MESOPOTAMIA NEWS : GENERALREPORT DES TÜRKISCHEN MENSCHENRECHTSVEREINS 2018

Anwälte unter Druck der Justiz   – Menschenrechtsverein (IHD), 01.06.2018

Der Beruf des Anwalts wurde im Gesetz über den Beruf des Anwalts Nr. 1136 folgendermaßen definiert:

„Der Beruf des Anwalts leistet einen Dienst an der Öffentlichkeit und ist ein selbständiger Beruf. Ein Anwalt vertritt unabhängig Verteidigung und ist damit verfassungsgebender Bestandteil der Rechtsprechung.“

Obwohl Verteidigung als eins der drei grundlegenden Elemente der Rechtsprechung gilt, gibt es eine große Zahl von Anwälten in der Türkei, die aufgrund ihrer beruflichen Aktivitäten und der Identität und der Handlungen ihrer Klienten verfolgt werden. Wie aus der beigefügten Liste der Verfahren gegen Anwälte zu entnehmen ist, werden viele wegen professioneller Aktivitäten verfolgt,

wie z.B. wegen der Tätigkeit als Verteidiger für Abdullah Öcalan, wegen der Tätigkeit als Anwalt für die allgemeine Opposition und das Volk, wegen des Besuchs von Gefangenen in Gefängnissen, die sich im Hungerstreik befanden, um ihren rechtlichen und gesundheitlichen Zustand festzustellen, wegen Teilnahme an Bestattungen und Autopsien von Klienten, denen Mitgliedschaft in einer Organisation vorgeworfen wird, wegen des Gebrauchs von ihrem Recht auf Versammlungsfreiheit und friedlichen Protest, wegen der Ausübung ihres Rechtes auf Meinungsfreiheit, indem sie den Staat an seine Mitschuld an Massakern durch Bombenangriffe erinnerten, verübt durch illegale bewaffnete Organisationen, wegen der Verteidigung der Rechte ihrer Klienten und Anteilnahme an deren Lage, die Folter und Misshandlung durch Vollzugsbeamte ausgesetzt waren, indem sie ihre festgenommenen Klienten an ihr Recht zu schweigen erinnerten, auf der Anwendung von Menschenrechten bestanden und vor allem gegen Straffreiheit kämpften. Diese Handlungen werden als Straftatbestände angesehen und Anwälte vor Gericht wegen Unterstützung von und Mitgliedschaft in bewaffneten Organisationen, erfasst in den Artikeln 220/6-7 und 314 /2-3 des Türkischen Strafgesetzbuches, sowie häufig wegen Propaganda für eine bewaffnete Organisation (Artikel 7 des Anti-Terror-Gesetzes), wobei man ihnen sogar vorwarf, dass solche Aktivitäten auf Veranlassung eben dieser Organisationen erfolgten.

Sonderberichterstatter der UN, befasst mit der Unabhängigkeit von Richtern und Anwälten, besuchten die Türkei zwischen dem 10. und 14. Oktober 2011. Ein vorläufiger Bericht wurde im Anschluss an diesen Besuch herausgegeben Die Empfehlungen, die in diesem Bericht ausgesprochen wurden, sind leider noch nicht umgesetzt worden, während die Situation sich im Zuge der Notstandsgesetze verschlechtert hat.

Im Jahresbericht von Front Line Defenders mit dem Titel „Menschenrechtsverteidiger im Jahre 2017 in Gefahr“ wurde festgestellt, dass zwar alle Menschenrechtsverteidiger in der Türkei ins Visier genommen wurden, dass aber im Jahre 20117 hauptsächlich Anwälte unter Druck gerieten.

Nach einer Feststellung des Menschenrechtsinstituts der Internationalen Vereinigung der Anwaltskammern (International Bar Association’s Human Rights Institute), herausgegeben am 24.Januar 2018, anlässlich des Tages des Gefährdeten Anwalts, waren 1.488 Anwälte Misshandlungen bis hin zur Folter ausgesetzt, 572 Anwälte wurden inhaftiert und 79 Anwälte wurden im Zuge der Notstandsgesetze in der Türkei mit einer Gefängnisstrafe belegt.

Neben richterlichem Druck können Anwälte auch in Lebensgefahr geraten wegen der Prozesse, die sie führen. So wurde der Vorstandsvorsitzende der Anwaltskammer in Diyarbakir und Anwalt Tahir Elçi, der Fälle von Tötungen durch unbekannte Angreifer verfolgte und die Polizei wegen Straflosigkeit anzeigte, was in der Türkei inzwischen zur Umgangskultur gehört, am 28.November 2015 in Diyarbakir ermordet, und nicht ein einziger Verdächtiger in den Akten des Staatsanwalts wurde in den zurückliegenden 2 ½ Jahren befragt. Viele Anwälte mussten die Türkei aufgrund des gerichtlichen Drucks und weil ihr Leben in Gefahr war verlassen. Während des Ausnahmezustands, der am 20.Juli 2016 in Kraft trat und 7 mal jeweils für weitere 3 Monate verlängert wurde, erhöhte sich der Druck auf Anwälte allmählich als Folge des Anwachsens unrechtmäßiger Ingewahrsamnahmen, Verhaftungen und Verletzungen des Rechts auf einen fairen Prozess.

Einschränkungen wurden dem Berufsstand des Anwalts auch durch zahlreiche Regierungserlässe im Zuge des Ausnahmezustands auferlegt.

Artikel 3 des Regierungserlasses 668 vom 27.Juli 2016 sieht die folgenden Maßnahmen vor:“ Das Recht eines Verhafteten auf Rücksprache mit einem Anwalt kann per Beschluss eines Staatsanwalts für die Dauer von 5 Tagen eingeschränkt werden. Während dieser Zeit können keine Aussagen entgegengenommen werden“. Obwohl in diesem Fall der zeitliche Rahmen per Regierungsdekret 676 vom 29.Oktober 2016 auf 24 Stunden reduziert wurde, wurde das Recht eines/einer Verdächtigen, sich unmittelbar mit seinem/ihrem Anwalt zu besprechen, eingeschränkt, was den Weg freimachte für das Risiko, nicht offizielle und illegale Aussagen von Verdächtigen zu erhalten.

Die Aussage „Maximal 3 Anwälte können bei einer Anhörung während eines Verfahrens wegen Taten im Rahmen organisierter Aktivitäten anwesend sein“ wurde in den Artikel 149 § 2 des Strafgesetzbuches unter der Nummer 5271 per Artikel 1 des Regierungsdekrets 676 aufgenommen. Damit wurde die Gültigkeit der Regelung, dass 3 Anwälte nur während der Ermittlungsphase anwesend sein können, ausgeweitet und das Recht auf einen fairen Prozess eingeschränkt.

Artikel 151 des Kodex 5271 wurde ebenfalls durch Artikel 2 des gleichen Regierungsdekretes entfernt. Der besagte Artikel regelt, dass Anwälte, die Klienten verteidigen, die wegen Gründung einer Organisation, um Straftaten zu verüben, eine bewaffnete Organisation zu gründen oder zu führen oder wegen terroristischer Straftaten inhaftiert oder verurteilt waren, für ein Jahr ihr Amt als Strafverteidiger nicht ausüben dürfen. Diese Maßnahme konnte zweimal für maximal 6 Monate ausgeweitet werden, sofern sie selbst (die Anwälte) wegen der gleichen Delikte vor Gericht standen.

In veränderter Form kann dieses Dekret sogar Anwälte von ihrer Tätigkeit als Strafverteidiger ausschließen, wenn es über sie eine Untersuchungsakte gibt oder während der Untersuchungsphase ihrer Klienten. Damit wird also die Unschuldsvermutung ignoriert.

Die Äußerung „Falls ein Verteidiger die Anhörung unentschuldigt verlässt, kann die Anhörung fortgesetzt werden“, wurde in den Artikel 188 § 1 des Kodex 5271 per Artikel 5 des gleichen Regierungsdekretes eingefügt. Damit wurde das Recht des Verdächtigen, jederzeit während des Verfahrens Zugang zu seinem Verteidiger zu haben, verbunden mit der Garantie, das Verfahren auszusetzen, falls der Verteidiger nicht anwesend ist, gestrichen, sofern es sich um Delikte handelt, die mindestens 5 Jahre Haft nach sich ziehen. Dieser Zusatz wurde erweitert durch das Regierungsdekret 696, der Passus „nicht an der Anhörung teilnehmen“ wurde ebenfalls eingefügt.

Das Regierungsdekret 667 vom 23.Juli 2016 hat Beamte ermächtigt, mit Hilfe technischer Hilfsmittel Ton- oder Videoaufzeichnungen von Beratungen von Häftlingen mit ihren Anwälten zu machen, bei Beratungen anwesend zu sein, um sie zu überwachen, Dokumente, die Anwälte und Häftlinge austauschen, zu inspizieren und zu konfiszieren, und Einschränkungen von Besuchstagen- und Zeiten zu veranlassen. Auch diese Regelungen für Häftlinge sind ebenfalls abgedeckt durch Regierungsdekret 696. Während für einen Anwalt vertrauliche Kommunikation mit seiner Klientin/seinem Klienten möglich sein sollte, hat die Tatsache, dass Behörden das Recht gegeben wurde, sogar Dokumente zu konfiszieren, das Recht auf Verteidigung eingeschränkt. Der Verwaltung werden weitreichende und unbegrenzte Befugnisse gegeben, was schließlich zu willkürlichen Praktiken führte. Anwaltsorganisationen wie der „Verein Progressiver Anwälte“(Ḉaǧdaş Hukukçular Derneǧi), der seit Jahren in der Türkei für Recht und Gerechtigkeit kämpft, sowie der „Verein von Anwälten für die Freiheit“ (Özgürlükçü Hukukçular Derneǧi) und der Anwaltsverein von Mesopotamien (Mezopotamya Hukukçular Derneǧi), die kürzlich aktiv waren, wurden per Regierungsdekret 677 vom 22.November 2016 geschlossen.

Der Vorstandsvorsitzende des geschlossenen Anwaltsvereins für Progressive Anwälte, Anwalt Selçuk Kozağaçh, ist immer noch im Silivri-Gefängnis in Istanbul inhaftiert. Der frühere Vorstandvorsitzende von Amnesty International Türkei, Anwalt Taner Kiliç, ist immer noch inhaftiert im Aliağa Şakran Gefängnis . Führungskräfte des Menschenrechtsvereins (IHD), die Anwälte Halil Ibrahim Vargün und Olcay Öztürk, sind ebenfalls immer noch im Gefängnis.

Wir möchten speziell darauf hinweisen, dass alle Themen, die im Bericht von Human Rights Watch über Druck, der auf Menschenrechtsverteidiger, den Menschenrechtsverein und seine Vertreter ausgeübt wird, behandelt werden, auch für Anwälte gelten.

Dennoch, bei allen strittigen Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Beruf des Anwalts, die Zielscheibe von Angriffen sind, geht es immer um die Notwendigkeit des Rechtes auf einen fairen Prozess und Verteidigung, wie im internationalen Recht vorgesehen.

  1. Die Artikel 6 bis 11 in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung sichern jedem gleichermaßen das Recht auf Schutz durch das Gesetz zu, das Recht auf einen fairen Prozess durch ein unabhängiges und unvoreingenommenes Gericht, das Recht auf wirksame Medikamente, auf alle notwendigen Garantien für seine/ihre Verteidigung und die Unschuldsvermutung bis zu einem Schuldspruch.
  2. Auch im Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention ist das Recht auf eine faire Verhandlung und eine entsprechende Verteidigung festgeschrieben.
  3. Die ersten 8 Artikel der Grundprinzipien der Rolle von Anwälten (Havanna Rules), die vom 8. UN Kongress über Verbrechensbekämpfung und die Behandlung von Straftätern in Havanna zwischen dem 27.August und dem 7.September 1990 angenommen wurden, regeln das Recht eines jeden Menschen, Zugang zu einem Anwalt und einer Rechtsberatung zu haben, in dringenden Fällen, falls der Klient inhaftiert ist, sowie auf vertrauliche Kommunikation zwischen Anwälten und dem Verdächtigen.

Wie in Artikel 14 vorgesehen, versuchen Anwälte Menschenrechte sowie die Gewährung fundamentaler Freiheiten, wie sie gemäß nationalem und internationalem Recht anerkannt sind, durchzusetzen, indem sie die Rechte ihrer Klienten schützen, die Gerechtigkeit

voranzubringen, frei und klug zu agieren in Übereinstimmung mit dem Gesetz und anerkannten Standards und ethischen Grundsätzen des Anwaltsberufes.

Was nun Artikel 18 angeht, sind Regierungen gehalten sicherzustellen, dass Anwälte alle ihre professionellen Aufgaben ohne Einschüchterung, Behinderungen, Belästigungen oder unangemessene Eingriffe wahrnehmen können, dass sie in der Lage sind zu reisen und sich mit ihren Klienten sowohl innerhalb des eigenen Landes als auch im Ausland frei zu unterhalten, dass Anwälte nicht leiden unter oder bedroht werden von Verfolgung oder administrativen, ökonomischen oder anderen Sanktionen, für Handlungen, die sie ergreifen müssen im Zusammenhang mit anerkannten professionellen Pflichten, Standards und ethischen Grundsätzen ihres Berufes. Gemäß Artikel 18 dürfen Anwälte nicht wegen ihrer Berufsausübung mit ihren Klienten oder deren Strafsache identifiziert werden.

Gemäß Artikel 18 haben insbesondere Anwälte das Recht, an öffentlichen Diskussionen teilzunehmen, insbesondere, wenn es um Rechtsangelegenheiten, die Verwaltung der Justiz, die Förderung und den Schutz der Menschenrechte angeht, sowie nationale, lokale oder internationale Organisationen zu initiieren oder ihnen anzugehören und ihre Treffen zu besuchen, ohne professionelle Einschränkungen befürchten zu müssen mit der Begründung , dass sie an gesetzlichen Aktionen teilgenommen haben oder Mitglied in einer gesetzlich erlaubten Organisation sind.

  1. Der erste Artikel der Empfehlung Nr.9, die freie Ausübung des Berufes Anwalt betreffend, bestimmt, dass alle notwendigen Maßnahmen getroffen werden sollten, um eine freie Ausübung des Anwaltsberufes ohne Diskriminierung sowie unangemessene Eingriffe der Behörden oder der Öffentlichkeit zu respektieren, zu schützen und zu fördern.
  2. Die Morelia Charta, die von der Internationalen Anwaltsvereinigung am 2.August 1991 angenommen wurde, hält fest, dass unter allen Umständen alle rechtlichen Berufe die Verpflichtung haben, eine aktive Rolle im System der Rechtshilfe zu spielen, diese gewissenhaft, rückhaltlos und mit absoluter Unabhängigkeit auszuführen, ungeachtet anderer Überlegungen, die nicht dem besten Interesse des Klienten dienen.
  3. Entsprechend den Turin Prinzipien, die am 27.Oktober 2002 von der Internationalen Anwaltsvereinigung haben Anwälte das Recht, ihren Beruf frei und unabhängig auszuüben, ohne Druck oder Diskriminierung irgendwelcher Art, wobei sie durch berufliche Immunität absolut geschützt sind. Anwälte haben die Pflicht, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um sicherzustellen, dass die Rechte ihrer Mandanten geschützt sind und dass diese vor jedem Gericht oder jeder anderen Autorität einen fairen Prozess bekommen.
  4. Der Ausschuss für Rechtsangelegenheiten und Menschenrechte der Parlamentarischen Versammlung des Europarates nahm am 12.Dezember 2017 den Entwurf eines Berichtes, den Schutz von Anwälten sowie des Anwaltsberufes betreffend an. Weiterhin fand am 24.Januar 2018 in Straßburg ein Treffen statt, an dem auch Anwälte teilnahmen, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden sowie unter Druck geraten waren wegen ihrer professionellen Aktivitäten in Ländern, zu denen die Türkei, Aserbaidschan, Moldawien und die Niederlande gehörten. Nach dem Treffen wurden die Empfehlungen, die in dem Berichtsentwurf behandelt wurden, in einen Text mit 7 Artikeln übertragen und angenommen. Wenn dieser Berichtsentwurf, der von der Parlamentarischen Versammlung angenommen wurde, dem Komitee der Minister des Europarates vorgelegt wird und eine positive Entschließung dieses Gremiums folgt, wird vom Europarat erwartet, einen Prozess zu starten, um eine internationale Konvention zum Anwaltsberuf vorzulegen.

Menschenrechtsverein  Rechts-Kommission

Gekürzte Übersetzung (durch das DTF) des IHD Berichtes Lawyers under Judiciary Pressure, den Sie auf der Website des IHD über die Seite Lawyers Under Judiciary Pressure finden können. Dort finden Sie auch eine Auflistung des IHD von den Gerichtsverfahren gegen Rechtsanwälte (Court Cases Against Lawyers)

www.mesop.de