MESOPOTAMIA NEWS „je sublime“! : TRIBUT FÜR STEFAN GEORGE

(ENQUIRIES INTO THE SUBLIME AND THE BEAUTIFUL / EDMUND BURKE)

Stefan George : Der Dichter als Gedenkstörung / 150 Geburtstag –  Von Jürgen Kaube – 14.07.2018

Was passiert, wenn ein Lyriker sich die Phantasie an der Macht vorstellen kann? Nachbemerkungen zu Stefan George, der Doppeldeutigkeit von Faszination und einem abgesagten Festakt zum Geburtstag des Dichters.

Er war ein Exzess, ein Schauspieler, eine Sucht nach Schönheit, eine Gewalttat, eine Verführung, ein Karneval. Von Stefan George, der vor 150 Jahren nahe Bingen zwischen Rhein und Nahe geboren wurde, gibt es die schönsten Gedichte und die schrecklichsten, die missglücktesten Verse und die wundervollsten. Sein lyrisches Werk hat vielleicht mit dem Brechts die größte Amplitude unter den Dichtern deutscher Sprache. Er hat Worte dieser Sprache wiedererinnert oder alterfunden („umfahen“, „ergehren“, „bedäucht“) und zu ihr hinzugefügt („südenklare luft“, „fant“, „stillgebete“, „wellenauen“, „klangdraht“). Als Bub hat er sich eine ganze Geheimsprache ausgedacht, in die er sogar den ersten Gesang der „Odyssee“ übersetzt haben soll. Das merkwürdige, paradoxe Verlangen, über eine Sprache allein zu gebieten, hielt sich in seinem Werk.

Georges Gedichte sind auch darum, weil sie eine komplette Sprachwelt ausfüllen sollen, ja, weil sie nachgerade das Sprechen nachahmen, voll eigener Gesten, Farben, Geräusche. Sie sind unvergessliche Hörbilder: „Weisse kinder schleifen leis / Überm see auf blindem eis“. Sie sind antibürgerliche Appelle: „Nun weihe jede lust und jeden mord!“ Sie sind Trostgesänge: „Entflieht auf leichten kähnen berauschten sonnenwelten / daß immer mildre tränen euch eure flucht entgelten. / Seht diesen taumel blonder, lichtblauer traumgewalten / und trunkner wonnen sonder verzückung sich entfalten.“ Sie können hoch- und übermütig sein, wenn etwa der entlaufene Katholik 1893 ein Marienbildnis anredet: „Frau vom guten rat! / Wenn ich ohne sünde / Deine macht verkünde / Schenkst du mir worum ich lange bat?“ Sie enthalten hundertfach Posen angemaßter Herrschaft und Größenphantasien: „Ich bin der Eine und bin Beide / der zeuger und der schoss / Ich bin der degen und die scheide / Ich bin das opfer und der stoss“.

Stefan George ist der Fall eines Lyrikers, der sich die Phantasie an der Macht vorstellen konnte. „Es floh der fürst, der priester und der graf“ heißt es merkwürdig genug über einen Palast „im zauberschlaf“ (dessentwegen, also reimeshalber, auch noch ein Graf fliehen musste), um deutlich mitzuteilen, dass Paläste allein noch in den Besitz des Dichters gehören. Wenn sich alles als Fiktion erweist, wachsen Phantasten Herrscherqualitäten zu. Es war Herrschaft über Seelen. Denn „nur das lied ergreift die seele“. Das war falsch, denn auch Hassschriften, die Propaganda, das Kino und das Radio ergriffen die Seelen. Von Georges Lyrik ergriffene konnten sich leicht auch im Griff nicht nur des Gesanges, sondern auch des Sängers fühlen. Die Nachahmung einer von Dichtung nicht nur erreichbaren, sondern von Phantasie und Phantasmen beherrschten Welt durchzog Georges „Sänge“: eine Welt von Najaden, Zwergen, Elfen, Meerlandschaften, orientalischen Szenen, Tieren, Schlössern und Parks, ritterlichen Gesten und hohen Gefühlen war das eine. Zunehmend aber wurde sie in seinem Werk auch zu einer Welt der Anweisungen und Gebote an die Anhängerschaft, einer selbstgeschaffenen Religion mit Dichtung in liturgischer Funktion.

Ein zweideutiges Verhältnis

Mitunter sprechen Georges Gedichte ganz offen von dem kindlichen Spiel, das sich später als giftiges Bedürfnis nach Größe gezeigt hat: „Du schufst fernab in den niederungen / Im rätsel dichter büsche deinen staat / In ihrem düster ward dir vorgesungen / Die lust an fremder pracht und ferner tat. // Genossen die dein blick für dich entflammte / Bedachtest du mit sold und länderei / Sie glaubten deinen plänen, deinem amte / Und dass es süss für dich zu sterben sei.“

Als George wegen seiner betörenden Sprache Anhänger zugelaufen waren – meistens junge und mitunter sehr junge Männer gymnasialer Herkunft wie Gesinnung, die suchten, was er ihnen reichlich geben konnte: das Gefühl, auserwählt zu sein, Affekte gegen die eigenen Zeit, Befehle –, da nannten sie ihre erotisch-ästhetische Sekte tatsächlich einen „Staat“. Und sie dachten noch dann, das „geheime Deutschland“ zu repräsentieren, als viele von ihnen längst seinem Untergang zuarbeiteten. Der Vers von 1913 „die starken heute sind die gestern schönen“ gehörte nicht erst nach 1933 zu den unheimlichsten. Es ist viel geschrieben worden über diesen immer gravitätischer werdenden Propheten, der zwischendurch einen Vierzehnjährigen zum Gott erklärte, über das Männerbündische seines Kreises, den charismatischen Seelenzwang, den er auf ihn ausübte, und über die homoerotischen Aspekte seiner Wirksamkeit, über die „konservative Revolution“ und den Nationalsozialismus, zu dem George ein zweideutiges Verhältnis unterhielt. Zuletzt hat ein Beitrag zur Ideologie des „pädagogischen Eros“ und der sexuellen Lizenzen elitärer Gemeinschaften, die sich von der Jugendbewegung um 1900, die Reformpädagogik der Landerziehung über die Weltanschauungen des Dichterkreises und seiner selbsternannten Nachfolger bis hin zur Odenwaldschule zieht, für Wirbel gesorgt. Der Oberbürgermeister von Bingen, den man sich nicht als Leser Georges oder gar der Literatur über ihn vorstellen muss, hat daraufhin einen Festakt zum Geburtstag des Dichters abgesagt.

Faszination meint beides: Anziehung und Abgestoßensein

Die Stefan-George-Gesellschaft, die sich zu Recht über diesen kurzen Bingener Prozess mit vorgreifendem Schuldspruch erstaunt zeigte, machte ersatzweise die Vorwürfe gegen den Dichter und seine Adepten zum Thema einer kleinen Tagung. Die Germanisten Jan Andres und Kai Kauffmann rieten dabei zu einem besonnenen Vorgehen. Nur weil an der Odenwaldschule einst Kinder von Freunden des George-Kreises erzogen wurden, belegt das noch keinen Missbrauch und nicht einmal sexuelle Machtausübung durch den Lyriker. Allein deswegen, weil Verführung ein zentrales Element seines Lebens war und der „Stern des Bundes“ lyrische Apotheosen der Homoerotik enthält, werden Zwanzigjährige noch nicht zu Opfern und die jungen Stauffenbergs noch nicht zu Verführten. Belege für sexuellen Missbrauch im George-Kreis sind bislang jedenfalls nicht gefunden worden. Entsprechende Anklagen gegen seinen Amsterdamer Adepten Wolfgang Frommel, die sich ebenfalls nicht auf Minderjährige beziehen, schlagen nicht automatisch auf alle Bezirke dieses Sektenlebens durch. Homosexualität unter der Bedingungen ihrer Strafbarkeit und moralischen Ächtung, Päderastie, seelische Abhängigkeit und die Sexualisierung von Kunst, so Kai Kaufmann, müssten getrennt untersucht und behandelt werden.

Dass es umgekehrt auch Missbrauch von Volljährigen geben kann und es zur Beschreibung der vielen George-Kreise gehört, dass sie voller traumatischer Beziehungen, Drangsale und pathetischer Überhöhungen sexueller Not und Nötigungen waren, ist aber ebenfalls festzuhalten. Desgleichen, dass der „pädagogische Eros“ eine fatale Formel ist, weil Liebe in Erziehungszusammenhängen so nicht ins Griechische übersetzt werden kann, ohne dass die Tür für den Missbrauch dieser Zusammenhänge geöffnet wird. Und schließlich werden Gewalt, Qual und Flucht in die Schönheit in Georges Gedichten selbst nie zu überlesen sein. Faszination meint beides: Anziehung und Abgestoßensein.

Nichts als ein gewaltiges Schönheitsverlangen

 

Und das „geheime Deutschland“? Walter Benjamin hat in seinem „Rückblick auf Stefan George“ schon in dessen Todesjahr 1933 notiert, dass die „geistige Bewegung“, als die man sich in Staate Georgien empfand, der als ein Privatstaat und also ein Unding entworfen war, sich vor allem in den ausweglosen, tragischen Krämpfen des Konventikels äußerte. Die Ohnmacht im Politischen war privat folgenreich, weil das Private als politisch imaginiert wurde. Das hat Benjamin wie viele der klügsten Zeitgenossen nicht daran gehindert, den gewaltigen Protest zu erkennen, der sich in diesem Lyriker gegen das zeitgenössische Verhalten zu geistiger Produktion meldete. Kunst als Freizeitgestaltung, als Instrument mitzuteilen, was auch anders mitgeteilt werden könnte, als moralistisches oder politisches Daumendrücken – die großen Gedichte Georges zeigten, was stattdessen möglich ist.

Vor allem seine ersten Gedichtbände scheinen mit nichts anderem beschäftigt, als einem gewaltigen Schönheitsverlangen Form zu geben. Sie imaginieren ein Erleben, aus dem alles entfernt bleibt, was nicht kostbar ist, verzehrt, berauscht oder besänftigt. Die Verse „Im rasen rastend sollst du dich betäuben / An starkem urduft – ohne denkerstörung“ bezifferten dabei früh die Kosten dieses Erlebens. Erleben und handeln, so darf ein Satz Benjamins erweitert werden, kann man aus vorbehaltloser Bejahung heraus, denken nicht. Das zog dem Georges Wirkungswillen seine Grenzen, aber nicht seiner Imagination: „Meine weissen ara haben / safrangelbe kronen / Hinterm gitter wo sie wohnen / Nicken sie in schlanken ringen / Ohne ruf ohne sang / Schlummern lang / Breiten niemals ihre schwingen / Meine weissen ara träumen / Von den fernen dattelbäumen.“ Der Oberbürgermeister mag solche Zeilen lesen, um zu verstehen, wodurch Stefan George zum berühmtesten Kind der Stadt Bingen wurde.

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