MESOPOTAMIA NEWS „ON LIBERTY“ : Der Fall Ian Buruma als Prüfstein der MeToo-Bewegung / FEMO-STALINISMUS
FAZ Gina Thomas – LONDON, 26. September Die Entlassung Ian Burumas als Chefredakteur der „New York Review of Books” wegen der Veröffentlichung des Erfahrungsberichts eines zahlreicher sexueller Übergriffe beschuldigten, vom Gericht jedoch freigesprochenen Hörfunkmoderators (F.A.Z. vom 21. September) hat die Kommentatoren gespalten — und wieder einmal vor Augen geführt, dass jene nuan-cierte Betrachtung der MeToo-Debatte, die Buruma mit dem Beitrag zu fördern suchte, an der Orthodoxie von selbstgerechten Aktivisten und deren Verteidigern scheitert.
Allein schon die öffentlichen Erklärungen aus seinem eigenen Hause offenbaren die Unversöhnlichkeit der Positionen und die Bereitschaft, sich der undifferenzierten Anschauung der MeToo-Kampagne zu beugen.
Innerhalb der Redaktion der renommierten literarischen Zeitschrift herrschten offenbar derartige Bedenken, dass diese bereits vor der Online-Vorabveröffentlichung des Textes nach außen getragen wurden. In einem der Kommentare wird ein Redaktionsmitglied mit der Beobachtung zitiert, „einige von uns hatten Sorge, dass das Stück ohne den Furor durchgehen würde, den es verdient”. Über diese Sorge lässt sich im Hinblick auf den inzwischen erzeugten Furor und den Versuch des Verlegers, Rea Hederman, die Wogen zu glätten, nur noch ironisch lächeln.
Hederman begann sein Rundschreiben an die Mitarbeiter mit dem Bekenntnis, dass die Einwände gegen den Artikel von Jian Ghomeshi berechtigt seien: „Wir gestehen unser Versagen bei der Aufmachung und der Bearbeitung der Geschichte ein.” Er wirft Buruma vor, sich nicht an die redaktionellen Maßstäbe der Gründungs-Chefredakteure Bob Silvers und Barbara Epstein gehalten zu haben, indem er den Text nur einem männlichen Kollegen gezeigt habe. Hederman behauptet, die meisten Redaktionsmitglieder seien vom wesentlichen Redaktionsprozess ausgeschlossen gewesen. Darüber hinaus hätte die Redaktion die Pflicht erfüllen müssen, den Standpunkt der mehr als zwanzig Frauen anzuerkennen, die sich über Ghomeshis Benehmen beschwert hatten.
Deren Erfahrungen stellten auf jeden Fall einen großen Teil der Geschichte dar, stellt Hederman fest, ohne darauf hinzu-weisen, dass die Richter in dem Verfahren die Aussagen von einigen der Frauen als „trügerisch und manipulativ” bezeichneten, so dass die Wahrheit nicht zu ermitteln gewesen sei. Hederman bemängelt, Ghomeshis Ton und dass die darauf folgenden Kommentare Burumas diesen Aspekt herunterzuspielen oder nicht zu beachten schienen. Bezeichnend ist freilich auch, dass Hederman hervorhebt, der Twitter-Mob habe Burumas Ausscheiden nicht verursacht.
Hedermans Stellungnahme macht deutlich, dass in der Redaktion nicht nur Unmut über Burumas Vorgehensweise herrschte. Besonderen Anstoß soll seine Behauptung erregt haben, die Redaktion habe nach einer „richtigen Diskussion” mit gegenteiligen Ansichten trotzdem zusammengehalten, als die Entscheidung für die Veröffentlichung gefallen sei. Tatsächlich scheint die Empörung eher auf Burumas Hinweis zu beruhen, dass die MeToo-Bewegung, „wie alle gutgemeinten und guten Sachen” auch „unerfreuliche Folgen” habe und dass es ihm nicht um die Frage gehe, ob die Beschuldigungen gegen Ghomeshi stimmten oder nicht, sondern darum, was mit jemandem geschehe, „der im strafrechtlichen Sinne nicht für schuldig befunden worden ist, aber vielleicht die Schmach der Gesellschaft verdient, wie lang das anhalten soll, welche Form das nehmen soll etc.”.
Mehr als hundert namhafte Autoren der „New York Review of Books”, darunter Ian McEwan, John Banville, Colm Töibin, Thomas Nagel, Alfred Brendel, Avishai Margalit, George Soros und Timothy Snyder, haben in einem öffentlichen Schreiben ihr Entsetzen über Burumas Weggang geäußert. Sie loben seine Chefredaktion und beanstanden, dass die Entlassung wegen eines einzigen Artikels, „so abstoßend viele von uns ihn gefunden haben mögen”, im Hinblick auf das Prinzip des offenen intellektuellen Diskurses, auf dem die Zeitschrift gegründet sei, eine Abkehr von der zentralen Mission der Zeitschrift sei, „nämlich die freie Erkundung von Ideen”. GINA THOMAS