MESOPOTAMIA NEWS: WER WILL & WEM NUTZEN  DIE SCHARMÜTZEL AN DER GRENZE / LEBANON ? – Spannungen an Grenze zu Israel : „Die Hizbullah will keinen Krieg“

Unter Bewachung: Ein israelischer Soldat neben einem Raketenabwehrsystem am Montag nahe der libanesischen Grenze. – Immer wieder eskaliert die Lage an der libanesisch-israelischen Grenze. Aber eigentlich haben weder Israel noch die Hizbullah Interesse an einem Krieg. Netanjahu warnt die Miliz: Sie spiele mit dem Feuer.

Die Familie ist mit dem Schrecken davongekommen. Der israelische Querschläger hat das Dach der Veranda, ein Fenster und eine Wand durchschlagen und ist im Badezimmer gelandet, ohne weiteren Schaden anzurichten. Als die libanesischen Fernsehsender diese Bilder aus dem Wohnhaus sendeten, herrschte schon wieder Ruhe im Grenzgebiet. Es hatte ein Scharmützel zwischen Kämpfern der Schiitenorganisation Hizbullah und der israelischen Armee gegeben. Für gewöhnlich halten sich die Konfliktparteien an unausgesprochene Regeln, die Schläge ohne eine Eskalation zulassen, wenn sie nicht zu schmerzhaft sind. Aber jedes Mal herrscht Sorge, es könnte Todesopfer geben, es könne ein Krieg ausbrechen wie zuletzt 2006. Keine der beiden Seiten habe ein Interesse daran, heißt es immer wieder. Aber es könne angesichts der großen Spannungen trotzdem dazu kommen.

Dass eine Eskalation bevorsteht, war erwartet worden. Vorige Woche war ein libanesischer Hizbullah-Kämpfer in Syrien bei einem israelischen Luftangriff getötet worden. Die Schiitenorganisation schweigt in der Regel zu den Hunderten israelischer Luftangriffe im Nachbarland, die den iranischen Militärs und ihren arabischen Alliierten gelten: Israel will verhindern, dass diese sich dort festsetzen. Aber Hizbullah-Anführer Hassan Nasrallah hat öffentlich erklärt, Vergeltung zu üben, sollte einer seiner Männer zu Tode kommen. Und die Hizbullah hatte auch nicht über den Toten geschwiegen.

War es das reinigende Gewitter?

Seit Tagen war daher die Lage angespannt. Der Schusswechsel vom Montag scheint allerdings nicht das reinigende Gewitter gewesen zu sein. Denn die Hizbullah verkündete noch am Abend, sie habe mit der Sache nichts zu tun. Die Führung der Organisation hatte sich offensichtlich dafür entschieden, nicht die Möglichkeit zu ergreifen, den Zwischenfall an der Grenze zu einer erfolgreichen Vergeltungsaktion zu erklären. „Die Stellungnahme ist außergewöhnlich – vor allem angesichts der Tatsache, dass in der begeisterten Anhängerschaft vorher schon Erfolgsmeldungen über zerstörte israelische Fahrzeuge und getötete israelische Soldaten gefeiert wurden“, sagt der in Beirut lebende Hizbullah-Experte Nicholas Blanford vom Atlantic Council. In den 25 Jahren, die er die Organisation beobachte, sei das nicht vorgekommen.

Ein anderer Beobachter im Libanon sagt, die Hizbullah wolle eine Eskalation vermeiden und müsse ihre Schläge genau kalibrieren „Die Führung hat gerade andere Prioritäten.“ Er meint die Wirtschaftskrise im Libanon, die das Land bis ins Mark getroffen hat. Die schiitische Klientel der Hizbullah, die in der großen Mehrheit aus den unteren Schichten stammt, ist da keine Ausnahme. „Die Hizbullah will keinen Krieg – weder im Inneren noch mit Israel.“

Und auch die Förderer der Hizbullah in Teheran, die das letzte Wort in dieser Sache haben dürften, können derzeit kein Interesse daran haben. Für das iranische Regime ist die Hizbullah ein wichtiger Trumpf im Kampf gegen die Vereinigten Staaten und Israel. Es ist aber einer, den Teheran nur einmal spielen kann – und durch einen großen Krieg würde es diesen faktisch aus der Hand geben. Israel hat deutlich gemacht, dass der ganze Libanon im Kriegsfall mit einer zerstörerischen Luftangriffskampagne zu rechnen habe. „Hizbullah muss verstehen, das sie mit dem Feuer spielt“, sagte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Montagabend. Israel verlegte weitere Einheiten in den Norden.

Gegenangriffe nach bekanntem Muster

Gefährlich ist die Lage für beide Seiten. Die Hizbullah hat nach Einschätzung von Militärs und Geheimdiensten mit 150.000 Stück weit mehr Raketen in ihrem Arsenal, als die israelische Luftabwehr abfangen kann. So achten die israelischen Streitkräfte bei ihren Angriffen auf die Nachschubwege der Hizbullah etwa durch Syrien darauf, nicht ranghohe Milizionäre zu töten. Die „New York Times“ beschrieb im April einen israelischen Angriff auf ein Fahrzeug der Hizbullah, dem zuerst eine Rakete neben das Fahrzeug voranging, so dass die Fahrer Zeit zum Aussteigen hatten, bevor eine weitere Rakete das Fahrzeug zerstörte.

Wenn bei israelischen Angriffen doch ein Hizbullah-Offizier getötet wird, so wie vergangene Woche nahe Damaskus, dann erwartet Israel einen Gegenangriff nach bekanntem Muster. An diesem Montag nun erfasste die israelische Aufklärung nach eigenen Angaben vier Angreifer bei Tageslicht, welche die Blaue Waffenstillstandslinie überquert hatten. Der Ort birgt weniger Risiken für eine israelische Gegenreaktion, denn die Gegend der sogenannten Schebaa-Farmen, die Israel als Berg Dov bezeichnet, 1967 von Syrien erobert und 1981 zusammen mit dem Golan annektiert hat, ist umstritten, und sie gehört nicht zum israelischen Kernland.

Dass es beim Gegenfeuer der israelischen Streitkräfte am Montag keine Todesopfer auf Seiten der Hizbullah gab, war nach Ansicht des Militärkorrespondenten der israelischen Zeitung „Jediot Ahronoth“ kein Zufall. Er verwies auf eine Reihe von „Wundern“ vergangener Kampfhandlungen. So hatte die Hizbullah vergangenen September Panzerabwehrraketen auf ein Sanitätsfahrzeug der israelischen Streitkräfte abgefeuert, jedoch „wundersamerweise“ ihr Ziel verfehlt. Ein israelischer Kampfhubschrauber schoss damals Raketen auf eine Hizbullah-Zelle, und auch diese verfehlten ihr Ziel.

Aufruf zu „maximaler Zurückhaltung“

Die gegenseitige Abschreckung hat jedenfalls dafür gesorgt, dass es an der israelisch-libanesischen Grenze seit Jahren vergleichsweise ruhig war. Die UN-Truppe Unifil, die im Grenzgebiet patrouilliert, hat jetzt wieder einmal beide Seiten zu maximaler Zurückhaltung aufgerufen. Sie dient auch als eine der Relaisstationen, über die Israel, die libanesische Armee und mittelbar die Hizbullah ihre Botschaften austauschen. Derzeit ringt die internationale Diplomatie um ein neues Mandat. Nach Angaben westlicher Diplomaten hakt es jedoch. Washington dringe darauf, die Unifil mit größeren Befugnissen auszustatten, sie soll künftig auch Zutritt zu Privatgrundstücken erhalten. Damit stützt Amerika eine alte Forderung Israels, das die Unifil für zahnlos hält.

Ein Vertreter der israelischen Streitkräfte schildert, dass von den schiitischen Dörfern in Grenznähe eines von drei Häusern als Lager der Hizbullah dient – für Munition, Kommunikationsgerät oder Material zum Tunnelbau –, ohne dass Unifil dagegen etwas unternimmt. Diese Einschätzung stützen Berichte von UN-Mitarbeitern, laut denen Unifil-Patrouillen bisweilen von wütenden Einwohnern bedrängt werden, zufällig dann, wenn die Hizbullah ihre Aktivitäten verschleiern will. Zuletzt kursierte ein Video aus dem Grenzgebiet im Internet. Es zeigt einen Unifil-Soldaten, der ein Fahrzeug stoppen will – aber am Ende zurückweicht, weil es einfach weiterfährt.