MESOPOTAMIA NEWS : KRAUTREPORTER – „DIE LETZTEN STUNDEN VON AFRIN“ / DIE PRO ASSAD BINDUNGEN DER PYD/PKK (YPG)

  • Ein unabhängiger Augenzeugenreport – von Lars Hauch und Pawel Pieniazek

Wie Afrin kampflos an die Türkei fiel  – 20. April 2018

Auf der Suche nach glaubwürdigen Informationen über den Kampf um das syrisch-kurdische Afrin hat unser Autor Lars Hauch in den vergangenen Monaten eng mit dem polnischen Journalisten Pawel Pieniazek zusammengearbeitet. Pieniazek ist als Kriegsberichterstatter vor Ort. Er erlebte den türkischen Angriff auf die Stadt unmittelbar mit. Gemeinsam haben sie diesen Text geschrieben, der aus Pieniazeks Perspektive vom Machtpoker der Großmächte in Syrien erzählt.

Während die Granaten der türkischen Artillerie immer näherkommen, tanzen die Menschen. Sie haben Feuer entzündet und beschwören in Sprechchören den Widerstand gegen die vorrückende türkische Armee und die mit ihr verbündeten syrischen Rebellen. Sie sind Anhänger der YPG, einer kurdischen Miliz, die in der syrischen Region Afrin den Ton angibt. Sie sagen: „Wir sind menschliche Schutzschilde.“

Doch als am 18. März die türkischen Panzer durch Afrins Innenstadt rollen und syrische Rebellen die Geschäfte und Wohnhäuser plündern, kämpft niemand „bis zum letzten Tropfen Blut“. Afrin fällt kampflos, die Türkei beherrscht nun Syriens Nordwesten.

Was passierte in dieser einen Woche in Afrin wirklich? Warum kämpfte niemand? Ich war in der Stadt, als die ersten türkischen Granaten fielen, als der Belagerungsring zugezogen wurde. Ich floh mit kurdischen YPG-Einheiten, als die Panzer schließlich kamen. Das ist mein Bericht.

Wie ich nach Afrin gelangt bin

Nachdem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Mitte Januar den Beginn der sogenannten Operation Olivenzweig erklärt hatte, wollte ich nach Afrin reisen. Zuvor hatte ich aus den anderen Teilen „Rojavas“ berichtet. So nennen die Kurden die von ihnen kontrollierten Gebiete im Norden Syriens. Afrin liegt ganz im Nordwesten des Landes, isoliert von den übrigen Teilen Rojavas. Um dorthin zu gelangen, brauchte ich die Erlaubnis der YPG-Miliz – doch die verbot Journalisten anfangs die Reise. Schließlich durfte ich doch fahren. Ich war Teil eines Konvois von etwa 50 Fahrzeugen, der Unterstützer der YPG-Miliz aus allen Teilen Rojavas nach Afrin transportierte.

Unser Weg führte uns durch Gebiete, die das Assad-Regime kontrolliert. Bei unserem ersten Halt an einem Checkpoint stieg ein Soldat in unseren Bus. Er eskortierte uns bis nach Afrin und achtete darauf, dass niemand den Bus verließ.

Das Verhältnis zwischen dem Assad-Regime und der YPG-Miliz ist kompliziert. Im Frühjahr 2012 zog sich zwar die syrische Armee aus Nordsyrien zurück und überließ der kurdischen YPG-Miliz das Feld. Im Gegenzug beteiligte sich die YPG wiederum nicht am Aufstand gegen das Assad-Regime. Verbündete sind die beiden Parteien aber dennoch nicht.

Jahrelang unterdrückte die syrische Regierung die Kurden. Andererseits unterstützte sie sie auch in den 1990er Jahren. Damals kämpften die Milizen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gegen den türkischen Staat, der brutal gegen die kurdische Bevölkerung in der Türkei vorging. Die syrische Regierung bot tausenden PKK-Kämpfern einen sicheren Rückzugsraum im Norden des Landes.

Aus genau diesen PKK-Kämpfern ist die heutige YPG-Miliz hervorgegangen. Noch heute haben sie Verbindungen zum Assad-Regime. Für Präsident Baschar al-Assad wiederum hat die Kurdenfrage keinerlei Priorität, da er im Moment noch mit unzähligen Rebellengruppen kämpfen muss. Diese etwas verworrene Geschichte hatte für die Bürger Afrins eine sehr erfreuliche Folge: Sie waren von Luftangriffen des Regimes verschont geblieben.

Afrin liegt im wohl schönsten Teil von Rojava. Die Landschaft ist – anders als die Wüsten im Osten – bergig und grün. Hügelketten mit scheinbar endlosen Olivenhainen umringen die Stadt. Das Leben in Afrin nahm trotz des sich zuspitzenden Konflikts seinen Lauf. Die unzähligen Cafés und Restaurants in den Straßen waren gut besucht, die Regale in den Supermärkten voll. Nur hin und wieder blickte jemand in den Himmel, wenn Flugzeuglärm zu hören war.

Aber die belebten Straßen konnten Anfang März nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Alltag der Menschen in Afrin von Sorge bestimmt war. Alle, mit denen ich mich länger unterhielt, hatten Angst vor dem Krieg, sie fragten sich, was aus ihren Häusern und Familien werden würde, wenn die türkische Armee anrückt. Aber die meisten rechneten mit einem erfolgreichen Widerstand der YPG gegen die türkische Offensive.

Denn die YPG hatte innerhalb der letzten Jahre umfangreiche Verteidigungsstellungen errichtet. Die Gräben, die die gepanzerten Fahrzeuge von Invasoren aufhalten sollten, waren mehrere Meter breit und tief. In den Bergen rund um Afrin hatte die YPG zahlreiche Bunkeranlagen gebaut. Tausende Kämpfer der Kurdenmiliz hielten sich in der Stadt auf und demonstrierten Stärke. Und eine Flucht in Gebiete des Assad-Regimes kommt für die meisten Männer sowieso nicht infrage. Sie müssen fürchten, dann ins Militär eingezogen zu werden.

Während ich diese Gespräche führte, erlitt die YPG im Umland von Afrin Niederlage um Niederlage.

https://krautreporter.de/2437-wie-afrin-kampflos-an-die-turkei-fiel