MESOPOTAMIA NEWS : NACH „LANCET“ NUN AUCH WARNUNG DER SCHWEIZER  IMPFKOMMISSION

Impfkommissionschef Berger: «Bis wir nicht alle Daten gesichtet haben, bin auch ich Skeptiker»

Der Leiter der Schweizer Impfkommission will die Corona-Impfung erst dann empfehlen, wenn alle nötigen Fakten geprüft sind, und warnt davor, mit vorschnellem Handeln die allgemeine Impfakzeptanz langfristig zu gefährden.

Julia Monn 49 Kommentare 10.12.2020, NEUE ZÜRCHER ZEITUNG ( NZZ) Impfkommission Ekif, während eines Point de Presse zur Coronavirus-Situation.

Christoph Berger ist Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (Ekif). Er berät das Bundesamt für Gesundheit (BAG) in der Frage, ob die Schweizer sich gegen das Coronavirus impfen lassen sollen.

Dabei will der Kinderarzt nichts überstürzen und erst nach der Prüfung aller Impfstoffdaten entscheiden, ob den Schweizern eine Impfung empfohlen werden soll. Eine Herdenimmunität werde es so oder so nicht so schnell geben, sagt er.

Herr Berger, wie sicher ist die Corona-Impfung?

Es liegen noch nicht von allen Impfstoffen alle Daten aus der letzten klinischen Entwicklungsphase vor. Insofern kann ich das noch nicht abschliessend beantworten. Die Zwischenresultate sind jedoch verheissungsvoll. Trotzdem sind es Zwischenresultate. Wir müssen auf die Schlussresultate warten, um diese eingehend zu prüfen und in der Ekif zuhanden des BAG zu entscheiden, ob und welchen Impfstoff wir den Schweizern zur Impfung empfehlen. Dabei müssen wir im Auge behalten, was unsere Hauptanforderung an den Impfstoff ist und ob er diese erfüllen kann. Da findet immer eine Abwägung zwischen den Risiken einer Impfung und den Risiken einer Covid-19-Erkrankung statt.

Welche Hauptanforderung stellen Sie denn an den Corona-Impfstoff?

Er muss in erster Linie die Risikopatienten, also die Älteren und Personen mit Vorerkrankungen, davor bewahren, Covid-19 zu bekommen. Er soll sie vor schweren Krankheitsverläufen bewahren. Dann hilft er uns auch, das Gesundheitswesen und vor allem die Intensivstationen zu entlasten. Das Ziel ist derzeit weder, die ganze Schweiz durchzuimpfen, noch gehe ich davon aus, dass es so schnell eine Herdenimmunität geben wird. Aber ein Impfstoff kann uns dabei helfen, einen neuerlichen Lockdown für alle zu vermeiden.

Viele Menschen zögern ob der schnellen Impfstoffentwicklung und sind keineswegs sicher, ob sie sich impfen lassen würden. Verstehen Sie das?

Absolut. Bis wir nicht alle Daten geprüft haben und guten Gewissens eine Impfempfehlung abgeben können, bin auch ich ein Skeptiker. Wir arbeiten derzeit noch mit unvollständigen Informationen. Da ist es bis zu einem gewissen Grad rational, dass die Leute eine Impfung noch kritisch sehen. Vor allem jene, die sich nicht zur Risikogruppe zählen.

Die WHO hat Impfskeptiker 2019 zu den zehn grössten Gefahren der Weltgesundheit erklärt. Ist diese Gefahr in der derzeitigen Pandemielage nicht noch akuter geworden?

Impfskeptiker sind tatsächlich eine Gefahr für die Weltgesundheit. Aber hier gilt es zwischen der Corona-Impfung und anderen Impfungen zu differenzieren. Mit der Masern-, Pocken- oder Kinderlähmungsimpfung haben wir beispielsweise jahrzehntelange Erfahrung. Diese Krankheiten haben wir dank den Impfungen weltweit ganz oder fast eliminiert. Wenn sich aber wegen einer steigenden Impfskepsis weniger Leute impfen lassen, wird es wieder mehr Krankheitsfälle geben. Dann müssen sich alle immer weiter gegen diese Krankheiten impfen. Nur eine geringe Zahl an Impfskeptikern kann uns davon abhalten, diese Krankheiten auszurotten und mit dem Impfen aufzuhören.

Bei der Corona-Impfung hingegen starten wir ja gerade erst. Aus heutiger Sicht habe ich daher höchste Zweifel, dass wir so schnell eine Herdenimmunität haben werden. Es geht jetzt darum, Risikopatienten zu schützen, zu retten und einen Lockdown zu verhindern. Erst in fünf oder zehn Jahren sind wir mit der Corona-Impfung vielleicht da, wo wir jetzt mit der Masernimpfung stehen. Jetzt kann ich mit einer Corona-Impfung die Krankheit allerdings nicht ausrotten. Dafür ist die Impfung nicht konzipiert. Vor lauter Corona dürfen wir aber auch andere Impfungen und unsere Ziele dort nicht aus dem Auge verlieren.

Trotzdem muss die Impfakzeptanz in Sachen Corona wachsen, wenn wir weiterkommen sollen. Wie wollen Sie also Skeptiker überzeugen?

Klar, das ist wie vor einer Volksabstimmung. Da brauchen wir Vertrauen in der ganzen Bevölkerung. Wichtig ist daher eine Impfempfehlung, die auf soliden, nachvollziehbaren Argumenten basiert; eine gute Informationskampagne. Und schliesslich braucht es für die Zögernden individuelle Impfgespräche. Für diese sollen sich Ärzte genug Zeit nehmen und eine entsprechende Vergütung erhalten. Schliesslich ist es aber auch kein Versagen, wenn man sich nicht impfen lassen will. Wir wollen ja keine Impfpflicht, sondern einzig, dass die Menschen die Möglichkeit haben, gut informiert die Risiken einer Impfung gegen die Risiken einer Erkrankung abzuwägen. Der Entscheid liegt beim Einzelnen.

Unsere Nachbarländer drücken bei der Corona-Impfung aufs Tempo, bauen bereits Impfzentren auf und starten mit den ersten Impfungen. Sind wir in der Schweiz zu langsam?

Nein, wir müssen nicht die Schnellsten sein, sondern sorgfältig entscheiden und bedacht überzeugen. Und das können wir, wenn wir die Fakten gut geprüft haben. Da hilft uns auch, dass unsere Massnahmen im Vergleich zu Nachbarn wie Frankreich oder Deutschland etwas moderater waren und der Druck aus der Politik für einen rekordverdächtigen Impfbeginn nicht ganz so stark ist. Eine Corona-Impfung empfehlen wir ja nicht so wie eine Masern- oder Grippeimpfung, mit der wir sehr viel mehr Erfahrung haben. Wir machen vorwärts, aber wir beginnen überlegt und organisiert. Es ist entscheidend, diese Impfung richtig, nicht schnell, aufzugleisen. Denn wenn das schiefgeht, riskieren wir, die Impfakzeptanz generell für Jahre zu gefährden. Das wollen wir auf keinen Fall.