MESOPOTAMIA NEWS SYRIEN-ROJAVA – Halten die arabischen Stämme weiter zu den Kurden?
(Die YPG und die PYD konnten die Macht durch den Bürgerkrieg monopolisieren. Rivalisierende Parteien wurden gemäss der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch auch mit unzimperlichen Methoden wie Entführungen oder Ermordungen marginalisiert.)
Der Kampf gegen die IS-Jihadisten hat die Kurden und die Araber in Ostsyrien geeint. Doch ob die arabischen Stämme den Kurden nun auch im Ringen mit dem Asad-Regime für mehr Autonomie beistehen, ist fraglich.
Christian Weisflog, Beirut 3.4.2019, 06:30 Uhr NEUE ZÜRCHER ZEITUNG – Mit einer grossen Militärparade haben die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) vergangene Woche in der nordostsyrischen Stadt Kamishli ihren Sieg gegen die Terrormiliz Islamischer Staat gefeiert. Oberhalb der Zuschauertribünen hingen grosse Porträts Abdullah Öcalans, des in der Türkei inhaftierten Führers der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Es war eine provokative Machtdemonstration so unmittelbar an der türkischen Grenze und ein Bekenntnis zur Verbundenheit mit der PKK.
Kurden ziehen zwei rote Linien
Noch nie schienen die syrischen Kurden ihrem Traum eines Autonomiegebiets namens Rojava so nahe zu sein wie jetzt. Im Schatten des syrischen Bürgerkriegs konnten sie faktisch eine Selbstverwaltung aufbauen, weil das Regime den Osten des Landes sich selbst überliess, um seine Kräfte für den Überlebenskampf im Westen zu bündeln. Gleichzeitig wurde die Bedrohung durch die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zur grossen Chance für die Kurden. Dank amerikanischer Unterstützung, aber auch dank der Kollaboration arabischer Stämme eroberten die von den YPG dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) sämtliche Gebiete östlich des Euphrats und drangen gegen Westen bis zur Stadt Manbij vor. Zeitweise hegten die Kurden gar die Hoffnung, ihre «Föderation» fast an der gesamten türkischen Grenze entlang bis nach Afrin ausweiten zu können.
Selbstbewusst formulierte Mazlum Kobane, der Befehlshaber der YPG, deshalb kürzlich seine Bedingungen für Verhandlungen mit dem Regime des syrischen Präsidenten Bashar al-Asad. «Erstens muss unsere autonome Verwaltung bewahrt bleiben und einen legalen Status erhalten», sagte er gegenüber der Internetplattform «al-Monitor». Zweitens müssten auch die SDF weiter bestehen. Diese zwei Forderungen seien die roten Linien: «Werden sie nicht erfüllt, kämpfen wir.»
Erschüttertes Vertrauen
Aber ob die arabischen Verbündeten innerhalb der SDF im Falle einer militärischen Konfrontation mit dem Regime weiterhin zu den Kurden halten werden, scheint nicht gesichert. Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan im vergangenen Herbst damit drohte, nach Afrin auch in weitere Kurdengebiete in Nordsyrien einzumarschieren, forderten arabische Stämme die YPG auf, die Kontrolle der Grenzübergänge zur Türkei dem Asad-Regime zu übergeben, um eine Invasion zu verhindern. Im Visier hatte Erdogan in einem ersten Schritt vor allem die nordsyrische Stadt Manbij westlich des Euphrats. Um Ankara von einer Offensive abzuhalten, rückten im November auch russische Soldaten und syrische Regierungstruppen auf Manbij vor. Mehrere lokale Führer arabischer Stämme begaben sich daraufhin in Gebiete, die vom Asad-Regime kontrolliert werden.
Die Erklärung des amerikanischen Präsidenten im Dezember, alle seine Truppen nach einem Sieg gegen den IS aus Syrien abziehen zu wollen, hat die Stammesführer zusätzlich verunsichert. Zwar hat es sich Donald Trump mittlerweile wieder anders überlegt. Gemäss einem jüngst erschienenen Bericht der «New York Times» soll der Bestand zunächst von 2000 auf 1000 Soldaten reduziert werden. Danach will Washington alle sechs Monate weitere Truppen abziehen bis zu einem minimalen Kontingent von 400 Mann. Das Hin und Her hat bei den syrischen Verbündeten jedoch das Vertrauen in die amerikanische Schutzmacht erschüttert. Und dies scheint vor allem für die arabischen Stämme entscheidend zu sein. Sie haben sich im Verlauf des syrischen Bürgerkriegs meist pragmatisch verhalten und sich jeweils dem Akteur angedient, den sie gerade für den mächtigsten hielten. Auch jetzt sind sie bereits dabei, ihre Fühler unabhängig von den Kurden nach Damaskus, aber auch nach Moskau oder Bagdad auszustrecken.
Gespaltene Stämme
Ohne den Rückhalt der wichtigsten arabischen Stammesführer wird es für die Kurden schwierig werden, ihre «roten Linien» zu verteidigen. Die YPG kontrollieren mithilfe der SDF ein Gebiet, das weit über die mehrheitlich von Kurden bewohnten Regionen und Städte hinausgeht. Ihre Kräfte sind deshalb überdehnt. Je grösser das von ihnen kontrollierte Territorium jedoch ist, umso besser dürfte die Verhandlungsposition der Kurden gegenüber Damaskus sein. Und nur wenn sie stark sind, könnte sich Asad bewegen. Bis anhin lehnt der syrische Präsident eine Dezentralisierung genauso ab wie eine Streichung des Wortes «arabisch» aus dem Namen seiner «Syrischen Arabischen Republik».
Um die Araber bei der Stange zu halten, hat der politische Arm der YPG in den vergangenen Wochen Konferenzen mit arabischen Stammesführern organisiert. Wie komplex das Problem jedoch ist, zeigt eine aktuelle Analyse des Washington Institute for Near East Policy zum Beispiel der Stadt Manbij. Demnach stellen die Kurden hier nur gerade 15 Prozent der Bevölkerung. Der mächtigste arabische Clan in der Region sind die Mashi vom Stamm der Bubanna. Der Stammesführer Muhammad Kheir al-Mashi ist ein ehemaliger Abgeordneter im syrischen Parlament und auf Asads Seite. Sein Verwandter Farouk al-Mashi ist Mitvorsitzender des von den SDF etablierten Legislativrates in Manbij.
Damaskus dürfte versucht sein, die arabischen Stämme gegen die Kurden auszuspielen. Wenn dies in Manbij gelingt und die Stadt wieder unter Regimekontrolle kommt, könnte dies den arabischen Rückhalt für die Kurden auch in den übrigen Gebieten erodieren lassen. Letztlich könnte sich der Zentralstaat aber auch Konflikte unter den Kurden selbst zunutze machen. Die YPG und die PYD konnten die Macht durch den Bürgerkrieg monopolisieren. Rivalisierende Parteien wurden gemäss der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch auch mit unzimperlichen Methoden wie Entführungen oder Ermordungen marginalisiert. Die Kurden haben gegen den IS einen grossen Sieg erreicht, aber nun beginnt ein neues Machtspiel, in dem dieser Gewinn auch schnell wieder verspielt sein könnte.