Moskau & Ankara rücken näher : Atomkraftwerk, Gasleitung & ein Krieg

MESOPOTAMIA NEWS : DIE NEUE DAUERHAFTE SÜD-OST-ACHSE

Von Michael Martens , Athen  – FAZ  – 5 April 2018 – Putin und Erdogan demonstrieren in Ankara Einigkeit. Sie wollen auch in Zukunft kooperieren – nicht nur auf dem Schlachtfeld.Ein Atomkraftwerk, ein Luftabwehrsystem, eine Gasleitung, ein Krieg – und vielleicht sogar ein Frieden: Die Liste der russisch-türkischen Kooperationsvorhaben ist lang. Und sofern die Türkei nicht wieder ein russisches Kampfflugzeug abschießt wie im November 2015, werden einige der Vorhaben vielleicht sogar verwirklicht werden.

Zur Erinnerung: Es ist noch nicht einmal drei Jahre her, da glitten die Beziehungen zwischen den beiden eurasischen Autokratien in eine mehrmonatige Eiszeit ab, nachdem die Türkei ein aus Syrien kurzzeitig in ihren Luftraum eingedrungenes russisches Kampfflugzeug abgeschossen hatte.

Gegenseitige Sanktionen, welche die Türkei nicht zuletzt durch das von Moskau staatlich erzwungene Ausbleiben russischer Touristen deutlich härter trafen als Russland, waren die Folge. Tauwetter setzte erst ein, als sich Erdogan im Juni 2016 zu einem für seine Verhältnisse ungewöhnlichen Schritt entschlossen hatte: Er kroch gleichsam zu Kreuze, entschuldigte sich schriftlich bei seinem russischen Gegenpart Wladimir Putin für den Vorfall und gelobte Besserung.

Einigkeit an fast allen Fronten

Seither hat sich die russisch-türkische Interessengemeinschaft überraschend rasch konsolidiert. Das deutete sich am Tag vor dem Gipfeltreffen am Mittwoch in Ankara an, bei dem Erdogan, Putin und der iranische Präsident Hassan Rohani ihre Ansprüche im Syrien-Krieg anmelden. Putin war schon am Vortag zu Gesprächen mit Erdogan in Ankara zusammengetroffen. Danach demonstrierten die beiden Staatschefs Einigkeit an fast allen Fronten. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand die Nachricht über den Beginn des Vorhabens zum Bau des ersten türkischen Atomkraftwerks, das mit russischer Technik in der Mittelmeerprovinz Mersin im Süden des Landes entstehen soll. Als Idee existiert das Projekt schon seit fast einem Jahrzehnt, in dem es stets der Konjunktur der russisch-türkischen Beziehungen unterworfen war, zwischenzeitlich also auch schon für gescheitert erklärt wurde.

Glaubt man den Erklärungen Erdogans und Putins, soll nun aber nichts mehr dazwischenkommen. Erdogan teilte in Ankara mit, dass türkische Atomkraftwerk bei dem Ort Akkuyu werde, wenn 2023 alle vier Reaktoren einsatzbereit sind, ein Zehntel des wachsenden Strombedarfs der Türkei decken. In Ankara wird hervorgehoben, auf diese Weise solle auch die türkische Abhängigkeit von Öl und (russischem) Gas gemindert werden. Allerdings verfolgen beide Staaten parallel zu ihren Atomplänen auch das Projekt „Turkish Stream“, das den Bau einer Erdgasleitung von der russischen an die türkische Küste unter dem Schwarzen Meer hindurch vorsieht.

Putin, der sich auf seiner ersten Auslandsreise nach seiner Wiederwahl im März befand, erhob das geplante Atomkraftwerk zu einem Symbol der türkisch-russischen Freundschaft. Er betonte auch, dass man an die 350 türkischen Firmen und Zulieferer an dem Vorhaben beteiligen werde. Berat Albayrak, der türkischer Energieminister, vor allem aber Erdogans Schwiegersohn und nach Ansicht mancher schon deshalb auch dessen möglicher Nachfolger im höchsten Staatsamt ist, versicherte den Türken, dass in dem Kraftwerk nur modernste Technik verwendet werde, um die höchstmögliche Reaktorsicherheit zu gewährleisten. Er erwähnte auch, dass die veranschlagten Baukosten von umgerechnet mehr als 16 Milliarden Euro das Projekt zum teuersten in der Geschichte machten. Die Türkei habe aber darauf geachtet, dass es zu einem Technologietransfer komme. So habe man im Rahmen des Akkuyu-Projekts knapp 250 Studierende nach Russland entsandt, um eine Generation von türkischen Nuklearfachleuten zu fördern. Ungeahnte Möglichkeiten tun sich auf.

Ein anderes Großprojekt, von dem die Beteiligten versichern, es werde nun sogar beschleunigt abgewickelt, ist der türkische Kauf des russischen Luftabwehrsystems S-400 durch das Nato-Mitglied Türkei. Die Nato hat Ankara oft gewarnt, das russische System sei mit der Luftabwehrtechnik der Nato nicht „interoperabel“, also nicht integrierbar in das europäische Verteidigungssystem der Allianz, das von dem gemeinsam Kommando im rheinland-pfälzischen Ramstein aus koordiniert wird. Noch vor einigen Monaten mutmaßte manch ein westlicher Diplomat in Ankara, die Türkei kokettiere nur deshalb mit einem Kauf in Russland, um die Preise für ein eigentlich gewolltes System westlicher Bauart zu drücken. Doch wenn sich nicht noch etwas ändert, trifft diese Vermutung nicht zu. In Ankara kolportierte Versuche der Amerikaner, der Türkei den Kauf des amerikanischen Patriot-Abwehrsystems durch Dumpingpreise schmackhaft zu machen, haben bisher jedenfalls keinen Erfolg gehabt.

Das Vertrauen in den Westen schwindet

Erdogan verkündete nach seinen Treffen mit Putin jetzt im Gegenteil, die Einigung über das S-400-Systen sei endgültig, das Kapitel geschlossen. Warum aber kauft die Türkei für angeblich zwei Milliarden Euro ein Abwehrsystem, das in die Militärarchitektur des Bündnisses, dem sie immer noch angehört, nicht integriert werden kann? Es gibt Militärsachverständige nicht nur in Ankara, die behaupten, dass die Frage bereits die Antwort erhalte: Nicht obwohl, sondern gerade weil die S-400-Technik nicht „interoperabel“ mit den Nato-Systemen ist, sei Erdogan daran interessiert. Er traue insbesondere den Amerikanern nicht mehr und wolle die Türkei mit Verteidigungsgütern ausrüsten, die von vom Westen unabhängig seien. Nachweisen lässt sich der Wahrheitsgehalt solcher Spekulationen einstweilen nicht, doch muss, was noch vor wenigen Jahren absurd geklungen hätte, angesichts von Erdogans immer deutlicherer antiwestlicher Kehrtwende der jüngsten Zeit nicht mehr unweigerlich ein Hirngespinst sein.

Bei den russisch-türkisch-iranischen Gesprächen am Mittwoch standen derweil Versuche der drei Kriegsparteien im Mittelpunkt, in Syrien auf einen Nenner zu kommen. Auch dabei gibt es offenbar Fortschritte, nachdem Russland den türkischen Feldzug gegen die Kurden im nordwestsyrischen Afrin unterstützt und der sonst selten zurückhaltende Erdogan zu den zahlreichen Kriegsverbrechen bei dem ebenfalls von Moskau gedeckten Angriff des syrischen Regimes auf Ost-Ghouta geschwiegen hat. Ilnur Cevik, einer der außenpolitischen Berater Erdogans, hat vor Putins Ankunft in Ankara per Leitartikel skizziert, wie die Türkei sich die weiteren Schritte vorstellt: In Ankara, und später auf einem ähnlichen Gipfel in Iran, sollten die drei Staaten mit der Diskussion über eine Nachkriegsverfassung für Syrien beginnen.

Dass die kurdische Provinz Afrin im Nordwesten Syriens künftig türkischer Kontrolle unterstehen und von durch die Türkei ernannten Gouverneuren regiert werden soll, hat Ankara schon bei anderer Gelegenheit deutlich gemacht. Cevik fügte dem nun hinzu, die Türkei habe im Grunde nichts dagegen, dass Russland seine Militärstützpunkte in Syrien behalte. Für die Vereinigten Staaten sei es hingegen „früher oder später“ Zeit, Syrien zu verlassen, befand Cevik. In Syriens ist also wirklich nicht zu erkennen, wer eigentlich mit wem in einem Militärbündnis steht und wer nicht. www.mesop.de