Beziehung zu seiner Mutter aufgebaut.

„Schon immer habe ich mich gegen Diskriminierung und Unrecht

eingesetzt,“ so Ali Ihsan Kitay. Den Menschen bleibe aufgrund der

beschriebenen Gewalt bishin zu Kriegsverbrechen lediglich die

Möglichkeit sich Unrecht und staatlicher Gewalt unterzuordnen und

innerlich zu zerbrechen oder Widerstand zu leisten. Der Entschluss, sich

damals der PKK anzuschließen, fiel ihm insbesondere in Bezug auf seine

enge Bindung zur Mutter besonders schwer.

 

Die Zeit in türkischen Gefängnissen und Folter

 

Mehrfach wurde der Aktivist in der Folgezeit verhaftet. Insgesamt

verbrachte er 20 Jahre in türkischen Gefängnissen und wurde vielfach

schwer gefoltert. Eindringlich schilderte Ali Ihsan Kitay die gegen ihn

angewandte Folter und ihre Auswirkungen. „Es fällt mir nicht leicht über

diese Erlebnisse zu sprechen oder zu schreiben. Immer wieder kommen mir

dann die Bilder ins Gedächtnis – wenn das Unterbewusstsein erst mal

geweckt ist. Ich wurde über Tage mit verbundenen Augen gefoltert – wurde

getreten und mit Gegenständen und Fäusten geschlagen, neben meinem Kopf

wurden Schusswaffen abgefeuert, meine Hoden gequetscht. Ich wurde an den

Füssen aufgehängt und mit Druckwasserschläuchen und Elektroschocks

gefoltert – mehrfach hat man mir den Tod angedroht. Und dann wird man in

eine Zelle zurückgebracht – mit verbundenen Augen – und hört die Schreie

der Mitgefangenen in der Folter. Durch die Unsicherheit und die Angst

sollen die Menschen physisch und psychisch gebrochen werden. Man

verliert das Gefühl für die Zeit – weiß nicht ob es Tag oder Nacht ist.

Man wartet dann was als nächstes kommt – in jedem Moment kann die Folter

von Neuem beginnen. Mir wurde angedroht, dass sämtliche Foltermethoden

an mir auch vor den Augen meiner Familie durchgeführt werden. In manchen

Momenten der Folter erscheint einem der Tod als willkommener, als weiter

solche Qualen durchzustehen.“

 

„Man kann zwar die Praktiken beschreiben, aber was das mit einem

Menschen macht – das kann man mit Worten nicht fassen. Nur meine

Hoffnung und meine Überzeugung, dass ich für den Frieden und die

Gerechtigkeit kämpfe – und mein Wille – haben mich am Leben gehalten.

Eigentlich muss man nach erlebter Folter das Geschehen aufarbeiten. Im

Gefängnis ist man jedoch immer wieder erneut bedroht. Man lebt dort in

einer unbeschreiblichen Welt, wie in einer Streichholzschachtel“,

erklärte Kitay. Mehrmals war er über mehrere Jahre Inhaftiert und konnte

zweimal fliehen. Einige seiner Mithäftlinge starben bei den

Fluchtversuchen oder wurden durch Folter ermordet. Kitay selbst wurde

jeweils erneut verhaftet – und dann schwerer als zuvor gefoltert. Zu

keinem Zeitpunkt hat er eine Aussage gemacht. Auch diese Stärke hielt

ihn am Leben. Nach seiner letzten Haftentlassung wurde er erneut

systematisch von „Sicherheitskräften“ bedroht – und immer wieder in

Gewahrsam genommen – so dass Ali Ihsan Kitay schließlich zuerst von

Bingöl nach Istanbul und dann nach Deutschland floh, wo er aus

politischen Gründen Asyl bekam. „Kein Mensch verlässt freiwillig seine

Familie und Freunde. Diejenigen die man liebt, in der Heimat

zurückzulassen ist sehr schwer- aber wenn einem das Leben unmöglich

gemacht wird – und man ständig bedroht wird, gibt es keinen anderen

Ausweg“, erklärte Ali Ihsan Kitay.Haftbedingungen in der Bundesrepublik

 

Der Aktivist der kurdischen Bewegung saß auch in der Bundesrepublik ohne

rechtliche Grundlage von Oktober 2011 bis Juni 2012 in Isolationshaft –

und erst seitdem in „verschärftem“ Normalvollzug. Die Gespräche mit

BesucherInnen finden noch immer hinter einer Trennscheibe im Beisein von

Beamten des Landeskriminalamtes (LKA) statt und werden filmisch

aufgezeichnet. Die Post einschließlich der Verteidigerpost wird

überwacht. Aufgrund der Dunkelheit in seiner Zelle hat Ali Ihsan Kitay

mittlerweile Sehstörungen.

Kundgebung

Vor dem Prozessbeginn fand ab 8.00 Uhr vor dem Gerichtsgebäude eine

Solidaritätskundgebung statt, an der ca. 100 Menschen teilnahmen und die

Freilassung Kitays und weiterer aufgrund des § 129b inhaftierten

KurdInnen forderten. „In dem jetzigen Verfahren wird es u.a. darum

gehen, ob der Kampf gegen lang anhaltendes Unrecht und um

Selbstbestimmungsrecht legitim und völker-rechtlich zulässig und

gerechtfertigt ist“, hieß es in einer Erklärung des „Bündnis Freiheit

für Ali Ihsan“. In der Türkei werden noch immer Soldaten, Polizisten und

Gefängniswärter u.a. gemäß der „Panamaschule“, einer Schule für

Foltermethoden, ausgebildet. Gestern nahm die türkische Polizei erneut

Kinder und Jugendliche fest, die bereits im Gefänngnis von Pozanti

systematisch u.a. von Wärtern vergewaltigt wurden. Vor dem Hintergrund

täglicher derartiger Menschen-rechtsverletztungen und in Anbetracht der

Prozesserklärung von Ali Ihsan Kitay, sind wir der Ansicht, dass jeder

Mensch mit einem Gewissen sich dafür einsetzen sollte das Unrecht in der

Türkei schnellstmöglich zu beenden. Die kurdische Bewegung ist seit

langem zu einem würdevollen Frieden bereit. Der § 129 b StGB

widerspricht der Gewaltenteilung – und bedeutet allein deshalb unnötige

Gewalt.

Nächste Prozesstermine: Dienstag 14., Dienstag 21., und Mittwoch 22. August

jeweils um 9.00 Uhr, OLG Hamburg, Sievekingplatz 1

weitere Informationen: www.freealiihsan.tk