Murat Karayilan : “Mehr als nur die kurdische Frage lösen” / “Kein blosses taktisches Manöver”
KCK-Exekutivratsvorsitzender Murat Karayilan : Wir bewerten den aktuellen Prozess nicht bloß als taktisches Manöver
30.3. 2013 – Nuce TV / isku – Alle Seiten diskutieren nun über den aktuellen politischen Prozess. Diese Diskussionen sind sehr wichtig und müssen weiter geführt werden. Was bei den Diskussionen allerdings stets im Hinterkopf sein sollte, ist, dass wir den aktuellen Prozess nicht bloß als taktisches Manöver begreifen. Es geht uns also nicht darum, bloß die kurdische Frage zu lösen, um dann zu sehen, was passieren wird. Wir wollen einen Beitrag zu einem Mentalitätswechsel in unserer Region leisten.
Bisher ging es vornehmlich darum, die Völker, die Kulturen, die Religionsgemeinschaften in dieser Region zu spalten und sie gegeneinander in Kämpfe zu verwickeln. Wir wollen nun einen Beitrag zu einer Neuformulierung des friedlichen Miteinanders dieser verschiedenen Gruppen leisten. Das ist unsere Perspektive, unser strategisches Ziel. Natürlich wollen wir zunächst zu einer Lösung der kurdischen Frage in der Türkei beitragen, einen Frieden der Völker in der Türkei etablieren. Ausgehend hiervon wollen wir allerdings auch ein Beispiel für die Völker der Region aufzeigen und mit diesem Schritt einen Mentalitätswechsel in der gesamten Region anstoßen.
Unser neunter Waffenstillstand soll endlich zu einem nachhaltigen Frieden führen
In diesem Sinne hat unsere Bewegung nach dem historischen Aufruf unseres Vorsitzenden [Abdullah Öcalan] zum neunten Mal einen Waffenstillstand erklärt. Unser Vorsitzender ist eigentlich seit der Ausrufung des ersten einseitigen Waffenstillstands im Jahre 1993 darum bemüht, eine Lösung der kurdischen Frage mit demokratischen Mitteln zu bewirken. Danach haben wir sieben weitere Male einseitige Waffenstillstände ausgerufen. 1999 haben wir gar alle unsere Kräfte aus der Türkei zurückgezogen, um die Basis einer demokratischen Lösung zu schaffen. Die Gegenseite hat allerdings auf keinen dieser Lösungsversuche eine angemessene Reaktion gezeigt, sodass diese Versuche einseitig blieben und zu keinen Ergebnissen führen konnten. In den letzten drei, vier Jahren haben sich einige internationale Organisationen zwischengeschaltet, wollten zwischen beiden Seiten vermitteln und wir haben den Oslo-Prozess durchlebt. Auch dieser Prozess blieb ergebnislos.
Nun wollen wir, dass unser neunter Waffenstillstand endlich zu einem nachhaltigen Frieden führt. Wir konnten zwar bei den vorherigen Versuchen keine zufriedenstellenden Ergebnisse erlangen, aber wir haben viele wichtige Erfahrungen gemacht, aus denen wir unsere Lehren ziehen konnten. Deshalb muss der aktuelle Prozess noch bewusster geführt werden, die Fehler der früheren Versuche dürfen nicht wiederholt werden. Statt den Waffen muss nun die Politik sprechen. Hierfür haben wir zunächst auch einen Waffenstillstand ausgerufen. Wir treffen gegenwärtig auch die Vorbereitungen für einen Rückzug unserer bewaffneten Kräfte. Hierfür versuchen wir diese Kräfte zu erreichen und sie von dem neuen politischen Prozess zu überzeugen.
Für einen Rückzug muss die Gegenseite auch Schritte einleiten
Bevor unsere Kräfte sich zurückziehen, erwarten wir allerdings, dass die Gegenseite einige Schritte einleitet. Das darf nicht falsch verstanden werden. Wir sagen nicht, dass das türkische Parlament zunächst die kurdische Frage vollständig lösen soll und wir erst dann unsere Kräfte zurückziehen werden. Diese Forderung hatten wir beim Oslo-Prozess noch gestellt, was auch ein Grund dafür war, dass dieser Prozess ins Stocken geriet. Nun halten wir an dieser Vorbedingung nicht mehr fest. Aber der Vorsitzende hat in seiner Erklärung nun deutlich gemacht, dass der Staat zumindest eine juristische Basis für die spätere Lösung der kurdischen Frage gewährleisten muss, bevor unsere Kräfte sich darauf stützend zurückziehen können.
Manch einer kann fragen, weshalb wir an solch einer Bedingung festhalten. Der Grund sind unsere Erfahrungen aus dem Rückzug unserer Kräfte im Jahre 1999. Damals wurden unsere Kräfte in eine Falle gelockt. Unsere bewaffneten Kräfte hatten sich in Amed (Diyarbakir) gesammelt und haben sich dort in der Umzingelung des türkischen Militärs wiedergefunden. Zweitens hat niemand den Friedenswillen unserer Bewegung unterstützt. Fünf Jahre lang wurde keine einzige Kugel unsererseits abgeschossen und es hat sich dennoch kein Friedenswille entwickelt. Damit sich dies nicht wiederholt, fordern wir, dass das türkische Parlament eine Entscheidung fällt, die als Basis für eine spätere Lösung der Frage dienen kann.
Europa sollte eine konstruktive Rolle bei der Lösung der Frage spielen
Im aktuellen politischen Prozess sollte auch Europa eine konstruktive Rolle einnehmen. Denn es waren schließlich die europäischen Mächte, die mit dafür verantwortlich waren, dass überhaupt eine kurdische Frage existiert. Das kurdische Volk hat bis heute viel Leid und große Tragödien erlitten. Der Westen hat seine Ohren demgegenüber verschlossen. Der Grund hierfür ist, dass sie nicht durch die Lösung des Konflikts sondern durch seine Fortexistenz die eigenen Interessen gewahrt sahen. Wir sollten uns weiter bekämpfen und sie sollten hiervon profitieren. Das muss ein Ende finden. Die kurdische Frage ist mittlerweile eine internationale Frage. Wenn die internationalen Mächte einen Beitrag leisten, kann sich die Lösung dieser Frage einfacher gestalten. Aber vor allem sollten sie einer Lösung nicht im Weg stehen. Das Massaker von Paris war beispielsweise ein direkter Angriff auf den gegenwärtigen Prozess. Hier muss alles dafür getan werden, dass die Verantwortlichen hinter dieser Tat zur Rechenschaft gezogen werden. Auch auf anderen Ebenen kann Europa eine konstruktive Rolle einnehmen. So wurde unsere Bewegung in einer Phase, in der wir uns erneut in einem Waffenstillstand befanden, auf die EU-Terror-Liste aufgenommen. Sie haben diesen Schritt also nicht in einer Phase unternommen, in welcher der Krieg am Entflammen war, sondern als keine einzige Kugel unsererseits abgeschossen wurde. Wenn Europa diese Entscheidung korrigiert und die PKK aus dieser Liste rausnimmt, wäre das ebenfalls ein Beitrag für den gegenwärtigen Prozess.
Drei Etappen zur Lösung der Frage
Die Lösung der kurdischen Frage besteht unserer Ansicht nach aus drei Etappen. Wir befinden uns gegenwärtig in der ersten Etappe. Wenn die Bedingungen für einen Rückzug unserer Kräfte gegeben sind, und wir den Rückzug erfolgreich abgeschlossen haben, gehen wir zur zweiten Etappe über. Was passiert in dieser Etappe? Hier müssen der Staat und die Regierung handeln. Sie müssen eine neue Verfassung erlassen, welche die Lösung der Frage miteinschließt. Wir sehen die Lösung der Frage in einer vollständigen Demokratisierung, in einem System, in welchem alle Identitäten anerkannt werden und ihre Repräsentanz wiederfinden. Deswegen fordern wir eine Verfassung, durch welche das kurdische Volk mit seiner eigenen Sprache und Kultur leben und sich im Rahmen des türkischen Territoriums selbstverwalten kann.
Wenn solch eine neue Verfassung steht, gehen wir zur dritten Etappe der Lösung über. Wir verstehen diese Etappe auch als eine Art „Wegbereinigung“. Denn in der türkischen Öffentlichkeit wird immer wieder gesagt, dass wir doch die Waffen niederlegen und Politik betreiben sollen. Aber wie soll das funktionieren, wenn sich alle unsere Politiker gegenwärtig in Haft befinden? Deshalb können wir von keiner Lösung sprechen, solange die „KCK-Gefangenen“ weiter in Haft sitzen. An dieser Stelle muss eben eine Wegbereinigung durchgeführt werden, damit der Prozess in gesunder Form weitergeführt werden kann.