Notre-Dame als Symbol / Dieser Teil von uns – Ein Kommentar von Jürgen Kaube
MESOPOTAMIA NEWS „NOTRE DAME DE PARIS“ : JÜRGEN KAUBES STRINGENTE WORTE JENSEITS ALL DER DUMMEN GESCHWÄTZIGKEITEN
Niemand würde den Eiffelturm als „Teil von uns“ bezeichnen, aber Notre-Dame ist Teil jedes französischen Herzens. Die Bestürzung über die brennende Kathedrale gehört zu einer Moderne, die für ihre eigenen Folgen empfindlich ist.
Sie sei das Herz des Herzens Frankreichs, wird über Notre-Dame de Paris gesagt. Von ihr aus als Nullpunkt werden die Entfernungen zu anderen Orten im Land gemessen. In „Auprès de ma blonde“, einem ewigjungen Soldatenlied aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert, heißt es am Ende, das Mädchen gäbe sogar die beiden Türme von Notre-Dame, will sagen: alles hin, wenn nur ihr Geliebter aus der damals holländischen Kriegsgefangenschaft zurückkehrte.
Emmanuel Macrons erste Sätze zur brennenden Kirche, die von ihr als „cette part de nous“ sprachen, diesem Teil von uns, trafen ihre Bedeutung gut. Denn mit „Wahrzeichen“ ist sie weit untertrieben, ja verfehlt. Niemand dort würde den Eiffelturm, das berühmteste atemberaubende Wahrzeichen von Paris als „Teil von uns“ bezeichnen, und nicht einmal die Kathedrale von Chartres, vielleicht die am meisten überwältigende von vielen schönen. Notre-Dame ist Teil jedes französischen Herzens auch nicht nur ihres Alters halber. Sie ist es ihrer Unwahrscheinlichkeit halber, die mit der Unwahrscheinlichkeit des Christentums – ein Kind als Gott – verbunden ist.
Auf einer Insel inmitten einer Stadt
Jeder Franzose von Bildung kennt Victor Hugos Roman, dessen Vorwort mit der Bemerkung endet, die Kirche werde vielleicht, wie der geheime Held des Romans, bald von der Erde verschwinden. Damals, 1831, war Notre-Dame, malträtiert in den Revolutionen, am Verfallen. Restauriert wurde sie aus dem Geist einer Romantik, die im Alten nicht nur ein Zeitzeugnis erkennen wollte, sondern auch eine Mitteilung an die Gegenwart. Das betrifft Bauwerke, das betrifft jedoch genauso Glaubensformen.
Jeder gebildete Franzose kennt auch das Ereignis am 25. Dezember 1886, beim zweiten Pfeiler nahe dem Eingang des Chores auf der rechten Seite der Sakristei von Notre-Dame. Dort erlebte der achtzehnjährige Paul Claudel, den ein blasiertes Interesse an „dekadenten Übungen“ in die Weihnachtsmesse gezogen hatte, mit einem Schlag „die ewige Kindheit Gottes“. Der 1913 verfasste Bericht des später weltberühmten Dichters über seine Konversion gehört zu den Grundtexten der intellektuellen katholischen Erneuerung in Frankreich.
Warum uns Notre-Dame berührt
Ein Teil ihrer, der Franzosen, ist Notre-Dame insofern auch, weil sie eine Kathedrale auf einer Insel inmitten einer Stadt und eines Landes ist, von dem die Säkularisierung ausging, weswegen bis in unsere Tage davon gesprochen wird, es gebe zwei Frankreichs. Und sie lägen im unversöhnlichen Widerstreit. Die jüngsten Heimsuchungen der Nation – von Charlie Hebdo über Bataclan bis Nizza – lassen sich so wenig auf diese Unterscheidung abbilden wie die gelbkostümierten Proteste aus der Provinz und den Vorstädten im Kern etwas mit dem katholischen gegenüber dem säkularen Frankreich zu tun haben.
Doch wenn jetzt davon gesprochen wird, Notre-Dame von Paris sei auch Notre-Dame von Europa, kann es nur ein Symbol dafür meinen, dass Altes uns etwas zu sagen hat, dass Stärke und Größe nicht unsere Maßstäbe sind und wir darum nicht stoßen sollen, was fällt und zerfällt. Die Bestürzung über die brennende Kathedrale gehört zu einer Moderne, die für ihre eigenen Folgen empfindlich ist und sich nicht dem Aberglauben hingibt, alles Alte – sei es ein Bauwerk oder ein Marienglaube – sei längst vergangen und überholt.