MESOPOTAMIA NEWS : WÄHLERBETRUG IN HESSEN / DAGEGEN SIND US WAHLEN EINE SAUBERE SACHE

Auszählungsfehler in Hessen : Zehn Stimmen für eine Volkspartei

„In einem anderen Sachsenhäuser Viertel wurden gerade einmal zwei Stimmen für die AfD gezählt, was 0,3 Prozent entspricht. Im selben Bezirk hatte die Partei bei der vorhergehenden Landtagswahl, damals gerade gegründet, schon fast vier Prozent bekommen.“ –

 FAZ Von Matthias Trautsch und Rainer Schulze – Aktualisiert am 12.11.2018- Die Fehler bei der Auszählung der hessischen Landtagswahl sind so gravierend, dass sie die Regierungsbildung in Frage stellen. Eine Aufarbeitung.

Es ist der Tag, an dem die CDU in Oberrad auf die Größe einer Satirepartei schrumpft. Ausgerechnet hier, in dem gutbürgerlichen Frankfurter Wohnviertel am Rande des Stadtwalds. Ja, die Querelen in Berlin haben den örtlichen Wahlkampf beeinflusst, aber nichts deutet darauf hin, dass der Union am 28. Oktober, dem Tag der hessischen Landtagswahl, ein Debakel bevorsteht.

Auch an jenem Sonntag sieht Oberrad so aus, wie man sich einen Stadtteil vorstellt, in dem die CDU sich noch auf ihre Wähler verlassen kann. Altbauten mit großen Gärten an sauberen Straßen, am Waldrand empfängt „Hensel’s Felsenkeller“ seine überwiegend älteren Gäste. Den Menschen geht es gut, sie tragen Steppjacken, führen ihren Hund aus und fahren Mittelklassewagen. Ein aufgeräumtes, unaufgeregtes Viertel. Am späten Abend aber zeichnen sich unerhörte Dinge ab: Ganze 6,9 Prozent Zweitstimmen soll die CDU im Oberräder Wahllokal Gruneliusschule bekommen haben. So meldet es die offizielle Wahlstatistik der Stadt Frankfurt. Nur zehn Wähler votierten demnach im Wahlbezirk 38004 für die Volkspartei, das ist genau einer mehr als für die Witzemacher von der „Partei“ gestimmt haben. Unglaublich.

Jemand raunt etwas von Computerproblemen

Zur selben Zeit bangen im Rathaus Römer die Frankfurter Wahlkreiskandidaten um den Einzug in den Landtag. Die Ergebnisse aus den 490 Wahlbezirken trudeln nur schleppend ein. Eigentlich sollte das vorläufige Endergebnis um 22 Uhr vorliegen. Aber in einigen Wahlkreisen ist immer noch nicht klar, wer vorne liegt. Das Gesicht von Michael Boddenberg, CDU-Fraktionsvorsitzender im Landtag und Direktkandidat im Frankfurter Süden, ist angespannt. Eine unbekannte Politikerin der Grünen ist ihm auf den Fersen. Jemand raunt etwas von Computerproblemen. Erst spät, gegen Mitternacht, freuen sich vier CDU-Politiker, auch Boddenberg, und zwei Grüne, dass sie in den Landtag einziehen.

Am Tag danach veröffentlicht die Stadt Frankfurt frühmorgens das vorläufige Endergebnis auf ihrer Internetseite. Detailliert werden die Zahlenreihen aufbereitet, für jeden der 490 Wahlbezirke ist das Stimmverhalten dokumentiert. Es zeigen sich grüne Hochburgen und schwarze Täler. Viele schwarze Täler. In einem Wahlbezirk in Sachsenhausen haben die Grünen sogar die absolute Mehrheit, die CDU kommt dort nur auf 6,2 Prozent. In den benachbarten Wahlkreisen liegt sie über 20, manchmal über 30 Prozent. In einem anderen Sachsenhäuser Viertel wurden gerade einmal zwei Stimmen für die AfD gezählt, was 0,3 Prozent entspricht. Im selben Bezirk hatte die Partei bei der vorhergehenden Landtagswahl, damals gerade gegründet, schon fast vier Prozent bekommen. Und diesmal erhielt sie in der direkten Nachbarschaft mehr als zehn Prozent. Alles merkwürdig.

Von Unregelmäßigkeiten oder gar falschen Auszählungsergebnissen aber ist von offizieller Seite nichts zu hören, lediglich wird bekannt, dass Probleme mit dem landesweiten Computersystem zu der Verzögerung bei der Auszählung in Frankfurt geführt haben sollen.

Die Grünen sind stolz

Und so feiern Grüne und CDU in Wiesbaden, dass sie das Bundesland mit einer dünnen Mehrheit von nur einem Sitz weiterregieren könnten. Die ersten Sondierungsgespräche beginnen wenige Tage darauf. Man ist sich schnell einig, alles steuert auf eine Fortsetzung der Koalition zu. Die Grünen sind stolz, dass sie landesweit auf dem zweiten Platz gelandet sind und damit der SPD den Rang abgelaufen haben. Mit 94 Stimmen Vorsprung. Eine Machtoption scheint damit perdu: Die FDP macht schnell klar, dass sie für eine Ampelkoalition, die unter diesen Vorzeichen einen Grünen-Ministerpräsidenten gehabt hätte, nicht zur Verfügung steht.

In mehreren Frankfurter Stadtteilen wundert man sich derweil über die kuriosen Ergebnisse. So sollen in dem Oberräder Wahlbezirk nur 145 Wähler ihre Stimme abgegeben haben. Das wäre eine Wahlbeteiligung von nur 14 Prozent. Doch das Vertrauen in die Zuverlässigkeit von – wenn auch vorläufigen – Wahlergebnissen ist groß. Und noch immer gibt es auf offizieller Seite niemanden, der darauf hinweist, dass am Abend des 28. Oktober gravierende Pannen passiert sind. Bei der Durchsicht von Stimmbezirksergebnissen kommen Journalisten dieser Zeitung jedoch zu der Auffassung, dass sich solche Ausreißer wie in Oberrad nicht plausibel erklären lassen. Am 1. November erscheint in der F.A.Z. erstmals ein Artikel, der das Wahlergebnis in mehreren Stadtteilen in Zweifel zieht. Das für Wahlen zuständige Dezernat mauert: Das Ergebnis werde überprüft. Erst am 7. November werde man sich äußern, dann soll der Wahlausschuss tagen.

364 Stimmen fehlen allein in Oberrad

In Oberrad hält man es so lange nicht aus. Es finden sich Leute, die am Wahlabend bei der Auszählung in der Gruneliusschule dabei waren. „Das veröffentlichte Ergebnis ist nicht plausibel. Es stimmt nicht mit dem überein, was bei uns an der Tafel stand“, sagt ein Augenzeuge. Die CDU habe mehr als 100 Stimmen erhalten, also mindestens 20 Prozent. Insgesamt seien nicht 145, sondern 509 Stimmzettel abgegeben worden, was einer Wahlbeteiligung von fast 50 Prozent entspricht. 364 Stimmen fehlen also allein in Oberrad. Wenn nur ein Teil davon der SPD gehörte, könnte sie die Grünen landesweit überholen. Die Parteien in Wiesbaden interessieren sich dafür aber nicht weiter. Sie erwecken den Eindruck, als wäre die Wahl entschieden, und fahren mit ihren Sondierungen fort.

Die Verantwortlichen bei der Stadt Frankfurt versuchen unterdessen, das Thema kleinzureden. Ja, es habe Probleme beim Einloggen in das landesweite Stimmerfassungssystem gegeben. Deshalb hätten die Mitarbeiter im Wahlamt Ergebnisse, die aus den Wahlbezirken telefonisch durchgegeben wurden, handschriftlich notieren müssen. Als das System wieder lief, seien die Werte eingegeben worden. Eine sonst automatisch stattfindende Kontrolle auf Plausibilität sei ausgeblieben. So hätten sich offenbar Fehler eingeschlichen, gibt ein Sprecher zu. Die seien aber durch Korrekturen im endgültigen Endergebnis „leicht zu heilen“.

Auf Stapel verteilt

Wie viele Frankfurter Wahlbezirke insgesamt betroffen sind, ist zu diesem Zeitpunkt noch ungewiss. Für den Fehler in Oberrad gibt es eine erste Erklärung: Die Wahlhelfer haben die Stimmzettel sortiert und auf Stapel verteilt. Entfielen Erst- und Zweitstimme auf unterschiedliche Parteien, kam der Zettel auf den ersten, sonst auf den zweiten Stapel. Der Schriftführer jedoch, der nach der Auszählung mit dem Wahlamt telefoniert, meldete nur die aufgeteilten Stimmen und vergaß den größeren Stapel. Das verzerrte auch die Anteile der Parteien; es sind meist Wähler von CDU und SPD, die beide Stimmen ihrer Partei geben.

Im Laufe der nächsten Tage berichten immer mehr Wahlhelfer vom heillosen Chaos am Wahlabend, weitere Medien greifen das Thema auf. Als am 7. November der Kreiswahlausschuss zur öffentlichen Sitzung zusammentritt, haben Fernsehsender Teams geschickt, die Zuhörerreihen sind mit Journalisten besetzt. Selten hat es ein solches Interesse an einem Gremium gegeben, vor dem Zahlenkolonne um Zahlenkolonne referiert wird, um dann hier und da darüber zu befinden, ob ein Wähler sein Kreuzchen zu weit außerhalb eines Kästchens gemacht hat.

Doch diesmal geht es um mehr als ein paar Stimmen, die üblichen Verschiebungen zwischen vorläufigem und endgültigem Ergebnis. In 81 von 490 Stimmbezirken muss korrigiert werden, 28 sind komplett neu ausgezählt worden. Die Dimension der Fehler wird erstmals deutlich, als der Schriftführer die Korrekturen für einen Bezirk im Stadtteil Höchst nennt. 54 CDU-Stimmen wurden dort den Grünen zugeschlagen, vermutlich habe es ein Missverständnis bei der Übermittlung gegeben. Eine Beisitzerin schaut sorgenvoll. „54 Stimmen Abweichung, das ist aber ganz schön viel“, sagt sie. Der Schriftführer sagt: „Da kommen noch mehr, die aus dem Rahmen fallen.“

Und so ist es dann auch. Dreieinhalb Stunden lang geht der Schriftführer Bezirk für Bezirk durch. Stimmzettel wurden vergessen, Zahlen verdreht, Werte in der falschen Spalte notiert oder falsch addiert. Weil manche Ergebnisse bis in die Nacht hinein überhaupt nicht vorlagen, wurden sie „geschätzt“, wie der Schriftführer sagt. Das allerdings ist noch vorsichtig ausgedrückt. Es handelte sich nicht um eine qualifizierte Schätzung, sondern schlicht um die Übernahme von Ergebnissen aus benachbarten Bezirken. Noch nicht einmal die Zahl der Wahlberechtigten wurde berücksichtigt.

Chaos durch Computerpanne

Die Kreiswahlleiterin, die dem Ausschuss vorsitzt, begründet das mit dem Chaos, das durch die Computerpanne geherrscht und sich sowohl in den Wahllokalen als auch im Wahlamt ausgewirkt habe. So einen Druck seien die ehrenamtlichen Wahlhelfer nicht gewohnt. Wo Menschen arbeiteten, da passierten Fehler. Dass das Ausmaß der falschen Ergebnisse ohne Beispiel ist, muss sie auf Nachfrage einräumen. Was sie verschweigt: Verantwortlich für die Organisation der Landtagswahl waren Profis aus Politik und Verwaltung, und unter den Wahlhelfern waren viele städtische Mitarbeiter, denen der 28. Oktober als normaler Arbeitstag angerechnet wurde.

Als die Ausschusssitzung endet, ist klar, dass mehr als 2000 Stimmen neu an den Landeswahlleiter nach Wiesbaden gemeldet werden müssen. Politisch brisant dabei ist, dass die Grünen dabei unter dem Strich 131 Stimmen verlieren, die SPD 118 Stimmen gewinnt. Das reicht mehr als aus, um den landesweiten Vorsprung der Grünen aufzuholen. Jetzt kommt es darauf an, ob auch andere Kommunen ähnliche Korrekturen melden müssen und ob diese die Frankfurter Verschiebung womöglich ausgleichen. Die bisher vorgelegten endgültigen Ergebnisse, etwa aus Wiesbaden und Offenbach, deuten nicht darauf hin.

Inzwischen haben auch die hessischen Parteiführungen verstanden, dass sie unter solch unklaren Bedingungen nicht weiter verhandeln können. Selbst die Frage, ob es noch zu einer Verschiebung von Sitzen im Landtag kommt, wird gestellt. Bisher haben CDU und Grüne zusammen eine Mehrheit von gerade einmal einem Mandat. Während SPD und Grüne wieder über eine vielleicht doch mögliche Ampelkoalition nachdenken und deshalb auf die FDP zugehen wollen, hat die CDU ihre für dieses Wochenende angekündigte Entscheidung, mit wem sie Koalitionsgespräche führen will, verschoben. Zunächst müsse das für Freitag erwartete landesweite Endergebnis abgewartet werden. Man hat den „Respekt für den Wählerwillen“ doch noch entdeckt. Es bleibt auch nichts anderes übrig. Denn jetzt geht es wirklich um jede Stimme.  www.mesop.de