MESOPOTAMIA NEWS : STIMMEN AUS ISRAEL – SHLOMO AVINERI – Nicht nur die Palästinenser, auch die Kurden brauchen einen eigenen Staat

In der Frage, ob die Kurden einen eigenen Staat bekommen sollten, bleibt der Westen in beschämender Weise stumm – und offenbart eine Doppelmoral.

Shlomo Avineri – HANDELSBLATT – 03.04.2018 – Der Autor  – Shlomo Avineri ist Politologie-Professor an der Hebrew University, Jerusalem. Er war Generaldirektor im israelischen Außenministerium. Sie erreichen ihn unter: gastautor@handelsblatt.com. Nicht nur der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman fordert neben dem Existenzrecht Israels, dass die Palästinenser einen eigenen Staat haben müssen. Es stimmen heutzutage fast alle überein, dass das palästinensische Volk einen eigenen Staat verdient und nicht unter israelischer Herrschaft leben sollte.

Die meisten Israelis teilen diese Ansicht, darunter selbst Ministerpräsident Netanjahu, der, wenngleich zögerlich, sein eigenes Bekenntnis zu einer Zwei-Staaten-Lösung geäußert hat.

Und in vielen westlichen Demokratien werden aus einer großen, linksgerichteten Bevölkerungsgruppe heraus regelmäßig Demonstrationen für eine Unabhängigkeit Palästinas organisiert. Das Argument für einen Palästinenserstaat ist in einem elementaren moralischen Anspruch auf nationale Selbstbestimmung verankert.

In derselben Frage dieses Rechts für das kurdische Volk bleibt der Westen jedoch in seltsamer und beschämender Weise stumm. Die westlichen Demokratien haben keine Stimme gegen die Drohungen der irakischen und türkischen Regierungen erhoben, das Bemühen der kurdischen Regierung um einen eigenen Staat gewaltsam zu unterdrücken.

Von offizieller Seite wird die Ablehnung der kurdischen Unabhängigkeit in der EU oder den USA stets mit „Realpolitik“ begründet. Angeblich müsse die territoriale Integrität des Iraks gewahrt werden, und die Unabhängigkeit der kurdischen Regionalregierung könne die Türkei und den Iran destabilisieren.

Doch diese Argumente unterstreichen lediglich die Doppelmoral. Im Falle der Palästinenser werden zu Recht moralische Ansprüche auf Selbstbestimmung geltend gemacht; im internationalen Diskurs über Kurdistan jedoch ist davon mit keinem Wort die Rede. Schlimmer noch: Die brutale Unterdrückung der Kurden über viele Generationen wird völlig übersehen. Im Irak unter Saddam Hussein waren die Kurden genozidalen Angriffen mit Chemiewaffen ausgesetzt. Und in der Türkei hat das Militär Hunderte von kurdischen Dörfern dem Erdboden gleichgemacht.

Das zweifelhafteste von allen Argumenten, mit denen den Kurden ihr Recht auf Selbstbestimmung bestritten wird, ist die Verteidigung der territorialen Integrität des Iraks. Als die Briten nach der Niederlage des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg den Irak als eigenständige politische Einheit schufen, taten sie dies gemäß ihren eigenen imperialistischen Interessen. Entsprechend schenkten sie der Geschichte, Geografie, Demografie und ethnischen und religiösen Vielfalt des Gebiets keine Beachtung.

Die Einwohner dieses neuen Staates wurden nie gefragt, ob sie in einem Land mit riesiger schiitischer Bevölkerungsmehrheit und großen kurdischen und christlichen Minderheiten leben wollten. Und sie wurden nie gefragt, ob sie von einer sunnitischen Dynastie regiert werden wollten, die die Briten aus dem heute zu Saudi-Arabien gehörenden Hedschas implantiert hatten.

Den Dutzenden Millionen Kurden, die in der Türkei und im Iran leben, werden seit Langem grundlegende Menschenrechte und kulturelle Rechte verweigert. Es ist daher begreiflich, dass sich die türkische und die iranische Regierung dem Streben der kurdischen Regionalregierung nach Unabhängigkeit widersetzen: Sie fürchten für den Fall eines Erfolgs der Regionalregierung ähnliche Bewegungen unter ihren eigenen unterdrückten kurdischen Bevölkerungen.

Offene, pluralistische Gesellschaft

Zudem hat die kurdische Regionalregierung eine relativ offene und pluralistische Gesellschaft errichtet. Als halbautonome Region operiert das irakische Kurdistan unter einem Mehrparteiensystem, wie man es in dieser Form in keinem der benachbarten arabischen Länder finden wird. Schon gar nicht im Iran oder der zunehmend dem Autoritarismus zuneigenden Türkei.

Nationale Selbstbestimmung, auch das hat der saudische Kronprinz zu Recht betont, ist ein universelles Recht, das man Bevölkerungen, die unter der Unterdrückung durch nicht demokratische Regime leiden, nicht vorenthalten sollte. Menschenrechtler, die für einen palästinensischen Staat demonstrieren, sollten ihre Stimme nicht weniger lautstark zugunsten eines Kurdenstaates erheben. Und Menschrechtsansprüche sollten immer der Realpolitik vorgehen.

Die kurdischen Peschmerga waren die treuesten Verbündeten der westlichen Demokratien im Kampf gegen den Islamischen Staat. Es wäre eine bittere Travestie, die Kurden in ihrer Stunde der Not auf Gnade und Ungnade der irakischen oder türkischen Regierung auszuliefern.

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