MESOPOTAMIA NEWS : MERKEL TELEFONIERT MIT USCHI VON DER LEYHEN / REALSATIRE
EU-Gipfel: Die Schuldenunion ist längst Wirklichkeit
Der Corona-Hilfsfonds ist ein Meilenstein in der europäischen Geschichte. Im Geschacher der nationalen Egoismen wurde aber an der falschen Stelle gespart. -Von Alan Posener DIE ZEIT – 21. Juli 2020,
Die Schuldenunion ist längst Wirklichkeit – Man kann sich das Telefonat vom Mai dieses Jahres lebhaft vorstellen:
“Uschi, hier ist Angela. Du musst was für mich tun.”
“Warum? Du hast mir schon wieder die Schau gestohlen, als du mit Emmanuel diesen 500-Milliarden-Corona-Fonds aus dem Hut gezogen hast. Das wäre wohl meine Sache gewesen als Kommissionschefin.”
“Darum geht es. Du musst sofort einen eigenen, ambitionierteren Plan vorlegen: Mindestens 750 Milliarden. 500 davon als bedingungslose Zuschüsse.”
“Warum?”
“Weil dann der Rutte und der Kurz und noch ein paar andere sich daran festbeißen werden und uns herunterhandeln werden auf wasweißich, vielleicht 350 Milliarden als Zuschüsse, und möglicherweise auch noch ein paar Bedingungen dazu, und damit hätten wir, was wir wollen.”
“Und wie stehe ich da? Als die Frau, die ihren Plan nicht durchkriegen kann. Ich wollte mich eigentlich auf den Haushalt konzentrieren. Da hab ich ein paar tolle Ideen, die …”
“Uschi, vergiss nicht, wer dir diesen Job besorgt hat. Du kannst gern das Verteidigungsministerium zurückhaben, wenn dir Brüssel nicht gefällt. Die arme Annegret würde lieber heute als morgen hinschmeißen. Ist ja auch ein Sauhaufen, diese Bundeswehr. Also?”
“Na, meinetwegen. 750 Milliarden, ja?”
“Supi. Tschüss.”
Ob das Gespräch zwischen der Kanzlerin und ihrer Kommissionspräsidentin wirklich so stattgefunden hat, werden wir erst wissen, wenn die National Security Agency (NSA) ihre Abhörprotokolle veröffentlicht, aber in etwa so lief ja die europäische Dramaturgie ab. Und was zunächst eine französische Idee war, wird nun als erstes und vermutliches wichtigstes Ergebnis der deutschen Ratspräsidentschaft gefeiert. Angela Merkel kann zufrieden sein.
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Angela Merkel – “Wir sind in der Lage, Berechenbarkeit herzustellen” Nach viertägigen Verhandlungen haben sich die EU-Staaten auf ein Corona-Hilfspaket geeinigt. Die Bundeskanzlerin zeigte sich erleichtert. © Foto: John Thys/Reuters
Prompt schickte sie ihren Außenminister nach Athen, um im Gasstreit zwischen Griechenland und der Türkei zu vermitteln. Nicht etwa Josep Borrell. Josep wer? Genau. Der Spanier ist Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik und wäre eigentlich für den Streit um Gasbohrrechte vor Kreta zuständig. Aber der Fall ist in Merkels Augen zu wichtig, um ihn Europa zu überlassen.
Angela Merkel kann zufrieden sein
Tatsächlich hat der Streit um die Gasreserven im Mittelmeer und der damit verbundene Kampf um die Kontrolle Libyens, bei dem die Türkei die von der EU anerkannte Regierung in Tripolis gegen Rebellen verteidigt, die von Russland gefördert werden, das Zeug, die ganze Region noch weiter zu destabilisieren. Andererseits wären sichere Gaslieferungen aus der mediterranen Nachbarschaft eine wichtige Alternative zu den politisch heiklen russischen Lieferungen über die Pipelines Nordstream 1 und 2. Was also vor Kreta und in der libyschen Wüste passiert, ist für Europa mindestens so wichtig wie das, was übers Wochenende in Brüssel geschah. Fatal, dass die EU hier faktisch als eigenständige Macht abgedankt hat.
Immer wieder betonen zwar Europas Staatsmänner und -frauen, dass eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik entscheidend für die Zukunft der EU sei, aber wenn es darauf ankommt, ob in Afghanistan oder Mali, in der Ukraine oder gegenüber der Türkei, handeln die europäischen Mächte oft, als gäbe es die Union nicht. Diesem Nationalegoismus entspricht, dass als Teil des Kompromisses rund um den Corona-Wiederaufbaufonds jene Posten im langfristigen EU-Haushalt zusammengestrichen wurden, auf die Ursula von der Leyen besonderen Wert legte, darunter jene für den Ausbau der außenpolitischen Kompetenzen der Union.
Trotz alledem stellt die Verabschiedung des Hilfspakets einen Meilenstein in der Geschichte Europas dar. Alice Weidel von der AfD fasst das in einer empörten Pressemitteilung gut zusammen: “Der ‘Wiederaufbaufonds’ ist der finale Sündenfall. Die EU nimmt Schulden auf, obwohl ihr keine eigene Staatlichkeit und Finanzhoheit zusteht, Deutschland haftet dafür, und das Geld wird an den Parlamenten und ihrem Haushaltsrecht vorbei verteilt.” Positiv ausgedrückt: Die Europäische Kommission benimmt sich in der Tat so, als stünde der EU “Staatlichkeit und Finanzhoheit” zu. Dass dies der “finale Sündenfall” sei, darf man auch nicht erwarten. Es ist ein Präzedenzfall.
Es müssten Zöpfe fallen
Zu Recht sprach Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) von einem “Hamilton-Moment” Europas. 14 Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung der 13 Kolonien gab sich die amerikanische Zentralregierung auf Betreiben von Finanzminister Alexander Hamilton die Kompetenz, ihre eigenen Ausgaben durch eigene Einnahmen zu finanzieren. Außerdem übernahm sie die Schulden der Einzelstaaten. Genau gegen diese Schuldenunion laufen alle europäischen Nationalisten Sturm, und genau diese Schuldenunion wird es geben müssen, wenn Europa mehr sein soll als ein Club mehr oder weniger reicher Länder, die eine große Zukunft hinter sich haben.
Allerdings – apropos “Sündenfall” – ist die Transfer- und Schuldenunion längst Wirklichkeit. Rechnet man die Differenz zwischen Beiträgen an die EU und Zahlungen von der EU auf die einzelnen Bürgerinnen herunter, zahlte jede Bundesbürgerin 2019 etwa 161 Euro für das Privileg, zur EU zu gehören. Zum Vergleich: Jeder deutsche Haushalt zahlt 210 Euro im Jahr Rundfunkbeitrag, ganz unabhängig davon, ob irgendjemand im Haushalt Tagesschau oder Tatort guckt. In Ungarn wiederum erhielt jeder Bürger im vergangenen Jahr im Schnitt 533 Euro von der EU. Das ist eine Menge Geld.
Anders gerechnet: Deutschland zahlte 2019 netto 13,4 Milliarden Euro an die EU. Polen erhielt 12,3 Milliarden, Griechenland 3,4 Milliarden. Wie kann es sein, dass Ungarn und Polen Geld von der EU einsacken, deren rechtsstaatliche Prinzipien aber verhöhnen? Wie kann man verhindern, dass Griechenland das Geld aus dem Corona-Fonds nutzt, um seine Schulden abzuzahlen, statt Verwaltung und Justiz zu modernisieren und Investitionen anzuschieben? Sollten die Geberländer nicht ein Wörtchen darüber mitzureden haben, was mit ihrem Geld geschieht?
Dies war die wichtigste Bedingung der sogenannten “sparsamen vier” nordeuropäischen Länder, aus denen mit Finnland fünf wurden. Ihren Bedenken, die Merkel vermutlich heimlich teilt, wurde mit Erklärungen über die Konditionalität Rechnung getragen. Die Empfängerländer müssen vorab erklären, wofür sie die Gelder ausgeben wollen, und die Mittel können bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit verwehrt werden. Man darf annehmen, dass in der Praxis niemand um sein Geld zu fürchten braucht. Und das ist auch gut so. Jeder Versuch der Einmischung würde von der jeweils betroffenen Regierung sofort nationalistisch gewendet werden, wie es Viktor Orbán medienwirksam auf dem EU-Gipfel tat mit seiner Behauptung, der niederländische Premier Mark Rutte, der auf Garantien der Rechtsstaatlichkeit beharrte, würde “Ungarn hassen”.
Der Mammutgipfel machte denn auch die Grenzen des Europäischen Rats sichtbar. Als Konferenz der gewählten Regierungschefs müsste die europäische Außenpolitik sein wichtigstes Aktionsfeld sein. Doch wie wir gesehen haben, fehlt es genau da am Willen zur Gemeinsamkeit, übrigens schon gar nicht von deutscher Seite. Stattdessen hat sich der Rat vor allem auf Betreiben Angela Merkels seit zehn Jahren immer mehr zum Krisenmanager der Union entwickelt; und da die EU fast permanent in der Krise war, ist der Rat übermächtig geworden; aus den ad hoc beschlossenen Instrumenten, insbesondere zur Lösung der Schuldenkrise, sind Institutionen geworden, die niemand so recht kontrolliert.
Kontrolle müsste aber das Ur-Recht des Europäischen Parlaments sein. Freilich sieht Angela Merkel das anders. In ihrer Rede vor dem Parlament zu Beginn ihrer Ratspräsidentschaft umriss sie ihr Verständnis der Aufgaben der Volksvertreterinnen wie folgt: “Sie sind die Vermittler des gegenseitigen Verständnisses, das wir brauchen, um Kompromisse zu erreichen. Sie vertreten fast 450 Millionen Bürgerinnen und Bürger in 27 Staaten. Sie sind die Übersetzer der europäischen Prinzipien. Sie erläutern den Menschen Europa und vermitteln so zwischen Brüssel, Straßburg und Ihren Heimatregionen. Sie kommunizieren nicht nur in 24 Sprachen, sondern Sie leben mit dieser Vielfalt der Perspektiven und Erfahrungen. Wer, wenn nicht Sie, könnte den Menschen in Europa die Haltung anderer Mitgliedstaaten erklären? Deswegen bitte ich Sie als Mittler und Vermittler des Zusammenhalts um Ihre Unterstützung in dieser schwierigen Zeit.”
Wo ist das Europäische Parlament?
Vermittler und Mittlerinnen, Übersetzerinnen und Erklärer ja. Kontrolleure? Akteure gar? Nein. Wie weiland Ludwig XVI. die Generalstände brauchte, um Steuern zu bewilligen, braucht Merkel das Parlament, um ihre Ideen zu bewilligen und anschließend zu “vermitteln”. Damals im Ballhaus – eigentlich eine Tennishalle – zu Versailles schworen die Abgeordneten, nicht eher auseinanderzugehen, bis sie Frankreich eine Verfassung gegeben hätten. Das war übrigens ein Jahr vor dem Hamilton-Moment in den USA, der mit der Regierung naturgemäß auch dem Kongress eine größere Macht gab, dem die Kontrolle der Regierungsausgaben oblag.
In der Logik des “Sündenfalls” – des Hamilton-Moments – vom Wochenende läge es, wenn das Europäische Parlament, das den Aufbaufonds und den Haushalt bewilligen muss, die Gelegenheit ergriffe, den Haushalt zu reformieren, die Landwirtschaftsbeihilfen zusammenzustreichen und die Zukunftsausgaben besser zu finanzieren, und überdies beim Aufbaufonds die Kontrolle über die Ausgaben im Sinne der vom Rat beschlossenen “Konditionalität” an sich reißen würde. Wird das Parlament seinen “Ballhausmoment” ergreifen? Es müssten bei dieser Europäischen Revolution nicht gleich Köpfe rollen. Aber Zöpfe fallen.