„NEUES AUS DER KULTUR VON LBGTI“ – IN EINER POSTHUMANEN WELT DES ORGANISIERTEN MASSENKOLLEKTIVS

MESOP EMPFEHLUNG : „DIE FOLLOWERS“  – DIE KOMMENDEN – DAS ROWOHLT BUCH VON ERWIN RUGE

  • „Nach einem Theorem Jean Baudrillards ist der Tod der einzig uneintauschbare Wert und daher auch die einzige Exit-Option aus den medialen Simulakren“. –

Science Fiction Autoren haben es heute bequem. Es reicht, die Gegenwart mit wenigen Schritten hochzurechnen, um dort zu sein, wo Techno-Intellektuelle und KI-Ingenieure längst sind: in einer posthumanen Welt, deren humanem Bestand über den gewachsenen Möglichkeitssinn schrittweise das Wirklichkeitsgefühl abhandenkommt. Der Mathematiker, Geo-physiker und Schriftsteller Eugen Ruge, dessen Romandebüt „In Zeiten des abnehmenden Lichts” im Jahr 2011 auf Anhieb den Deutschen Buchpreis gewann, kann auf diesem Feld zudem seine naturwissenschaftliche Bildung ausspielen. Ob Ruge auch den Ton der ihm ungeliebten technischen Zivilisation treffen würde, war nach seinen bisherigen Büchern, einem historischen Familienepos und einer metaliterarischen Reflexion über das Schreiben, aber ungewiss.

Nio Schulz, der Held von Ruges Zukunftsroman „Follower”, trägt die technisch überformte Welt hautnah am und im eigenen Körper: als Silikon-Implantat, mentales Exoskelett und Dauer-Innervation im Hashtag-Strom: „@Luzia teilt mit, dass ihr Kokos-Bounty-Geburtstagskuchen angebrannt sei”, liest Schulz auf seinem Newsfeed.

Wer ist das globale Wir, auf dessen Neugier die unbekannte Luzia spekuliert? Es sind in jedem Fall nicht mehr Mann und Frau. Die Emanzipation hat sich bei Ruge im Identitätsroulette verloren und eskaliert im Geschlechtervernichtungskampf. Die neutralisierten Körper sind strategische Verfügungsmasse und werden meist zum Nachteil der Männerwelt eingesetzt, die es als Zielscheibe radikalfeministischer Hetze noch gibt. „Post von @feinfatal: Geh sterben fetter weißer Hetero.”

Leicht gesagt in der von Ruge grell und genüsslich inszenierten Warenwelt, die Sinn und Sinnlichkeit aufgesogen hat und in Produktform als Identitäts-Applikation anbietet: Kurzburka mit Pilotenstiefeln. Dummies mit combat traces. Pantys mit gender confession brand. Die globale Produktpalette zielt auf den Verkauf kollektiver Identitäten. An jeder Ecke stellt sich Schulz das Gebot: „Checking identity.” Frauen, die es nicht mit der Militanz halten, laufen als pinkfarbene Mickymäuse durch diesen Markenkosmos oder, zeitlich versetzt, als beides: erst Escort-Girl, dann militant fern. Islamic gilt als chic. Wie der Islam die weibliche Erotik in Schleier hüllt, schweißt sie der Westen ins Marken-produkt, dem man sich ebenso bedingungslos unterwirft: „Follower” eben, jeder auf seine Art.

Die nexreconomy hat auch die Zeit kolonisiert. China ist nach Unternehmensanteilen in vier Zeitzonen aufgeteilt. Russland wird gerade an der Börse verscherbelt. Nio Schulz arbeitet bei E.on/Deutschland in befristeter Anstellung. Was seine Leistungsbereitschaft fördert und ihn zu penibler Selbstbefragung anhält, die mit immer neuen Erfolgen besänftigt werden muss.

In dieser Welt wacht Nio Schulz eines morgens in einem seltsamen Identitätsschwindel auf. Die globale Markenwelt bietet ihm keine Anhaltspunkte. Sein Aufenthaltsort nennt sich Wü Cheng, liegt irgendwo in China und heißt zu Deutsch: keine Stadt. Auch sein Geruchssinn bringt Schulz auf der Suche nach dem verlorenen Weltgefühl nicht weiter. Es riecht verkaufsfördernd nach gemähtem Gras.

Echt scheint nur die fette weiße Fliege, die unablässig gegen den Bildschirm im Hotelzimmer prallt. Es ist die millionenfach geklonte Zeitfliege der Universe-Uhr, die das globale Niemandsland synchronisiert. Im Alltag wird Schulz durch sein Kommunikationsverhalten stabilisiert, amtlich erfasst nach aktiven und passiven Kontakten, Clusterzahl, Agglomeration, und gebündelt zu einem Psychotyp. Schulz ist Fischmaul: viele passive, wenige aktive Kontakte. Verdächtig. Beruflich bewirbt Schulz Lauf-Fußbänder, die er dem chinesischen Markt so schmackhaft machen will wie seinen letzten Verkaufshit: das essbare Zimmermädchenkostüm.

Schulz ist gut im Geschäft, wird seit einem gescheiterten Projekt aber von Selbstzweifeln gequält. Seine Chefin sieht ihn aufmerksamer an und hat neuerdings ein Verhältnis mit Schulz’ Kollegen Jeff, einem schleimigen Crossgender-Strategen, der ab und zu die Damentoilette benutzt, weil ihm „mösig zumute ist”. Schulz, der solche Kalamitäten mit Antidepressiva und Männlichkeitspillen besteht, peinigt die Gier nach unverstellter Erfahrung. „Am Frühstückstisch wird er von einer Welle des Hasses durchströmt, von dem heißen Wunsch, der pinkfarbenen Mickymaus etwas Schlimmes anzutun, guten Appetit.”

Von seinem Newsfeed wird Schulz parallel über die weltpolitische Lage informiert, skizzenhaft dargestellt am UN  Klimaprogramm, das in Australien H-Bomben gegen den Klimawandel zün-det, gegen den Protest von Aktivisten, mit denen sich ein globaler Bierbrauer solidarisiert: „Zäpfle-Bier eröffnet ein Spenden-Konto für die Ptjantjatjara  Arrernte Luritja und weitere Stämme des vorkolonialen australischen Kontinents.” Lokalkolorit kommt aus der kulinarischen Konserve: Der Wienerwald von Wü Cheng bietet Tofu-Eisbein und Thüringer Klöße an, ser-viert von einer Chinesin in Schottenrock.

So gibt es auf jeder Seite gleich mehrere Exotika zu bestaunen: nepalesische Spenderprofilkinder, die Steve-Jobs-Oberschule oder „neoplasmatisch veredelte Ärsche”. Ruge schreibt mit geballter Faust, beißend, viril, stellenweise überdeutlich, doch präzise und kenntnisreich, fast immer auf der Höhe des Gegenstands. Bewundernswert, wie mühelos ihm der Genrewechsel gelingt und wie ökonomisch er seine Erzählung auf wenige Orte konzentriert: Hotelzimmer, Bad, Frühstücksraum, Shopping-Mall. Die Welt schwappt über Ticker und Streams ins hyperventilierte Bewusstsein. So steigert Ruge die Irrealität und fasst sie zugleich konkret.

Wäre sein Zorn nur nicht so groß. An einer Stelle schreibt Ruge von brachialem Schneefall. Hat man Schnee je so hart fallen sehen? Man kann es als Symptom deuten. Nach gut zweihundert Seiten macht Ruge nämlich den gewaltsamen Versuch, den Roman mit seinem Vorgänger zu verschalten, das DDR-Familienepos gleichsam in die nächste Generation fortzuerzählen. Der Tod des Großvaters, zu dem Whatsapp Nio Schulz herzlich gratuliert, motiviert den Erzähler zu einem weit ins Kosmologische ausholenden Exkurs, mit dem spärlichen Erkenntnisgewinn, das Leben in seiner Unwahrscheinlichkeit und Kontingenz begreifbar werden zu lassen —als hätte das erst deutlich werden müssen. Der historische Notausgang aus der vernagelten Welt ist in der Idee überzeugend, gerät bei Ruge aber zur wutentbrannten Elegie. Von seinem Großvater, einem enttäuschten Kommunisten, wie Ruge 1954 geboren, leiht Nio Schulz sich die antitotalitäre Leidenschaft, um die ewig flüchtige vernetzte Welt zu stellen und mit eiserner Faust zu zerschmettern.

Nach einem Theorem Jean Baudrillards ist der Tod der einzig uneintauschbare Wert und daher auch die einzige Exit-Option aus den medialen Simulakren. Schulz hat sich das Tötungsrecht an einem straffälligen Hilfsarbeiter gesichert, die Welt handelsorganisation hat die kommerzielle Verwertung des Todes erlaubt. Der Kopf des Delinquenten liegt auf dem Holzklotz, erdige Gerüche verströmend. Und es fragt sich, ob Schulz das eigene Leben zum Tausch anbieten wird, wie Ruge es weiter vorne mit einem Songzitat angedeutet hat: „Ich fühle, aber ich weiß nicht, was. Ich will lieber tot sein als DAS.”

Ruge scheut am Ende diese radikale Konsequenz und flüchtet in trunkene Nostalgie. Sein Held erledigt die liquide Moderne mit einem Fausthieb und fährt auf einem Elektroroller hinaus in die atmende, strömende Welt. Mit einem Mal ist alles wieder da: das vom Fahrtwind zerzauste Haar, die singenden Reifen auf dem Asphalt. Eine Krähe grüßt den Flüchtigen, der versöhnt “das Zing-Zing von Großvaters Sense” hört.

THOMAS THIEL

EUGEN RUGE  „Follower. Rowohlt Verlag, Reinbek SOMAN       2016. 320 S., geb., 22,95 €.