MESOPOTMIA NEWS : IN ZEITEN MANICHÄISCHEN WELTBILDES (DU BIST NAZI – NEIN DU BIST NAZI!)

Das Palaver der Patienten – Thomas Thiel (FAZ)

Einladung, Ausladung, Ratlosigkeit: Unsere Debattenkultur liegt im Fieber. Gesprächewerden verweigert, abweichendes Denken wird als „toxisch” ausgegrenzt. Woran liegt das?

Ups, es ist schon wieder passiert: Die Studienstiftung des deutschen Volkes hat nach scharfen Protesten eine Podiumsdiskussion mit dem Titel „Diskurs — Feindschaft und das Politische” abgesagt, an der Ende März ein prononcierter Vertreter der Neuen Rechten hätte teilnehmen sollen. Nachdem eine Bundestagsabgeordnete der Linkspartei ihre Teilnahme an der Diskussion abgesagt hat, als sie erfuhr, dass sie dort mit Götz Kubitschek hätte reden sollen, wird die Diskussion nicht stattfinden.

Einladung, Ausladung, Ratlosigkeit: In der Debatte über Grenzen der Redefreiheit etabliert sich ein Muster. Auffällig ist die Unsicherheit der Gastgeber, die man vordergründig als Haltungsschwäche bewerten könnte. Der Widerstand der Stiftung gegen weltanschauliche Debatten, die einen vorgegebenen Konsens nicht sprengen sollen, verdient aber zunächst Anerkennung. Ebenso überzeugend ist ihr Argument, dass Einladung nicht Parteinahme bedeutet, solange Diskussionspodien ausgeglichen besetzt sind. Diese Begründung wurde von den Mitdiskutanten nicht akzeptiert. .

Selbstverständlich ist jeder Fall einzeln zu bewerten. Wo klar verfassungsfeindliche Aussagen vorliegen, ist eine Ausladung gerechtfertigt, und das wäre sie, sofern man zu diesem Ergebnis gekommen wäre, auch im aktuellen Fall gewesen. Zu einer Diskussion über die Angemessenheit der Einladung ist es, wie in anderen vergleichbaren Fällen, aber gar nicht erst gekommen. Hier liegt ein Problem. Die Absagen erfolgen nach dem von der Metoo-Debatte geprägten Muster des Aufschreis, das den Austausch von Argumenten

Das Kunststück der Plattformen besteht darin, auch die Bolzplätze zur Verfügung gestellt zu haben, auf denen Kritik in Rauferei transformiert wird.

Hochschulen, Stiftungen und Kunstinstitutionen schließen sich dem entweder an, weil sie das ökonomische Kalkül nicht erkennen oder weil sie selbst in das wettbewerbliche Muster eingebunden sind. Die Folge ist, dass politische Debatten nach medizinischem Muster geführt werden: Der Gegner hat nicht recht oder unrecht, bessere oder schlechtere Argumente, sondern ist toxisch und unberührbar. Politik wird nach therapeutischem Muster zur Heilung von Kranken und Verletzten, die darunter leiden, strukturelle Schieflagen biographisch kompensieren zu sollen. Dabei ist paradoxerweise zu beobachten, dass der eigene Anspruch auf Unverletztheit immer robuster und aggressiver vorgetragen wird und gleichzeitig die Empfindlichkeiten zunehmen. Dem um seine geistige Seite gekürzten Humanismus fügt das eine .schrille Note hinzu. Es verführt dazu, humane Qualitäten permanent zu beteuern.

Der Verzicht auf Argument und Debatte ist bei den Stipendiaten einer Stiftung beunruhigend, die nach ihrem Selbstverständnis die geistige Elite des Landes repräsentiert. Die Ausgeladenen werden darüber zu Ikonen, an denen nach religiösem Muster das eigene Bekenntnis demonstriert wird. Mit politischer Debatte und rechtsstaatlichen Verfahren hat das nur noch wenig zu tun. Diese sollen ja gerade verhindern, dass Gegner dämonische, übermenschliche Züge gewinnen, indem sie auf beiden Seiten ein Rollenbewusstsein prägen, das es möglich macht, sich selbst wie den Gegner als Kontrahenten in einem begrenzten Sachverhalt zu betrachten. Werden Verfahren und Debatten suspendiert, geht es nur noch darum, Haltungen zu demonstrieren.

Dazu trug im aktuellen Fall auch der Protest von Stipendiaten bei. Wer sich die entsprechenden Verlautbarungen auf Twitter anschaut, begegnet auch der bekann ten Forderung, unter keinen Umständen von fremden Ansichten verletzt zu werden. Hinter dem Verlangen nach Unversehrtheit steht unter anderem eine Ideologie des Heilens, über die Stephan Sahm schon vor vielen Jahren in dieser Zeitung (F.A.Z. vom 14. März 2001) geschrieben hat und die seither immer weitere Kreise zieht. Erkennbar wurden damals erstmals die wettbewerblichen Kräfte, die in der biotechnischen Debatte hinter wissenschaftlichen Fortschrittsprognosen wirkten. Zur Voraussetzung für die erfolgreiche Einwerbung von Forschungsmilliarden war das Versprechen geworden, mindestens den Krebs zu besiegen oder den Menschen unsterblich zu machen (mit allen ökologischen Folgen). Damit festigte sich ein Muster, das immer stärker auf den öffentlichen Diskurs abfärbte: Politische und ökonomische Ziele sind am besten erreichbar, indem man mit medizinischen

Zielen argumentiert. Eine Nebenfolge war das Eindringen von pathologischen Metaphern in den politischen Diskurs.

Die Visionen griffen damals zwar weit über das Machbare hinaus, haben aber, weil sie nie offen korrigiert wurden, eine Langzeitfolge, die heute auf jeder Zigarettenschachtel zu betrachten ist, zumal sich im selben Augenblick die Plattformökono auf den Weg machte, die medizinische Herausforderungen erfolgreich in politische Argumente verwandelte und für die ökonomischen Gewinnziele ausbeutete:

Jede Rechtsverletzung, sprich Datenspionage, ist nach dieser Vorstellung legitim, Justiz wird zu einem von subjektiven Rechtsvorstellungen und weltanschaulichen Überzeugungen beherrschten Tribunal, Diskursverweigerung zum Instrument der Markenpflege.

Welche Haltung das auf der Gegenseite provoziert, hat Lukas Rietzschel in seinem Roman „Mit der Faust in die Welt schlagen” kürzlich treffend beschrieben. „Ihr haltet mich also für Pack?”, denkt sich der in rechte Milieu abgedriftete Protagonist mit herausforderndem Grinsen. Dann müßt ihr mich auch so nehmen wie ich bin.  Mit all meiner Potenz zur Bosheit.

Kritik an Auftrittsverboten wird stereotyp der AfD zugerechnet, weil man offensichtlich den Gedanken nicht ertragen kann, dass politische und weltanschauliche Überzeugungen auch keinen parteipolitischen Repräsentanten haben können. Während man in der Politik ausdauernd betont, nach jedem Affront eines Orban, Putin oder Erdogan unbedingt im Gespräch bleiben zu wollen (anders als beim binnenstaatlichen Konkurrenten, mit dem man um Wählergunst konkurriert), hält man das in Wissenschaft und Kunst offenbar zunehmend nicht mehr für nötig. Solange um Stimmen geworben wird, ist Politik gezwungen, sich mit äußeren Gegnern und inneren Konkurrenten zu befassen und kann soziale Wirklichkeit aus Furcht vor Protestwählern nicht vollständig ausblenden.

Wissenschaft und Kunst sind in der Themenwahl freier, aber durch eine Umstellung in der Finanzierungsstruktur in wachsendem Maß an politischen Konsens gebunden. Wer Kurator, Künstler oder Wissenschaftler ist, muss sich heute permanent bei Geldgebern aus Politik und Wirtschaft neu bewerben. Materiell bedeutet das einen geringeren Grad an Autonomie bei gleichzeitiger Aufforderung, Unabhängigkeit zu demonstrieren, indem Konvention gebrochen (Kunst) oder darüber hinausgedacht wird (Wissenschaft).

Die aktuelle Diskursverweigerung ist damit auch eine Folge der Übertragung von marktwirtschaftlichen Mustern auf Bereiche, die davon zwecks geistiger Unabhängigkeit ausgenommen sein müssten. Das kann von einer Geistes- und Sozialwissenschaft, die nach erfolgreicher Abkehr vom Vulgärmarxismus und kulturalistischen Wenden ihren Blick fast nur noch auf den Überbau (alles Konstrukte!) richtet und kaum mehr die materielle Basis untersucht, nur eingeschränkt er fasst werden. Ein bisschen Marx könnte der aktuellen Diskussion also nicht schaden.

THOMAS THIEL