MESOPOTAMIA NEWS KOMMENTAR : LASST MACRONS SPITZENKANDIDATIN VON DER LEYEN DURCHFALLEN – PRO EUROPA

Heinrich August Winkler lehnt das Projekt Spitzenkandidatur für Europa als Irrweg ab

Mehr Europa darf nicht weniger Demokratie bedeuten. Wer mehr Europa und mehr Demokratie will, sollte zuallererst die europapolitische Verantwortung der nationalen Parlamente und ihre Zusammenarbeit stärken.

Heinrich August Winkler 15.7.2019, 05:30 Uhr NEUE ZÜRCHER ZEITUNG

 

Kann man von einer demokratischen Wahl sprechen, wenn diese zwar frei, geheim und unmittelbar, aber nicht gleich ist? Viele deutsche Politiker und Journalisten bejahen diese Frage zwar nicht direkt, aber indirekt tun sie es sehr wohl, wenn sie vom Europäischen Parlament so sprechen, als sei es aus einer gleichen Wahl hervorgegangen. Sie stellen das Strassburger Parlament als legitime Verkörperung des europäischen Volkswillens dar und halten den im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regierungschefs eine Verletzung von Grundprinzipien der Demokratie vor. Begründet wird dieser Vorwurf damit, dass der Europäische Rat dem Europäischen Parlament eine deutsche Politikerin zur Wahl als Präsidentin der Europäischen Kommission vorgeschlagen hat, die sich zuvor nicht als Spitzenkandidatin ihrer Parteienfamilie um dieses Amt beworben hatte: Ursula von der Leyen.

In besonders markanten Worten hat Stefan Ulrich dieser Auffassung Ausdruck verliehen («Süddeutsche Zeitung», 4. 7. 19). Er appelliert an die Abgeordneten des Europäischen Parlaments, den «Angriff auf die Demokratisierung der EU zurückzuschlagen» und von der Leyen durchfallen zu lassen. Ein solches Vorgehen werde die Europäische Union zwar in einen schweren Machtkampf stürzen. «Aber da muss Europa durch. Nur eine wirklich demokratische Union, in der die Bürger das entscheidende Wort sprechen und das Parlament das Machtzentrum ist, kann aus künftig 27 Staaten mit egoistischen Regierungen eine Einheit formen (. . .). Deshalb muss das Parlament jetzt den Aufstand wagen.»

Ungleiches Wahlrecht

Wäre das Europäische Parlament wirklich eine aus freien und gleichen Wahlen hervorgegangene Volksvertretung, müsste es so handeln, wie Ulrich es fordert. Aber das Wahlrecht, nach dem dieses Parlament gewählt wird, ist nicht gleich und kann nicht gleich sein. Vielmehr wiegt die Stimme des Bürgers eines kleinen Mitgliedslandes aus guten, ja zwingenden Gründen zehn bis zwölf Mal so viel wie die eines grossen. Wäre es anders, wären die kleinen Staaten entweder gar nicht im Strassburger Parlament vertreten, oder dem Hohen Haus müssten mehrere tausend Abgeordnete angehören, so dass es nicht arbeitsfähig wäre.

Der Machtanspruch, der mit dem Prinzip der Spitzenkandidatur verbunden ist, lässt sich demokratietheoretisch nicht begründen.

Durch das ungleiche Wahlrecht wird die Funktionsfähigkeit des Parlaments gesichert, aber es fehlt ihm an demokratischer Legitimation. Weil dem so ist, sind die Rechte des Europäischen Parlaments notwendigerweise beschränkt. Es übt umfassende Kontrollrechte gegenüber der Kommission aus und hat einen massgeblichen Anteil an der Gesetzgebung. Aber es überschreitet seine vertraglich festgelegten Kompetenzen, wenn es dieselben Rechte für sich beansprucht wie der Deutsche Bundestag oder ein anderes aus gleichen Wahlen hervorgegangenes nationales Parlament. Das aber tut das Europäische Parlament, wenn es darauf besteht, den Kommissionschef faktisch im Alleingang zu bestimmen.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon vom 30. Juni 2009 alles Nötige dazu gesagt. Zehn Jahre später spielt dieses Urteil im Denken der meisten deutschen Politiker keine Rolle mehr; es wird nachgerade im psychologischen Sinn des Wortes «verdrängt». Mit Blick auf die deutschen Medien, die öffentlichrechtlichen Rundfunk- und Fernsehsender eingeschlossen, gilt dasselbe.

Im Europäischen Parlament sind vor allem deutsche Abgeordnete Rufer im Streit, wenn es um die Erweiterung der Parlamentsrechte bis hin zur vollen Parlamentarisierung der EU geht. Sie wollen, ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht, die EU nach dem Vorbild der Bundesrepublik Deutschland zu einem parlamentarisch verfassten Bundesstaat weiterentwickeln: eine revolutionäre Machtverlagerung von den nationalen, demokratisch legitimierten Parlamenten und Regierungen auf die demokratisch weniger legitimierte Europäische Union. Sie verhalten sich dabei so, als hätten sie hierfür ein demokratisches Mandat. Das aber hätten sie nur, wenn das Europäische Parlament aus gleichen Wahlen hervorgegangen wäre.

Der in andere Sprachen als Fremdwort übernommene Begriff «Spitzenkandidatur» verweist auf den deutschen Ursprung des Projekts. In keinem anderen Mitgliedsland der Europäischen Gemeinschaft war der Wunsch, den eigenen Staat in einem europäischen Bundesstaat aufgehen zu lassen, so stark wie in der alten Bundesrepublik. 1976 nannte der Bonner Zeithistoriker Karl Dietrich Bracher die Bundesrepublik erstmals eine «postnationale Demokratie unter Nationalstaaten»: ein Begriff, der in den 1980er Jahren Karriere zu machen begann. Auf das wiedervereinigte Deutschland trifft dieser Begriff nicht (mehr) zu. Das postnationale Denken aber ist nirgendwo so lebendig wie im Westen des Landes, das vor einem Dreivierteljahrhundert seinen ersten Nationalstaat auf katastrophale Weise zugrunde gerichtet hat. Der deutsche Europa-Diskurs vom Sommer 2019 ist auch vor diesem Hintergrund zu sehen.

Politische Grenzen

Das ungleiche Wahlrecht, auf dessen Grundlage das Europaparlament gewählt wird, setzt ihm politische Grenzen. Der Machtanspruch, der mit dem Prinzip der Spitzenkandidatur verbunden ist, lässt sich demokratietheoretisch nicht begründen. Dagegen können sich die Staats- und Regierungschefs auf ein demokratisches Mandat berufen: der französische Staatspräsident auf ein unmittelbares quasiplebiszitäres, die anderen Mitglieder des Europäischen Rates auf ein mittelbares, das auf dem Willen von Parlamenten beruht, die aus gleichen Wahlen hervorgegangen sind. Darauf stützt das Bundesverfassungsgericht seine Feststellung, dass den nationalen Parlamenten eine dauerhafte Integrationsverantwortung zukommt. Dem Europäischen Parlament hingegen fehlt die spezifisch demokratische Legitimation, die sich aus der Beachtung des Prinzips der Gleichwertigkeit jeder Stimme ergibt. Es ist deshalb laut Karlsruher Urteil zum Lissabon-Vertrag «kein Repräsentationsorgan eines souveränen europäischen Volkes».

Dieses europäische Volk gibt es nicht. Auch nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ist die EU ein Staatenverbund. Ihre demokratische Legitimation ist lediglich eine abgeleitete, durch die Mitgliedstaaten vermittelte. Eine Vollparlamentarisierung der EU durch ständige Erweiterung der Rechte des Europäischen Parlaments würde deshalb nach dem Urteil des früheren Bundesverfassungsrichters Dieter Grimm das Demokratiedefizit des Staatenverbundes nicht beseitigen, sondern verstärken.

Die Missachtung des Gleichheitsprinzips durch die Verfechter der Parlamentarisierung der Kommissionsspitze – und darum geht es beim Prinzip Spitzenkandidatur – ist evident und eklatant. Demokratisches Pathos kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der «esprit de corps», den Abgeordnete des Europäischen Parlaments früher oder später zu entwickeln pflegen, interessengeleitet ist. Das Parlament erhebt einen Machtanspruch, der ihm auf der Basis des Vertrags von Lissabon nicht zusteht. Nach dem Vertrag über die EU kann das Europäische Parlament einen Vorschlag des Europäischen Rats zur Wahl des Kommissionspräsidenten ablehnen, aber es hat in dieser Frage kein Alleinbestimmungsrecht. Der Europäische Rat muss bei seinem Vorschlag das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament berücksichtigen; dieses aber kann den Staats- und Regierungschefs nicht vorschreiben, wen sie vorzuschlagen haben.

Eine ständige Erweiterung der Rechte des Europäischen Parlaments würde nach dem Urteil des früheren Bundesverfassungsrichters Dieter Grimm das Demokratiedefizit des Staatenverbundes nicht beseitigen, sondern verstärken.

Als 2014 das Prinzip Spitzenkandidatur erstmals praktiziert wurde, war die Position des Europäischen Parlaments stark, weil sich die beiden aussichtsreichsten Spitzenkandidaten, der luxemburgische Christlichdemokrat Jean-Claude Juncker und der deutsche Sozialdemokrat Martin Schulz, darauf verständigt hatten, dass der erfolgreichste Kandidat Präsident der Kommission wird und der andere eine andere Spitzenposition erhält. Zudem verfügten die beiden stärksten Fraktionen zusammen über eine parlamentarische Mehrheit. 2019 ist weder das eine noch das andere der Fall. Es gab kein entsprechendes Arrangement der Bewerber, und es gibt keine Mehrheit für einen der Spitzenkandidaten. Wenn das Europäische Parlament in einer solchen Situation den Vorschlag des Europäischen Rats um des Prinzips Spitzenkandidatur willen ablehnen sollte, wäre das verantwortungslos. Das Strassburger Parlament würde damit einen Institutionenkonflikt provozieren, aus dem es nur als Verlierer hervorgehen kann. Der Europäischen Union insgesamt würde dadurch schwerer Schaden zugefügt.

Rolle der Direktwahl

Hat Helmut Schmidt, der Bundeskanzler der Jahre 1974 bis 1982, einen Fehler gemacht, als er 1976 im Europäischen Rat massiv darauf drängte, das Europäische Parlament künftig nicht mehr mit Vertretern der nationalen Parlamente zu beschicken, sondern direkt zu wählen und ihm damit eine stärkere Legitimation zu verschaffen? Ohne die seit 1979 praktizierte Direktwahl wäre das Agieren des Strassburger Parlaments im Sommer 2019 jedenfalls nicht vorstellbar. Unter Berufung auf ebendieses direkte Mandat, den Auftrag von 200 Millionen Menschen, nannte der Spitzenkandidat der EVP, Manfred Weber, Ende Juni in einem Zeitungsartikel die Europawahl von 2019 ein «grosses demokratisches Fest». Den Staats- und Regierungschefs warf er vor, sie seien zurück auf dem Weg «zur Entscheidungsfindung in Hinterzimmern». In einem Interview mit dem «Heute-Journal» des ZDF stellte er dem gouvernementalen Europa ein von den Strassburger Abgeordneten repräsentiertes Europa entgegen, «das den Menschen gehört». Das Europa der Menschen gegen das Europa der gouvernementalen Hinterzimmer: Plakativer lässt sich der Machtanspruch des Europäischen Parlaments beziehungsweise seiner stärksten Fraktion nicht formulieren.

Die Befürworter des Prinzips Spitzenkandidatur sagen vermutlich nicht bewusst die Unwahrheit, wenn sie sich auf den demokratischen Willen des Volkes berufen oder gar, wie der stellvertretende Vorsitzende der EVP-Fraktion, der Spanier Esteban González Pons, vom europäischen Volk sprechen. Sie glauben offenkundig, was sie sagen und schreiben. Um einer vermeintlich guten Sache willen leugnen sie alles, was ihnen nicht ins Konzept passt – ein Konzept, das das Produkt eines falschen Bewusstseins ist.

Im Europawahlkampf von 2019 haben die Spitzenkandidaten nur in den Heimatländern der beiden aussichtsreichsten Spitzenkandidaten, des deutschen Christlichdemokraten Manfred Weber und des niederländischen Sozialdemokraten Frans Timmermans, eine herausgehobene Rolle gespielt – und auch dort nur für die jeweilige Partei des Bewerbers. Sonst standen wie bei früheren Europawahlen innenpolitische Themen im Vordergrund. Dass die Wahlbeteiligung gegenüber 2014 stieg, lag nicht am Modell der Spitzenkandidaturen oder an den Personen der Spitzenkandidaten. Vielmehr trieb viele Wähler die berechtigte Sorge um, die radikale Rechte könne weiter an Boden gewinnen. Viele wollten etwas für einen verbesserten Schutz der Umwelt tun, wieder andere die negativen Folgen des Brexits begrenzen. Im Nachhinein aus der Wahl ein Plebiszit für das Prinzip Spitzenkandidatur zu machen, heisst, die Tatsachen im Sinn der eigenen Prämissen zurechtzubiegen.

Nirgendwo war die phraseologische Überhöhung des Themas «Europa» im Frühjahr und Sommer 2019 so augenfällig wie in Deutschland. Die demokratischen Parteien haben durch den Zwiespalt zwischen der Rhetorik und der Realität ihrer Europapolitik viel an Glaubwürdigkeit verloren. Sie traten und treten europapopulistisch auf und fördern dadurch den Nationalpopulismus in Gestalt der AfD. Die nationalistische Rechte kann sich ins Fäustchen lachen, wenn überzeugte Demokraten ein vordemokratisches Wahlrecht zur demokratischen Errungenschaft erklären. Die deutschen Sozialdemokraten waren im Kaiserreich vor 1918 die entschiedensten Vorkämpfer einer Abschaffung des zutiefst undemokratischen preussischen Dreiklassenwahlrechts und seiner Ersetzung durch das allgemeine gleiche Wahlrecht. Halten sie heute krasse Abweichungen vom Gleichheitsprinzip wie beim Europawahlrecht für demokratiekonform?

Tiefe Interessengegensätze

Die EU ist ein heterogenes, von tiefen Interessengegensätzen geprägtes Gebilde, das zusammenzuhalten sich zunehmend als schwierig erweist. Wenn es um die Besetzung von Spitzenpositionen geht, gilt es, legitime Interessen von Parteienfamilien, Grossregionen und Staaten auszubalancieren und eine ausgewogene Verteilung der Funktionen an Frauen und Männer im Blick zu behalten. Auch deswegen kann das Europäische Parlament den Kommissionspräsidenten nicht im Alleingang bestimmen.

Um die normativen Grundlagen des Vertrags von Lissabon zu verteidigen, bedarf es einer möglichst engen Zusammenarbeit der rechtsstaatstreuen Demokratien.

Die meisten Staats- und Regierungschefs der EU haben sich nach den Europawahlen um Kompromisse bemüht. Kompromissbereitschaft gehört zum Wesen der Demokratie. Wenn das Europäische Parlament dem Europäischen Rat Hinterzimmerintrigen vorwirft, ist das aberwitzig – und ein weiterer Beitrag zum Glaubwürdigkeitsverlust der demokratischen Parteien.

Während der jüngsten Beratungen im Europäischen Rat ist deutlich geworden, dass sich dort eine für die EU hochgefährliche Allianz herausgebildet hat: ein Block, bestehend aus den vier Visegrad-Staaten, Tschechien, der Slowakei und den beiden «illiberalen Demokratien» Ungarn und Polen, sowie dem von Populisten regierten Italien. Es ist diese Staatengruppe, von der eine existenzielle Bedrohung des Anspruchs der EU, eine Wertegemeinschaft zu sein, ausgeht.

Um die normativen Grundlagen des Vertrags von Lissabon, obenan die Rechtsstaatlichkeit, zu verteidigen, bedarf es einer möglichst engen Zusammenarbeit der rechtsstaatstreuen, im weitesten Sinn liberalen Demokratien. Auf dieses Ziel sollten sich die Freunde Europas konzentrieren, anstatt postnationalen Utopien nachzujagen. Mehr Europa um den Preis von weniger Demokratie: Darauf läuft, allen Beschwörungen der Demokratie zum Trotz, das Projekt Spitzenkandidatur hinaus. Es ist an der Zeit, sich von diesem gefährlichen, vorwiegend deutschen Irrweg abzuwenden. Wer mehr Europa und mehr Demokratie will, sollte zuallererst die europapolitische Verantwortung der nationalen Parlamente und ihre Zusammenarbeit stärken. Sie könnten so zu wirklichen Partnern des Europäischen Parlaments werden.

Heinrich August Winkler ist renommierter deutscher Historiker und Publizist; im September erscheint sein neuestes Buch «Werte und Mächte. Eine Geschichte der westlichen Welt» im Verlag C. H. Beck, München.