MESOPOTAMIA NEWS : WOLFGANG STREECKS FINALES WORT ZUR ALTEN BRÜSSEL-EU

ÜBER ITALIEN NICHT  AHNUNGSLOS REDEN !  &  WIE DIE BRÜSSEL EU JAHRELANG ZU KÜRZUNGEN IM GESUNDHEITSWESEN AUFRIEF

Europäische Union : Die Zeitbombe ist der Zerfall Italiens

  • Von Thomas Thiel -Aktualisiert am 06.05.2020-13:52 Der Sozialwissenschaftler Wolfgang Streeck Bild: Wolfgang Streeck ist emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. Im Herbst erscheint sein Buch „Zwischen Globalismus und Demokratie”.

Die nächste Euro-Krise steht bevor. Reichen die alten Instrumente? Ein Gespräch mit dem Soziologen Wolfgang Streeck über die Folgen von Corona für die Europäische Union.

Die Krisen der letzten zwanzig Jahre waren globale Phänomen mit hoher Ausbreitungsgeschwindigkeit. Dadurch hat sich eine gewisse Exekutivlastigkeit im politischen Handeln etabliert. Sind die Staaten dem Tempo der globalen Entwicklungen nicht gewachsen?

Die Staaten sind gegenüber dem rapiden Globalisierungsprozess nicht wetterfest gemacht worden. Globalisierung hat nicht nur Nutzen, sondern auch Kosten. Staaten in der Globalisierung müssen nicht nur ihre sozialen Sicherungssysteme und ihre Bildungssysteme ausbauen, sondern auch ihre Gesundheitssysteme. Die meisten Regierungen haben das heruntergespielt oder die fälligen Ausgaben in die Zukunft verschoben. So wurden in den letzten dreißig Jahren die Kosten der Globalisierung immer mehr durch Schulden statt durch Steuern finanziert. Es wurden und werden riesige Schuldenberge aufgebaut, die von Krise zu Krise gewachsen sind. Was zusätzlich an „Global Governance“ entstand, war eine reine Exekutivangelegenheit, die in der Tendenz immer mit einer Ausschaltung der nationalen Parlamente einherging; der Fachausdruck dafür war „Mehrebenendiplomatie“ in einer „multilateralen Ordnung“. Auch in der Europäischen Union liefen Liberalisierungsprozesse seit den neunziger Jahren oft so ab, dass die nationalen Regierungen sich in Brüssel oder Luxemburg Mandate abholten, die ihr eigenes politisches System nicht getragen hätte.

Wie ging von der Europäischen  beispielsweise der Druck aus, am Gesundheitssystem zu sparen? Das ist doch Ländersache?

Ja und nein. Die Währungsunion bestand ja auf Haushaltskonsolidierung, polemisch auch Austerität genannt, und hatte dafür detaillierte Überwachungsinstrumente entwickelt. Die irische Ökonomin Emma Clancy hat nachgezählt und in den letzten Jahren 63 Fälle gefunden, in denen die Europäische Union Mitgliedsstaaten offiziell zu Kürzungen im Gesundheitssystem aufrief: Ähnliche Spar- und Liberalisierungsappelle gab es auch bei der Arbeitslosenunterstützung und Arbeitnehmerrechten. In Spanien und Italien liegt der Anteil des öffentlichen Gesundheitssystems am Sozialprodukt heute bei 6,5 Prozent, in Deutschland ist er drei Prozentpunkte höher. Drei Prozent des Sozialprodukts entsprechen in Deutschland etwa dem Zweieinhalbfachen des Verteidigungsetats. Aber auch bei uns sollten ja noch kurz vor Corona Krankenhäuser geschlossen werden.

Sehen Sie Anzeichen, dass sich diese Tendenz fortsetzt?

Auf jeden Fall. Es wird oft behauptet, nach der Corona-Krise werde nichts mehr sein wie zuvor. Ich sehe eher die Kontinuitäten, etwa bei der Verschuldung, dem Wachstum der Geldmenge im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung, der steigenden Bedeutung der Zentralbanken als Überregierungen und der zunehmenden sozialen Ungleichheit. Dazu kommt der sinkende Anteil der steigenden Staatsausgaben, der noch durch Steuern finanziert wird. Deutschland war lange so etwas wie die große Ausnahme, weil ihm die strukturelle Asymmetrie der europäischen Währungsunion zugutekam, also die eingebaute Begünstigung einer für ihren Wohlstand überwiegend auf Exporte setzenden Volkswirtschaft.

In der aktuellen Krise hat sich zunächst der Nationalstaat als Stabilisierungsfaktor erwiesen. Ist das eine Trendwende oder eine kurzfristige Konjunktur?

Der Nationalstaat ist, wenn es ernst wird, the only game in town, wie die Amerikaner sagen. Das war schon 2008 so. Das rhetorische Herunterspielen des Nationalstaats war im Wesentlichen immer eine Legitimierungstechnik der nationalen Regierungen, erst zur Rechtfertigung ihrer Öffnungspolitik und dann, um ihre Ratlosigkeit gegenüber den von ihr verursachten Regierbarkeitskrisen zu vertuschen.

Gibt es nicht auch Aufgaben, die nur gemeinsam bewältigt werden können? Hatte beispielsweise die Währungsunion nicht auch das Ziel, die Unabhängigkeit der Einzelstaaten gegenüber den Finanzmärkten zu stärken?

Im Gegenteil. Frankreich und Italien wollten in die Währungsunion, weil ihre Regierungen glaubten, dass ihre Länder eine dramatische wirtschaftliche und sozialstrukturelle Modernisierung brauchten, die sie national nicht durchsetzen konnten. Dafür wollten sie eine harte „deutsche” Währung als externen Zwang. Wenn man will, kann man das als eine gemeinsam zu bewältigende Aufgabe bezeichnen. Als Plan B konnte man mit dem Gedanken spielen, den Euro weicher und die Währungsunion in Richtung auf horizontale Umverteilung umzubauen, falls die inneren Strukturreformen — die „innere” als Ersatz für eine „äußere” Abwertung — am Widerstand der Bevölkerung scheitern sollten.

Gescheitert sind sie nun schon länger, auch in Frankreich.

Eine zentrale Rolle bei der gegenwärtigen Krisenbewältigung wird wieder die Europäische Zentralbank spielen, die 750 Milliarden Euro Krisenhilfe bereitstellen will und zuvor schon für mehr als zwei Billionen Euro Staatsanleihen gekauft hat, um angeschlagenen Ländern zu helfen. Was bedeutet das?

Alle wichtigen Aktionen der EZB haben asymmetrische Verteilungsfolgen zwischen den an der Währungsunion beteiligten Ländern, die für den Außenstehenden eher undurchsichtig sind. Es gibt ja auch kein Parlament, dem die EZB Rechenschaft schuldig wäre. Die Einzelstaaten können die Krise nicht durch eigene Geldschöpfung abfedern und müssen sich ihre Mittel auf den privaten Finanzmärkten besorgen. Monetäre Staatsfinanzierung, auch durch die EZB, ist durch den Vertrag von Maastricht ohnehin ausgeschlossen. Allerdings kauft die EZB den privaten Kreditgebern, also den Banken, Schuldverschreibungen ab und gibt ihnen dafür frei geschöpfte Euros, vermutlich mit einem kleinen Aufschlag, so dass die Banken auch etwas davon haben. Wenn es dann Zahlungsausfälle gäbe, machte das der EZB grundsätzlich nichts, weil sie jederzeit neues Geld nachschaffen könnte.

 

Die EZB übernimmt damit entgegen dem Unionsrecht und ohne demokratische Kontrolle politische Aufgaben. Das schwächt die Legitimität der Union. Warum wird es akzeptiert?

Es gibt mittlerweile eine Vielzahl von unsauberen Instrumenten, um die Währungsunion am Leben zu halten. Die Bundesregierung akzeptiert das, weil der Außenwert des Euro als deutsche Währung durch die Mitgliedschaft der schwächeren Länder gedrückt wird, was den Export begünstigt. Den in die Krise geratenen Ländern nimmt das die Möglichkeit, ihre Währung abzuwerten und so ihre Talfahrt zu stoppen. Damit sie trotzdem in der Währungsunion verbleiben, muss der Schmerz so weit gelindert werden, dass ihre politische Klasse „proeuropäisch” bleiben kann. Als Apotheke für schmerzstillende Mittel dient vor allem die EZB

Abgesehen vom Legitimitätsproblem: Warum sollte die EU das allgemein akzeptierte Durchwursteln nicht fortsetzen? Die Zeitbombe ist der fortschreitende Verfall Italiens, wahrscheinlich mit ein paar Jahren Abstand gefolgt von Frankreich. Was immer man macht unter den Vor-zeichen von Maastricht, es wird für eine Sanierung Italiens nicht reichen; um Draghi zu variieren: „Believe me, it won’t be enough.” Deshalb gibt es die reale Möglichkeit, dass die europafreundliche politische Klasse dort weggefegt wird. Fast war es ja schon vor Corona so weit.

Eine dauerhafte Stabilisierung könnte wohl nur von einem Umbau der Währungsunion ausgehen, der den Konvergenzdruck mildert und es den in Not geratenen Staaten erlaubt, eigenständig zu reagieren. Gibt es dafür ein Modell?

 

Das Problem des Euros ist, dass er den Mitgliedstaaten keine externe Abwertung erlaubt. Man könnte sich den Euro als eine europäische Gesamtwährung vorstellen, bei der die einzelnen Länder parallel über Nationalwährungen verfügen, die sich an den Euro ankoppeln und unter bestimmten Bedingungen auf- oder abgewertet werden können. Die zweite Möglichkeit wäre eine modernisierte Währungsschlange mit einer gewissen Schwankungsbreite im Verhältnis der Währungen untereinander. Das gibt es übrigens immer noch im Verhältnis zwischen der Eurozone und Dänemark. Für die Südeuropäer könnte dies mindestens die Möglichkeit bedeuten, sich im Strukturwandel Atempausen zu verschaffen. Außerdem würde es ihnen er-möglichen, in das System eingebunden zu bleiben und dabei ihre nationale Souveränität nach außen und ihren politischen Frieden nach innen zu bewahren.

Müsste man nicht die politischen Institutionen innerhalb der EU stärken, um das’ Demokratiedefizit zu beheben?

Eine politische Union will eigentlich niemand. Wenn es drauf ankommt, geht die eigene staatliche Souveränität vor.

Auch bei Emmanuel Macron?

Gerade bei ihm. Kein französischer Präsident wird die Souveränität Frankreichs aufgeben wollen. Damit wäre er politisch tot. Macrons Formel ist: „Ein souveränes Frankreich in einem souveränen Europa”. Darunter kann man sich vieles vorstellen, aber keine politische Union. Der deutsche Vorschlag, den französischen Sitz im Weltsicherheitsrat zu vergemeinschaften, wurde erst kürzlich von Frankreich ebenso entsetzt zurückgewiesen wie der. Vorstoß, Deutschland unter den französischen Atomschirm zu bringen.

Welche Perspektive sehen Sie unter diesen Bedingungen für die Europäische Union?

Ich habe große Sympathie für den Vorschlag einer begrenzten, nach gemeinsam ausgewählten Aufgabenfeldern gestalteten Europäischen Union, den Peter Graf von Kielmansegg unterbreitet hat (F.A.Z. vom 20. April): das organisierte Europa als Plattform für freiwillige horizontale Kooperation zwischen den europäischen Ländern, ohne hierarchisch-direktive Dimension. Das jetzige, schon lange in Verfall befindliche Modell ist ein technokratisches Globalisierungs- und Zentralisierungsprojekt aus den neunziger Jahren. Dessen Zeit ist abgelaufen. Wir leben heute in einer anderen Welt.

Aber auch in einer Welt, in der ein politisch starkes Europa angesichts ..der forcierten globalen Machtpolitik gebraucht wird. Hätte eine funktional definierte EU noch politische Strahlkraft und internationales Gewicht?

Wir können nicht ernsthaft glauben, dass wir mit den Vereinigten Staaten oder China militärisch konkurrieren könnten. Wir hätten das nicht einmal zusammen mit Großbritannien gekonnt. Europa könnte versuchen, den entstehenden weltpolitischen Dualismus zum Aufbau einer globalen Nische zu nutzen, in der eine ihre Vielfalt bewahrende europäische Zivilisation ohne imperiale Ambitionen nach innen oder außen „blockfrei” und friedlich leben kann. An dieser Stelle möchte ich mir ausnahmsweise mal den Luxus eines Traums leisten.

Das Gespräch führte Thomas Thiel.

Wolfgang Streeck ist emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. Im Herbst erscheint sein Buch „Zwischen Globalismus und Demokratie”.