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Hölderlin in Marbach : Wie still war meine Seele

Kuratoren auf Sinnlichkeits-Suche: Marbach widmet dem 250. Geburtstag Friedrich Hölderlins eine Ausstellung, die ganz auf Dichtersprache setzt. Geht das gut?

Die Postkarte erreichte Paul Celan nicht mehr, als er sich im April 1970 in Paris das Leben nahm. „Wir sind wieder einmal zu Hölderlin gegangen“, schreibt ihm am 24. April der Autor Johannes Poethen, „ich kannte diese (gute) Ausstellung noch nicht.“ Auf der Rückseite der Karte, die neben Poethens Unterschrift auch die Margarete Hannsmanns und Rose Ausländers trägt, ist das berühmte Porträt reproduziert, das Franz Karl Hiemer von dem Dichter schuf, ein Geschenk zur Hochzeit von Hölderlins Schwester Heinrike im Oktober 1792 – es fehlt „viel zur Aehnlichkeit“, urteilte sie.

Die Ausstellung, die Poethen besuchte, fand zu Hölderlins 200. Geburtstag im Schiller-Nationalmuseum in Marbach statt. Damals kam die seit Beginn des 20. Jahrhunderts gewachsene Hölderlin-Renaissance zu einer neuen Blüte, man diskutierte über Adornos Aufsatz „Parataxis“ zur späten Lyrik des schwäbischen Dichters ebenso wie über die 1969 erschienene Studie „Hölderlin und die Französische Revolution“ von Pierre Bertaux. In den anbrechenden Siebzigern sollte es eine Fülle von wissenschaftlichen, biographischen und vor allem künstlerischen Annäherungen geben, die einem größeren Publikum ganz unterschiedliche Zugänge zu Hölderlin anboten und dabei nicht selten eine Zeitgenossenschaft des Dichters betonten.

Zerlegt „Hälfte des Lebens“!

Ein halbes Jahrhundert später steht die Ausstellung „Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie“ zu Hölderlins 250. Geburtstag, die das Deutsche Literaturarchiv Marbach nun endlich im Literaturmuseum der Moderne eröffnet, nachdem sie coronabedingt vom März in den Mai verschoben werden musste, unter einem anderen Stern. Den vermeintlichen Revolutionär etwa wird man hier vermissen, wie überhaupt das Interesse an Hölderlins Biographie in dieser, von Heike Gfrereis mit Vera Hildenbrandt, Michael Woll und Sandra Richter kuratierten Schau nur sehr schwach ausgeprägt ist – diese Marbacher Ausstellung überlässt im Hölderlin-Jahr, ähnlich wie die ebenfalls von Heike Gfrereis kuratierte Fontane-Ausstellung in Neuruppin das im vergangenen Jahr getan hatte, die Beschäftigung mit dem Leben des Autors anderen Einrichtungen. Und so wie in Neuruppin ein Ausstellungsraum dem in seine Einzelteile zerlegten Anfang von „Effi Briest“ gewidmet war, so werden hier etwa die Vokale und Konsonanten in Hölderlins Lyrik gezählt und das Ergebnis auf Wandtafeln präsentiert.

Der Erkenntnisgewinn, den der Besucher daraus zieht, bemisst sich daran, wie sehr er mit der zugrundeliegenden Prämisse über die Beschaffenheit von Literatur übereinstimmt. Wie viel fehlt da zur „Aehnlichkeit“? Immerhin zeige, sagt Marbachs Direktorin Sandra Richter, die Analyse eine Häufung von Ausrufezeichen im Frühwerk, während es beim späten Hölderlin auf matte Kommata hinauslaufe, der leicht sichtbare Schwund an rhetorischem Pathos in den Werken aus der zweiten Lebenshälfte ließe sich demnach auch auf dieser formalen Ebene nachweisen.

Wie stellt man Literatur aus?

Der Frage jedenfalls, die so alt ist wie die Gattung der Literaturausstellungen, die nach der Sinnlichkeit des Erlebens, nach dem Unterschied zwischen der Lektüre zu Hause und dem Erleben in einem Museum, muss sich auch ein Konzept stellen, das so sehr aufs Dichterwort setzt und so wenig auf Porträtbilder oder andere Reliquien des Autors jenseits des Werks.

Hier beginnt das mit einer zweiteiligen Orgel, die Hölderlins wohl berühmtestem Gedicht gewidmet ist: „Hälfte des Lebens“ – die Beschäftigung mit ihm zieht sich durch die gesamte Ausstellung, die ihr vielfältiges methodisches Besteck an ihm erprobt. In diesem Raum lassen sich einzelne Worte oder auch nur Buchstaben mit Knöpfen auf der Rückseite des Geräts nach vorne schieben und zugleich zum Tönen bringen. Wählt man mehrere aus, überlagert sich der Gesang.

Dies immerhin darf noch umgesetzt werden, andere interaktive Elemente sind aus Sorge um die Gesundheit der Besucher vorerst stillgelegt. Das betrifft im nächsten Raum zum Beispiel die Lesungen einzelner Gedichte durch den Schauspieler und Autor Hanns Zischler, vorgesehen als Begleitung zu einer Reihe von ausgestellten Hölderlin-Handschriften, die von den lyrischen Anfängen bis zum Spätwerk reichen, darunter auch ein Entwurf zu „Hälfte des Lebens“. Für die eigene Lektüre werden sie von Transkriptionen und Erläuterungen zum Kontext begleitet, wer aber auf Zischlers Interpretation neugierig ist, muss sich schon sehr recken und wird trotzdem nur einzelne Silben erhaschen: Die kleinen Lautsprecher, umhüllt wie von Pappbechern, können nun nicht mehr ans Ohr geführt werden, sondern baumeln leise raunend ein ganzes Stück über den Köpfen der Besucher.

Waldorfschüler im Vorteil

Für das angestrebte sinnliche Erleben ist das nur der Auftakt. Das Herzstück spielt sich im selben Raum in fünf Abteilungen ab, von denen derzeit immerhin drei genutzt werden können. Der Besucher liest auf einem Bildschirm ein Hölderlin-Gedicht, was per Eyetracker registriert, in eine Lichtspur umgesetzt und auf eine Leinwand projiziert wird – je länger das Auge auf einem Wort verweilt, umso dicker ist die geschwungene Linie. Wer mag, kann in einer weiteren Station ein Gedicht mit Gesten interpretieren – Eurythmieerprobte Waldorfschüler dürften da im Vorteil sein. Zwei weitere Aktionen – das Vorlesen in ein Mikrofon und das Messen des Hautwiderstands beim Lesen – fielen Corona zum Opfer. 

Wem sonst als Dir: Hölderlins Widmung an Susette Gontard in seinem Roman „Hyperion“. : Bild: DLA-Marbach, www.dla-marbach.de

Es geht in diesem Versuchslabor der Empfindungen um die Frage, ob sich messen lässt, was Hölderlin-Lektüre in uns anrichtet, und am Ende dieser Abteilung soll der Besucher das noch in einer Art Multiple-Choice-Befragung für sich und andere sprachlich festhalten: Am Computer befragt, wie er „Hälfte des Lebens“ empfinde, kann er sich zwischen „wunderbar“, „langweilig“, „berührend“, „nicht gut“ und anderem mehr entscheiden, weitere Fragen zielen auf die Wirkung der wiederholten Begegnung mit dem Gedicht unter anderen Vorzeichen in der Ausstellung und schließlich darauf, welche dieser Begegnungen als am wichtigsten empfunden wurde. Spätere Literaturausstellungen könnten davon profitieren.

Um Begegnungen mit Hölderlin geht es auch in den restlichen Teilen der Ausstellung, vor allem in den wie Stolpersteine zwischen die Vitrinen der Archiv-Dauerausstellung geschobenen Tischchen, die Dokumente der Rezeption späterer Autoren enthalten, wobei ein Schwerpunkt auf Paul Celan liegt. Tatsächlich ist seine intensive und produktive Hinwendung zu Hölderlin gut dokumentiert und hier einleuchtend dargestellt. Ein weiterer Raum bettet Hölderlin dann in eine Reihe anderer schwäbischer Dichter ein, die er allerdings mühelos aussticht – mit dem Original des von Hölderlin an seine „Diotima“ Susette Gontard verschenkten „Hyperion“-Exemplars mit der so hilflosen wie anrührend trotzigen Widmung: „Wem sonst als Dir“.

Unwiderstehlich schön

Und dann steht man unvermittelt vor einer Handschrift, in der Hölderlin 1809, also bereits als unheilbar wahnsinnig eingestuft und im Tübinger Turm beim Schreinermeister Zimmer lebend, eine Ode beginnt, die Fragment bleibt und einen sprachlos hinterlässt, so unwiderstehlich schön ist der zwischen Hoffnung und Resignation wechselnde Ton: „Wenn aus der Ferne, da wir geschieden sind, / Ich dir noch kennbar bin“, so hebt das an, und: „So sage, wie erwartet die Freundin dich? / In jenen Gärten, da nach entsetzlicher / Und dunkler Zeit wir uns gefunden?“ Diotima ist nun seit Jahren tot, aber die Stimme, die hier erklingt, lässt nicht locker: „Das muß ich sagen, einiges Gutes war / In deinen Bliken, als in den Fernen du / Dich einmal fröhlich umgesehen / Immer verschlossener Mensch, mit finstrem / Aussehn. Wie flossen Stunden dahin, wie still / War meine Seele über der Wahrheit, daß / Ich so getrennt gewesen wäre?“

Wer fragt noch nach mehr Sinnlichkeit vor einem solchen Blatt? Vielleicht ist es ganz gut, wenn beim Lesen dieses Gedichts der Hautwiderstand gerade nicht gemessen wird.