MESOPOTAMIA NEWS Kommentar: Die Vernunft ist auf dem Rückzug – deshalb müssen wir ehrlich über die Schattenseiten der Globalisierung reden

Der internationale Austausch von Waren und Menschen lief lange wie gedopt: immer schneller, immer mehr. Das hat die Wähler ermüdet. Nun wehren sie sich. Hat die Globalisierung ihren Zenit überschritten?

Eric Gujer – NEUE ZÜRCHER ZEITUNG – 9.8.2019, 05:00 Uhr

Wer nach Belegen dafür sucht, dass Deutschland verunsichert und dünnhäutig ist, wird in diesen Tagen schnell fündig. Die tödliche Attacke auf ein achtjähriges Kind am Hauptbahnhof Frankfurt und die archaische Hetzjagd mit einem Schwert in Stuttgart gehören ebenso dazu wie der Hass in den sozialen Netzwerken oder die verdruckste Weise, in der die öffentlichrechtlichen Sender über die ausländische Herkunft der beiden Täter berichteten. Das Land wirkt erschöpft, als sehne es sich nach jenen ruhigeren Zeiten, in denen die Migration beschwiegen wurde und die Öffentlichkeit noch nicht jede Debatte sogleich in ein Schlachtfeld voller Hysterie und Übertreibungen verwandelte.

Dieser Befund gilt nicht nur für Deutschland. Wenn es einen Gradmesser für die gesamteuropäische Befindlichkeit gibt, sind es die Wahlen für das EU-Parlament. Betrachtet man die sechs Gründungsmitglieder der Union, stellt man Bemerkenswertes fest.

Nirgends erhielten Rechtspopulisten so viel Zuspruch wie in Deutschland, Frankreich, Italien und den Benelux-Ländern. Selbst in Osteuropa, dem angeblichen Hort des Autoritarismus, stimmten prozentual weniger Wähler für Parteien, die sich in den Rechtsaussen-Fraktionen Identität und Demokratie (ID) sowie Europäische Konservative und Reformer (EKR) zusammentun.

«Die Verunsicherung reicht tiefer und lässt sich nicht mit der Ausgrenzung einzelner Parteien aus der Welt schaffen.»

Ausgerechnet das karolingische Kerneuropa, das sich gerne als Vorbild für den Kontinent sieht, ist aus dem Tritt geraten. Für Deutschland heisst dies, dass die neue Gereiztheit vermutlich auch ohne die Flüchtlingswelle 2015 eingetreten wäre. Diese war bloss der Katalysator, der eine latente Stimmung virulent werden liess. Das heisst aber auch, dass die Bundesrepublik ihren Seelenfrieden nicht wiederfindet, wenn die Aufrechten und Anständigen die AfD nur hart genug bekämpfen. Die Partei profitiert von der Nervosität, aber sie ist nicht deren Ursache.

Die Verunsicherung reicht tiefer und lässt sich nicht mit der Ausgrenzung einzelner Parteien aus der Welt schaffen. Sie ist Teil einer Bewegung, die alle Industrieländer erfasst hat. Die Hyperglobalisierung schwächt sich ab, vielleicht endet sie sogar. Der wie mit Steroiden gedopte Austausch von Waren, Menschen und Ideen hat die Wähler erschöpft. Nun wehren sie sich.

Ein Indiz hierfür ist nicht nur Donald Trump, der gute Chancen auf eine Wiederwahl hat. Er rechtfertigt Protektionismus und Nationalismus zwar besonders flamboyant, aber er ist längst nicht der Einzige.

 

Die Entrüstung über Trump ist auch ein Ablenkungsmanöver

Die Initiative Global Trade Alert an der Universität St. Gallen trägt die handelshemmenden Massnahmen zusammen, die eifrige Bürokraten und alerte Lobbyisten aushecken. Seit der Finanzkrise nimmt der Protektionismus weltweit zu, auch in den Ländern des karolingischen Kerneuropa, die sich so gern als die letzten Verteidiger einer multilateralen Welt gegen den Darth Vader aus dem Weissen Haus aufspielen.

Es stimmt zwar, dass vorübergehend die meisten der neuen Barrieren und Blockaden auf das Konto von Amerika und China gingen, doch insgesamt tragen die übrigen G-20-Länder die Hauptverantwortung für diese Entwicklung. So gesehen, dient die Entrüstung über Trump und den Konflikt zwischen Washington und Peking auch als Ablenkungsmanöver, mit dem die anderen Akteure ihren eigenen Wirtschaftsnationalismus kaschieren.

Die Hyperglobalisierung hat anscheinend ihren Zenit überschritten, und vielerorts geht dies Hand in Hand mit dem Anstieg des Populismus. Michael O’Sullivan, Banker und Autor eines lesenswerten Buches zur Globalisierung («The Levelling»), zitiert aus Untersuchungen, wonach der Wähleranteil der Populisten in den Industriestaaten ein Niveau wie nach 1930 angenommen hat.

 

Natürlich steigen da Schreckensbilder eines Hitler oder Mussolini, von Hakenkreuzen und Rutenbündeln auf. Dennoch: Alarmismus ist nie ein guter Ratgeber. Zugleich reibt man sich die Augen, denn die Internationalisierung des Handels mehrt nachweislich den weltweiten Wohlstand.

 

Politik schlägt Wirtschaft

Die Globalisierung befreite Hunderte von Millionen Menschen in Asien aus tiefster Armut. Konsumenten in den USA, Deutschland oder der Schweiz freuen sich über die niedrigen Preise der in China hergestellten Waren. Die Einwanderung von Fachkräften dämpft die Auswirkungen des demografischen Wandels.

Viele Wähler gewichten die negativen Effekte allerdings höher: die Verlagerung von Arbeitsplätzen nach Osteuropa oder Asien, die Stagnation oder gar die Absenkung der Realeinkommen in der Mittelschicht der Industriestaaten oder die Migration aus Südamerika oder Afrika.

Diese Prioritätensetzung ist angesichts der Wohlstandseffekte irrational, doch schon einmal fand eine Hochblüte der Globalisierung aufgrund politischer Entwicklungen ein abruptes Ende. Der Ökonom John Maynard Keynes beschrieb, wie 1913 ein wohlhabender Einwohner von London in seinem Bett liegen und per Telefon alle Waren der Welt ordern konnte, woraufhin sie bequem an die Adresse des Bestellers in Kensington oder Belgravia geliefert wurden. Dann brach der Erste Weltkrieg aus, und nichts mehr war wie zuvor.

Obwohl überall der Warnruf hinsichtlich eines amerikanisch-chinesischen Handelskriegs erklingt, leben wir nicht in Kriegszeiten. Martialische Metaphern, eine permanente Zuspitzung der Sprache fördern die Analyse nicht. Aber die Veränderungen sind offensichtlich, ungewiss ist bloss deren Ausmass.

 

Eine politische Grundströmung kann ein Phänomen wie die Globalisierung erheblich beeinträchtigen – gerade weil es sich nicht nur um Einzelereignisse handelt wie die linksextremen und antikapitalistischen Aktionen vor einigen Jahren.

Wie man Politikverdrossenheit fördert

Die Globalisierungskritik ist heute diffuser, sie lässt sich nicht eindeutig verorten, und sie ist deshalb politisch ungleich wirkungsvoller. Die Klage über eine grenzenlose Migration ist «rechts»; der Unmut über den riesigen Niedriglohnsektor in Deutschland ist «links».

Viele Wähler sind in Sorge wegen der Einwanderung und besonders der Kriminalität, wie sie sich in der Silvesternacht 2015 am Kölner Hauptbahnhof manifestierte. Dieselben Wähler verstehen aber auch nicht, weshalb in einem so reichen Land wie der Bundesrepublik viele Menschen so schlecht verdienen.

Man kann darauf reagieren wie manche deutsche Sender mit Staatsgarantie und die Berichterstattung über die Taten von Frankfurt oder Stuttgart mal knapp halten, mal verweigern. So allerdings befördert man nur Verschwörungstheorien und Politikverdrossenheit und darf sich über die Erfolge der Populisten nicht wundern. Diese erzielen ihre guten Ergebnisse auch deshalb, weil sie Nichtwähler für sich gewinnen, die zuvor das «System» aufgegeben haben oder von diesem aufgegeben worden sind.

Die politische Mitte kann es sich auf Dauer nicht leisten, grosse Segmente der Gesellschaft rechts oder links liegenzulassen. Dazu gehört auch, dass sie sich ernsthaft bemüht, die Probleme zu lösen, statt Klientelpolitik zu betreiben und die Bürger mit Plattitüden wie dem Slogan «Guter Lohn für gute Arbeit» abzuspeisen. Im Fall der Geringverdiener heisst dies, dass die in Deutschland sehr hohe Abgabenlast bei regulären Beschäftigungsverhältnissen sinken müsste, was die in dieser Hinsicht privilegierten Minijobs weniger attraktiv machen würde. Ferner sollte die faktische Diskriminierung von Frauen durch das Steuerrecht (Ehegatten-Splitting) beendet werden, die diese in den Niedriglohnsektor drängt.

 

Alle pflegen ihre Tabus

Eine besonnene Politik bringt die Welle der Globalisierungskritik nicht zum Verebben, aber sie kann ihr vielleicht die Wucht nehmen. Überfällig ist ein wenig Ehrlichkeit bei der Tatsache, dass Warenverkehr und Migration heutzutage miteinander einhergehen. Liberale müssen daher der Versuchung widerstehen, «gute» gegen «schlechte» Globalisierung auszuspielen, also Freihandel gegen Einwanderung. Sozialdemokraten müssen sich fragen, wieweit sie um des parteitaktischen Vorteils willen mit der Kritik an internationalen Verträgen wie TTIP und dem EU-Rahmenabkommen den Protektionismus anfachen.

Die Mitte der Gesellschaft sollte diese Punkte endlich offen und ohne Tabus diskutieren. Die einen schweigen zu den negativen Folgen der Migration, die anderen zur wachsenden Ungleichheit bei Löhnen und Vermögen. Wenn das politische Zentrum die Debatte und die Themen Trump und seinen europäischen Pendants überlässt, hat es verloren. Aus der Welle wird dann ein Tsunami.