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In der Arena (II): Camille Paglia und Jordan B. Peterson

  1. Dezember 20200 Von Tano Gerke

Was ist eigentlich unter dem Terminus Poststrukturalismus zu verstehen und in welchem Verhältnis steht er zum Marxismus? Um eine pointierte Deutung bemühen sich der kanadische Star-Intellektuelle Jordan B. Peterson und die Kulturtheoretikerin Camille Paglia in einem für die Öffentlichkeit inszenierten tête-à-tête.

Die beiden Universitätsprofessoren – Peterson an der Universität in Toronto, Paglia in Philadelphia – stimmen darin überein, dass sich eine Tendenz an den westlichen Lehrstätten entfaltet habe, die alle Kategorien aus ihren angestammten wissenschaftlichen Kontexten herauslöst und sogleich zu einem sozialen Konstrukt erklärt. Namentlich lautet diese Tendenz »radikaler Relativismus«.

Betroffen davon sind die Grundverständnisse, da sind sich die beiden public intellectuals einig, der Psychologie ebenso wie die der Kulturwissenschaften. Die Popularisierung des Begriffs gender und das dazugehörige Studienfach gender studies stehen stellvertretend für diese Tendenz, so kritisierte Paglia bereits mehrfach. Peterson hingegen betont besonders die weitreichenden Konsequenzen, die mit dieser Entleerung der Begriffe einhergehen. Unter der Vorgabe, wissenschaftliche Kategorien ihrem ideologischen Kontext zu entziehen und sie gleichsam als soziale Konstrukte zu denunzieren, geschehe das genaue Gegenteil, nämlich die Möglichkeit, die Geisteswissenschaft für eine ideologische Indienstnahme zu öffnen.

Entscheidend für die poststrukturalistische Interpretation sei nämlich der Umstand, daß in der Menschheitsgeschichte stets zuvörderst um Macht gehe. Demzufolge sei auch der Mensch nur ein Ergebnis bestimmter Machtverhältnisse und nur marginal rückgebunden an Geschichte und Kultur. Tiefenpsychologie und Geisteswissenschaft werden dadurch vollends zur politischen Instrumentalisierung freigegeben – hier entfaltet sich zugleich einer der großen Kritikpunkte der italienischstämmigen Theoretikerin an der postmodernen Doktrin. Wenn all das, wodurch der Mensch existiert und sein Verständnis von Sinn und Welt entwirft nur ein Konstrukt ist, ist es im Umkehrschluss möglich, diese Parameter umzuformen und zugleich einer utopischen Vision zu unterwerfen. Das genau diese Tendenz an den Universitäten die Deutungshoheit erlangt hat und von dort aus auf den Alltag abstrahlt, ist für Peterson und Paglia gleichermaßen das Verhängnis der Postmoderne.

Gegen eine solche Verwässerung und Okkupierung der universitären Lehre exponiert sich Peterson seit langem. Erstmalige mediale Aufmerksamkeit erlangte der Kanadier als er sich öffentlich gegen die Sprachregulierung im Zuge des Gender Mainstreaming an seiner Universität zur Wehr setze. Paglia, von einem ihrer Studenten auf diesen Vorfall angesprochen, kommentierte den Vorfall gewohnt lakonisch: „More power to him.“

Dass Peterson mittlerweile weit über Fach- und englische Sprachgrenzen hinaus bekannt ist, liegt unter anderem an seiner ausgesprochen hohen medialen Präsenz, die den Betrachter das Urteil nahelegen könnte, wir haben es bei Peterson mit einem intellektuellen Influencer zu tun. Nichtsdestotrotz trifft Peterson mit seinem Wirken auf einen gesellschaftlichen Nerv, der nach Sinn, Orientierung und vor allem aber einem neuen Selbstverständnis von Männlichkeit lechzt.

Ein Sachverhalt, den Paglia gleichermaßen umtreibt wie Peterson, ist die Ursachenforschung danach, wie die oben skizzierte Form des Poststrukturalismus ihren Siegeszug an den englischsprachigen Universitäten hat antreten können. Für Paglia ist nämlich klar, dass er eben nicht organisch mit der New Age-Generation der 1960er Jahre – die sich mehr für C. G. Jung als Marx interessierten – erwachsen ist, sondern bewusst durch Lehrstuhlbesetzungen wie beispielsweise mit Jacques Derrida installiert wurde. Überhaupt habe der akademische Sozialismus mit dem ursprünglichen, volksnahen Sozialismus doch rein gar nichts mehr zu tun und ist von den Realitäten benachteiligter Menschen vollends entkoppelt. Doch der Marxismus sei eben eher habituell als durch eine wirkliche Solidarisierung mit der working class in Mode.

Die Kritik am universitären Lehrbetrieb die Paglia und Peterson üben, fokussiert sich jedoch nicht ausschließlich an den theoretischen Konstruktionen einer poststrukturalistischen Ideologie, sondern an dem fehlenden Grundlagenwissen über Ursprung und Entstehungskontext der westlichen Gesellschaft überhaupt: „They know nothing before the present“ bemerkt Paglia über den gegenwärtigen Geisteszustand von Professoren und Studenten gleichermaßen. Was ihrer Meinung nach fehle, ist die Erziehung in der Kultur- und Frühgeschichte, die Rückschlüsse auch über das zeitgenössische Geschlechterverhältnisse und somit unserer Gesellschaft generell zulasse.

So oder so, die unabhängigen und klügsten Denker finde man heute eben nur noch selten an der Universität und so bekräftigen auch Paglia und Peterson den Mut zur intellektuellen Selbstversorgung.

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