MESOPOTAMIA NEWS : LERNT GRAMMATIK ! / EIN ANTI-CHOMSKY
Unterschätzte Muttersprache : Der Grammatikunterricht endet nie
- Von Wolfgang Krischke FAZ -Aktualisiert am 27.08.2020-12:59
Niemand kommt auf die Idee, in der Schule grundlegende Satzmuster der eigenen Muttersprache einzuüben. Doch das wäre sinnvoll. Die Fähigkeit, komplexere Aussagen zu verstehen, ist sehr unterschiedlich verteilt.
Wenn grammatische Defizite zum Thema werden, geht es meistens um mangelhafte Fremdsprachenkenntnisse. Niemand kommt auf die Idee, mit seinen Sprösslingen die Deklinationen oder Wortstellungsregeln der Muttersprache einzuüben. Dieser Glaube an die Grammatik als Selbstläufer passt zu der linguistischen Lehrmeinung, dass allen Sprachen der Welt eine gemeinsame Universalgrammatik zugrunde liegt, die man sich als ein im Gehirn verankertes Betriebssystem vorzustellen hat. Nach dieser Theorie, deren prominentester Vertreter Noam Chomsky ist,
lernt ein Kleinkind seine Muttersprache nahezu automatisch, indem die Wörter und Sätze, die es tagtäglich hört, einige der Funktionen aktivieren, die dieses System bereithält. Andere Funktionen, die nicht zu dieser Sprache passen, werden stillgelegt, so dass im Kopf eine deutsche, russische oder arabische Grammatik heranreift. Dank dieser neurobiologisch basierten Sprachfähigkeit sollen alle Menschen ohne kognitive Defizite in ihrer Muttersprache über dieselbe grammatische Kompetenz verfügen.
Lehrer hatten angesichts ihrer Erfahrungen in den Klassenzimmern allerdings schon immer Zweifel an dieser Theorie. Die werden bestätigt durch Forschungen der Sprachwissenschaftlerin Ewa Dąbrowska von der Universität Erlangen-Nürnberg. Sie stellte fest, dass es zwischen Muttersprachlern beträchtliche Unterschiede in der grammatischen Kompetenz gibt. Dabei geht es nicht um ausgefeilte Konstruktionen, sondern um grundlegende Satzmuster, mit denen viele Sprecher Probleme haben. Zwar hat Ewa Dąbrowska, die bis vor kurzem in Großbritannien lehrte, die meisten ihrer Studien mit englischen Muttersprachlern gemacht. Aber die Linguistin ist überzeugt, dass die Ergebnisse ihrer gerade anlaufenden Untersuchungen zum Deutschen sehr ähnlich ausfallen werden.
In ihren Tests arbeiten sie und ihr Team mit Muttersprachlern, die mit ihren Bildungsabschlüssen einen Querschnitt der Bevölkerung repräsentieren. Jeder Proband bekommt eine Reihe von Sätzen vorgelegt und soll für jeden Satz aus mehreren Bildern dasjenige auswählen, das die Bedeutung des Satzes korrekt wiedergibt. Die Versuche zeigten, dass etliche Testpersonen Schwierigkeiten hatten, Sätzen wie „Jeder Apfel liegt in einer Schüssel“, „Es war der Mann, der das Kind fütterte“ oder „Der Löffel in der Tasse ist rot“ das korrekte Bild zuzuordnen. Die Quote lag, je nach Konstruktion, zwischen zehn und vierzig Prozent.
Vier Faktoren unter der Lupe
In einem anderen Test mit mehrheitlich bildungsfernen Probanden kam ein Drittel auch mit kurzen Passivsätzen („Das Kind wird von dem Mann gefüttert“) nicht zurecht. Solche Sätze gehören zwar zur Alltagssprache. Trotzdem bereitet es etlichen Sprechern Mühe, Wortstellung und Logik von Konstruktionen zu entschlüsseln, die vom Schema des einfachen aktiven Aussagesatzes abweichen, oder zu erkennen, worauf genau sich Mengenangaben wie „jeder“ beziehen. Zusammen mit der grammatischen Kompetenz wurden auch der Umfang des Wortschatzes und die Kenntnis alltäglicher Redewendungen untersucht – mit ganz ähnlichen Ergebnissen.
Auf der Suche nach Gründen für diese Kompetenzunterschiede nahmen die Linguisten vier Faktoren unter die Lupe: den Grad der formalen Bildung, die Lesefreudigkeit, den nichtsprachlichen Intelligenzquotienten und die sprachanalytischen Fähigkeiten. Um letztere zu prüfen, wurden den Versuchspersonen kurze Sätze in einer unbekannten oder künstlichen Sprache zusammen mit ihren Übersetzungen vorgelegt. Die Aufgabe bestand darin, die zugrundeliegenden Strukturen zu erkennen, um daraus analoge Sätze in der Kunstsprache abzuleiten.
Es zeigte sich, dass alle vier Faktoren eine statistisch signifikante Rolle für die Unterschiede in den grammatischen Fertigkeiten spielten. „Bemerkenswert ist, dass die sprachanalytischen Fähigkeiten nicht nur – wie schon lange bekannt – für das Erlernen von Fremdsprachen, sondern auch für den Erwerb der Muttersprache eine zentrale Bedeutung haben“, sagt Ewa Dąbrowska. „Hinzu kommt, dass grammatische Fähigkeiten mit allgemeinen Problemlösungskompetenzen und auch mit der Freude an geistigen Anstrengungen, zum Beispiel anspruchsvollen Rätseln, korrelieren.“ Im Vergleich der vier Faktoren untereinander hatte der Bildungsstand für sich genommen das geringste Gewicht. Eine solch isolierte Betrachtung dürfte allerdings seiner Bedeutung nicht gerecht werden, da er mit den anderen Faktoren – einschließlich des IQ – verknüpft ist. Die bildungspolitische Bedeutung der Ergebnisse liegt für Ewa Dąbrowska auf der Hand: „Wenn die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder mangelhaft sind, kommen sie irgendwann im Unterricht nicht mehr mit und geben auf.“ Erkenne man hingegen solche Defizite rechtzeitig, könne man sie durch gezielte Fördermaßnahmen in ziemlich kurzer Zeit ausgleichen.
Manches an den Befunden erinnert an die Unterscheidung zwischen einem „restringierten Code“ für die kommunikativen Bedürfnisse des Alltags und einem „elaborierten Code“ für die Subtilitäten abstrakter Gedankengänge, die der Soziologe Basil Bernstein in den sechziger Jahren postulierte. Zwar verband er damit keine Wertungen, trotzdem wurden seine Ideen in der Folge als vermeintliche Diskriminierung bildungsferner Schichten tabuisiert. „Bernstein hatte im Prinzip recht, aber seine Beweise taugten nichts, denn er hat dialektale Eigenarten mit sprachlichen Defiziten verwechselt und auch nicht unterschieden, ob Leute bestimmte Muster nicht bilden konnten oder einfach nicht bilden wollten“, sagt Ewa Dąbrowska.
Wichtiger als diese Einwände war allerdings, dass sprachliche Defizite nicht zum Zeitgeist passten. Dem entsprach viel besser die biolinguistische Égalité der Universalgrammatik, die mit der politischen Égalité linker Überzeugungen harmonierte. Das bekam auch Ewa Dąbrowska zu spüren: „Zu Beginn wurde ich für meine Forschungen harsch kritisiert, teilweise sogar angefeindet. Dabei war es nicht so, dass ich individuelle Differenzen finden wollte. Ich fand sie einfach.“ Allerdings gibt es durchaus empirische Studien, die einen Gleichtakt der sprachlichen Entwicklung zu untermauern scheinen. Für Ewa Dąbrowska liegt die Homogenität dieser Testresultate aber nur an der Auswahl der Probanden. „Viele Psycholinguisten beschränken sich für ihre Beobachtungen auf Studenten oder auch die eigenen Kinder, erfassen also nur das Bildungsbürgertum.“ Sie und ihr Team rekrutieren dagegen in Supermärkten, Frisiersalons oder über soziale Organisationen auch Probanden aus bildungsfernen Milieus, die mit der akademischen Welt fremdeln.