MESOPOTAMIA NEWS: Krise in der Türkei : Familienkrach im Hause Erdogan

Der türkische Staatspräsident Erdogan und sein Schwiegersohn Albayrak, der als Finanzminister aufhören möchte. Der bisherige türkische Finanzminister Berat Albayrak ist der Schwiegersohn von Präsident Erdogan – und wirft nun völlig unerwartet das Handtuch. Die Anleger reagieren schon. Was sind die Hintergründe und was passiert nun?

Als hätte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan mit seinen vielen außen- und wirtschaftspolitischen Krisen nicht genug zu tun, kommen seit dem Wochenende noch personalpolitische Turbulenzen hinzu: Völlig unerwartet war am Sonntagabend Ungewöhnlich auch die Art seiner Bekanntmachung: auf Instagram. Dort gab der Zweiundvierzigjährige gesundheitliche Gründe an. Er wolle mehr Zeit mit seiner Familie verbringen. Das Ministerium bestätigte die Echtheit der Erklärung, allerdings war am Montagmorgen unklar, ob Erdogan den Rücktritt überhaupt annehmen werde.

Zum politischen Streit kommt damit womöglich solcher in der Familie. Albayrak ist seit dem Jahr 2004 mit einer von Erdogans Töchtern verheiratet. Manche sahen in ihm mehr als den Schwiegersohn, nämlich einen politischen Ziehsohn Erdogans.

Neuer Notenbankchef verspricht Preisstabilität

Die ungewöhnliche Art und Weise des Rücktritts überraschte sogar Albayraks eigene Mitarbeiter, die nach Angaben des Finanzdienstes Bloomberg berichteten, der Minister sei nicht zu erreichen, sein Telefon ausgeschaltet. Albayrak schien am Sonntag auch seinen Twitter-Account gelöscht zu haben.

In der Türkei wurde der Rücktritt Albayraks mit dem zuvor am Samstag im Amtsblatt bekannt gemachten plötzlichen Wechsel an der Spitze der Notenbank in Verbindung gebracht. Dort löst Naci Abgal, ein enger Weggefährte Erdogans und laut Medienberichten Kritiker von Albayraks Wirtschafts- und Finanzpolitik, den erst vor 16 Monaten eingesetzten Gouverneur Murat Uysal ab.

Von den Anlegern an den Finanzmärkten wurde das positiv bewertet. Die seit Monaten unter Abwertungsdruck stehende Landeswährung Lira ging gestärkt in die Woche. Gegenüber Dollar und Euro erzielte sie Kursgewinne von mehr als einem Prozent. Der Dollar notierte zu Wochenbeginn um 8,41 Lira, der Euro rutschte wieder unter die Marke von 10 auf 9,98 Lira.

In einer Pressemitteilung der Notenbank erklärte Abgal, der zuletzt das Amt für Haushalt und Strategie im Präsidentenpalast geleitet hatte, es sei sein wichtigstes Ziel, „die Preisstabilität aufrechtzuerhalten“. Dafür würden alle Instrumente eingesetzt. Zudem versprach er eine transparente Kommunikation. Bis zur nächsten Sitzung des geldpolitischen Ausschusses am 19. November werde er sich nun einen genauen Überblick über die Lage verschaffen. „Notwendige politische Entscheidungen werden im Lichte der zu bildenden Daten und Bewertungen getroffen.“

Volkswirte der Deutschen Bank teilten in einer Analyse mit, nötig sei nun eine „aggressive Straffung der Geldpolitik – je früher, desto besser – und ein starkes verbales Engagement der Zentralbank und Regierung, um den Inflationsdruck zu verringern“. Sie monierten stark geschmolzene Devisenrücklagen und das andauernd hohe Leistungsbilanzdefizit der Türkei. Nach Schätzungen von Banken hat die Türkei allein in diesem Jahr ungefähr 100 Milliarden Dollar ausgegeben, um sich gegen die Abwertung der Lira zu stemmen.

Wirklich unabhängig?

Gunter Deuber, Chefanalyst der Raiffeisenbank International wertet den Rücktritt Albayraks gegenüber der F.A.Z. positiv. Das erleichtere eine finanzpolitische Neuausrichtung. Albayrak habe „eher den Fokus auf die politische Wirtschaftspolitik als wirtschaftspolitischer Rationalität“ gehabt.

Unlängst hatte er die Lira-Schwäche mit der Corona-Krise und der amerikanischen Wahl begründet. Dass das Argument falsch ist, zeigt die Tatsache, dass die Lira im Vergleich mit anderen Schwellenländerwährungen in diesem Jahr am schlechtesten abschnitt, andere Währungen gegenüber dem zuletzt schwachen Dollar sogar aufwerteten.

Vielfach wurden jedoch auch Zweifel an der Unabhängigkeit des neuen Zentralbankchefs geäußert. Beispielhaft schreibt Commerzbank-Analyst Tatha Ghose: „Mit der Entlassung Uysals ist nun hinreichend belegt, dass wir es mit einem grundsätzlichen Problem zu tun haben. Erdogan hat den Zentralbankgouverneur gefeuert, den er erst letztes Jahr ernannt hatte. Und er hat ihn genau dann entlassen, als dieser gerade begann, die Zinsen zu erhöhen.“

Agbals Ernennung deutet darauf hin, dass Erdogan die Zentralbank „direkt, ohne Zwischenmänner, mit einer immer kleiner werdenden Gruppe von engen Anhängern unter Kontrolle halten möchte“. Erdogan hatte Albayrak, den früheren Energieminister, im Juli 2018 als Finanzminister ins Kabinett geholt, nachdem die Türkei als Folge des Putschversuchs 2016 ihr politisches System von einem parlamentarischen in ein Präsidialsystem umgestellt hatte.

Die türkische Wirtschaft steckt seit Längerem in der Krise. In den vergangenen Tagen hatte die türkische Lira besonders rasant an Wert verloren und am Freitag im Handel mit Euro und Dollar abermals ein Rekordtief erreicht. Für einen Dollar mussten zeitweise 8,576 Lira gezahlt werden – das sind rund 49 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Ein Euro kostete zuletzt zeitweise fast 10,18 Lira. Das entspricht einem Plus von rund 60 Prozent binnen Jahresfrist.

Erdogan hatte die von Fachleuten verlangten Zinserhöhungen zur Bekämpfung der 12 Prozent betragenden Inflation immer abgelehnt. Den Vorgänger Uysals hatte er im Juli 2019 hinausgeworfen, weil dieser den Leitzins auf 24 Prozent noch oben gesetzt hatte. Uysal hatte ihn dann bis auf 8,25 Prozent gesenkt, zuletzt aber wieder auf 10,15 Prozent angehoben. Noch vor einer Woche hatte Erdogan gesagt, das Land befinde sich in einem „Wirtschaftskrieg“. Er sprach von einem „Teufelsdreieck“ bestehend aus Zinssätzen, Wechselkurs und Inflation.

Das ist nicht er einzige „Krieg“, den das Land führt. Militärisch ist die Türkei in Syrien, in Libyen und – indirekt – im Kaukasus engagiert. Politisch Zerwürfnisse mit Amerika, dessen gewählter Präsident Joe Biden als Kritiker Ankaras gilt, sowie immer neue Streitigkeiten mit der EU über Rechts- und Religionsfragen oder Wirtschaftsthemen wie die Gassuche in von anderen Ländern für sich reklamierten Gebieten im Mittelmeer, belasten auch die wirtschafts- und finanzpolitischen Beziehungen.