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Dunkle Zeit : Winter in Frankreich – „Marseillaise“ mancherorts von lauten Pfiffen begleitet

Ein Kommentar von Jürg Altwegg  FAZ 28.10.2020-10:06 – Der Winter der Pandemie kommt erst noch, doch in Frankreich ist bereits eine düstere Zeit angebrochen. Der Islamismus bringt die Werte der Republik ins Wanken.

Seit dem Ende der Sommerzeit bricht die Nacht eine Stunde früher über das Land herein. Kaum ist sie angebrochen, schlägt den Restaurants und der Kultur, für die es keine „kulturelle Ausnahme“ mehr gibt, die Sperrstunde. Selbst die Straßenlampen werden gelöscht. Die Epidemie des Terrors und das Virus stürzen Frankreich in eine düstere Zeit.

Beiden hat Macron den Krieg erklärt. „Man kann das nicht mehr mit den Mitteln des Pazifismus regeln“, befindet Elisabeth Badinter nach der Enthauptung des Geschichtslehrers Samuel Paty am letzten Schultag vor den Ferien zu Allerseelen und Allerheiligen. Vor 31 Jahren hatte Badinter am 2. November zusammen mit Régis Debray und Alain Finkielkraut vor einem „München der Republik ausgerechnet zum 200. Jahrestag der Revolution“ gewarnt: 1989, als in Berlin die Mauer und in Europa der Eiserne Vorhang fielen, zogen die Muslime in Frankreich den Schleier hoch. In Creil weigerten sich drei Mädchen, ihn in der Schule abzulegen. Der Vergleich der Philosophen mit dem Abkommen von München meinte nicht nur die Ohnmacht der Republik: Erst der König von Marokko konnte die Schülerinnen zum Einlenken bewegen.

„Marseillaise“ mancherorts von lauten Pfiffen begleitet

Die implizierte Gleichstellung mit dem Nationalsozialismus verwies bereits auf die Gefährlichkeit des Islamismus. Die weltliche Schule der Republik wurde zu seinem Vorposten, sie ist der Schauplatz seines Kulturkampfs geblieben. Bislang wurde er mit den Waffen der Provokation geführt – mit Erfolg: Der Kapitulation folgte die schleichende Kollaboration. Auch das Verbot des Kopftuchs per Gesetz konnte die Islamisierung nicht stoppen.

Die „religiöse Exekution“ (Badinter) hat das abgebrühte Land, das auf alles gefasst sein musste, nicht nur wegen ihrer barbarischen Brutalität aufgewühlt. Die Schule verkörpert den zivilisatorischen Fortschritt der Revolution und ihre Versprechen: die Chancengleichheit, das Ideal der Brüderlichkeit, die Erziehung zum freien Citoyen. Jedes Kind weiß, wer Jules Ferry ist, in vielen Klassikern der französischen Literatur wird dem Lehrer als Institution ein Denkmal gesetzt.

In der Sorbonne wurde des Märtyrers der Republik gedacht und der Brief vorgelesen, den Albert Camus nach der Verleihung des Nobelpreises seinem Lehrer in Algerien schrieb. Nur dank dessen Engagement konnte Camus, der aus ärmlichsten Verhältnissen stammende Sohn einer Analphabetin, studieren. Macron hielt eine Rede über die Aufklärung, die aus der Finsternis ans Licht führt, und den Islam. Die Kampfansage aus der Türkei, samt Erdogans Kommentar zur „geistigen Gesundheit“ des Präsidenten, erfolgte Gewehr bei Fuß. Sie und die Boykottaufrufe in islamischen Staaten schweißen Frankreich effektvoller zusammen als der „Elektroschock“, auf den Elisabeth Badinter hofft. Der französische Graben, der sich 1989 in Creil abzeichnete, ist immer nur tiefer geworden. Einen ersten verlässlichen Eindruck über das Aufbäumen der Republik wird der kommende Montag vermitteln. Für die Rückkehr der Schüler in die Klassenzimmer sind überall Gedenkzeremonien vorgesehen. Nach dem Attentat auf „Charlie Hebdo“ wurde die „Marseillaise“ mancherorts von lauten Pfiffen begleitet.