MESOPOTAMIA NEWS : NACH DEN RIOTS DIE GELDFORDERUNG !

Angesichts der derzeitigen Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt dürfte nun wieder verstärkt über Reparationen für die Nachfahren der Sklaven diskutiert werden. Ökonomen schätzen, dass den Millionen Nachfahren Reparationen von 500 Milliarden bis 16 Billionen Dollar zustehen könnten.

Der lange Weg zur echten Gleichstellung in den USA: Jahrelange Förderprogramme haben die Kluft zwischen Schwarzen und Weissen nicht zum Verschwinden gebracht

Mit einer Vielzahl von Gesetzen, Massnahmen und Programmen haben die USA seit den sechziger Jahren versucht, die Benachteiligung der Schwarzen zu mildern. Doch die Bilanz bleibt durchzogen. –  Ronald D. Gerste, Washington 04.06.2020, 17.09 Uhr NEUE ZÜRCHER ZEITUNG

 

Als Präsident Lyndon Johnson am 2. Juli 1964 die Civil Rights Act über die Gleichstellung aller Amerikaner vor Kabinettsmitgliedern, Kongressabgeordneten und Vertretern der Bürgerrechtsbewegung wie Martin Luther King unterschrieb, stand vor ihm auf dem Schreibtisch ein beeindruckender Vorrat von 80 Kugelschreibern. Einige der Schreibinstrumente berührten kurz das Papier, das einen historischen Erfolg für die Bürgerrechtsbewegung bedeutete, andere wurden durch ihre reine Anwesenheit zu Souvenirs, die der Präsident an die Anwesenden verteilte.

Hätte Johnson geahnt, wie viele weitere Gesetze und Verordnungen es brauchen würde, um das Gleichheitsprinzip zur Realität werden zu lassen, in der Berufswelt, im Wohnungswesen, vor allem aber bei der Bildung, so hätte der Präsident eine ähnliche Zahl von Kugelschreibern für künftige Anlässe bereitlegen können. Die USA haben sich seit jenem historischen Tag nach Kräften bemüht, den benachteiligten Nichtweissen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, aber die Bilanz dieser Bestrebungen ist gemischt und wirkt für viele Amerikaner dieser Tage eher niederschmetternd.

Diskriminierungsverbot im Wohnungswesen

Johnson bekam gegen Ende seiner durch den Vietnamkrieg überschatteten Amtszeit selbst noch einen Eindruck von den Hürden, die das tägliche Leben seinem Ansinnen in den Weg setzte. Im April 1968 unterzeichnete er eine neuerliche Civil Rights Act, deren zentraler Bestandteil die Fair Housing Act war. Seither dürfen Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe (oder ihres Geschlechts, ihrer Herkunft, ihrer Religion) nicht benachteiligt werden, wenn sie eine Wohnung mieten oder ein Haus kaufen möchten. Wer heute glaubt, bei einem solchen Akt diskriminiert worden zu sein, kann mit einigen Erfolgsaussichten dagegen klagen; das Justizministerium kann ermitteln, wenn sich derartige Vorfälle in einer Region oder durch einen Vermieter häufen.

Doch wie so oft wird die rechtliche Situation überlagert von der ökonomischen Realität. Aufgrund des wesentlich geringeren Durchschnittseinkommens afroamerikanischer Haushalte ist es vielerorts keine Frage, ob Afroamerikaner zum Beispiel in einen neuen Appartementkomplex einziehen dürfen (was eindeutig geregelt ist), sondern, ob sie es finanziell können. Dieses Dilemma kennzeichnet heute in zahlreichen amerikanischen Grossstädten die Situation in ehemals mehrheitlich «schwarzen» Wohngegenden. Zwar sind in einigen Metropolen die Innenstädte nach wie vor afroamerikanisch geprägt, was in der Praxis meist eine zurückgebliebene Infrastruktur und sichtbare Verarmung bedeutet wie in Newark und Baltimore. Typischer hingegen ist eine seit den achtziger Jahren voranschreitende und von Repräsentanten der afroamerikanischen Minderheit beklagte «Gentrifizierung».

Restaurants und Galerien, Sportstätten und hochpreisige Eigentumswohnungen verändern das Antlitz von Stadtkernen. Es kommt zu Investitionen, von deren Nutzen die ursprünglichen und nunmehr in benachteiligte Bezirke abgedrängten Bewohner ausgeschlossen sind. Nicht von ungefähr richtet sich die jetzige Zerstörungswut in Städten wie Detroit, Atlanta und Washington gegen Einrichtungen, die für diese neue Segregation stehen, eine Trennung nicht nach Hautfarbe, sondern nach Kontostand und Jahreseinkommen.

Grössere Armut, dafür Fortschritte bei der Bildung

Die Wohnsituation ist daher auch das Feld, auf dem die Bemühungen, eine wirkliche Gleichstellung zu schaffen, ähnlich dünne Erträge erbracht haben wie bei den Versuchen, die hohen Inhaftierungsraten afroamerikanischer Männer zu senken. Johnson wurde in seinem letzten Amtsjahr 1968 der Bericht der sogenannten Kerner Commission vorgelegt, die die Ursachen von Rassenunruhen untersucht hatte. Die Kommission machte «weissen Rassismus» und die unter Schwarzen weitverbreitete Armut als Auslöser aus. Eine Kennziffer dieser Armut war die niedrige Quote schwarzer Hauseigentümer von rund 40 Prozent – sie ist ein halbes Jahrhundert später praktisch unverändert; für weisse Amerikaner beträgt sie 71 Prozent.

Unzweifelhafte Fortschritte gab es hingegen bei den Bildungschancen. Zur Zeit des Kerner-Berichts hatten nur gut 50 Prozent der jungen Afroamerikaner einen Highschool-Abschluss, heute sind es mehr als 90 Prozent. Die Schulen zu «desegregieren», die Aufteilung in mehrheitlich oder rein «weisse» Schulen in einem und «schwarze» Schulen in einem anderen Stadtteil zu überwinden, liess die Gesetzgeber zu einem höchst umstrittenen Instrument greifen, dem sogenannten Busing. Dabei wurden Kinder mit Schulbussen in Stadtteile oder Nachbarorte mit anderer Demografie gefahren, um weisse Schüler in bisher mehrheitlich schwarze Schulen zu bringen und umgekehrt.

Vor allem in Boston, der vielleicht am weitesten links stehenden amerikanischen Grossstadt, kam es 1974 zu teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen, als sich weisse Eltern der Massnahme widersetzten. Ein Rückzug aus dem öffentlichen Schulsystem war oft deren Antwort: Sie schickten ihre Kinder auf Privatschulen oder zogen in die Vororte. In der Tat nahmen die Verfechter des Busing oft wenig Rücksicht auf diejenigen, deren Wohl ihnen angeblich am Herzen lag: die Kinder, denen teilweise stundenlange Transfers und ein Schulerlebnis in einer wenig vertrauten Umgebung oktroyiert wurde. Studien belegten, dass auch in den nunmehr ethnisch gemischten Schulen die Schüler bevorzugt mit Gleichaltrigen der eigenen Ethnie Freundschaften schlossen.

Zur gezielten Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Minderheiten gehört auch das «affirmative action» genannte Vorgehen, das – vereinfachend beschrieben – eine bevorzugte Berücksichtigung von farbigen Jugendlichen bei der Vergabe von Studienplätzen vorsieht. Diese Methode hat mehrmals die Gerichte beschäftigt, verschiedentlich aufgrund von Klagen weisser Studienplatzbewerber, die sich dadurch diskriminiert fühlten. Meist kam es zu knappen Urteilen zugunsten von «affirmative action».

Für amerikanische Colleges und Universitäten ist «diversity», eine ethnisch und bezüglich Geschlecht gemischte Studentenschaft, ein oft beschworenes Anliegen. Viele Hochschulen setzen zur Erreichung ihres Zieles grosszügig Stipendien für schwarze Studenten ein. Erfreulich ist dabei, dass sich die Zahl der jungen Afroamerikaner mit Studienabschluss 2015/16 gegenüber 2000/01 mehr als verdoppelt hat.