MESOPOTAMIA NEWS : EINE HOCHVIKTORIANISCHE EMANZIPIERTE FRAU VON WIRKLICHEM VERMÖGEN

Tennis mit König Faisal Bin Hussein – GERTRUDE BELL –  Von Professor Dr. Benedikt Stuchtey

Als Gelehrten-Verwalter stellten sie im 19. Jahrhundert ihr Wissen in den Dienst der europäischen Kolonialmächte. Die meisten waren Männer. Doch ohne Gertrude Bell sähe die nahöstliche Landkarte heute wohl anders aus. Ein Gastbeitrag.

Während der Hochzeit der europäischen kolonialen Expansion und der Blüte des britischen Empires machte ein besonderer Typus Wissenschaftler von sich reden. Man nannte sie „Gelehrten-Verwalter“ („scholar-administrators“). Diese Bezeichnung brachte ihre doppelte Eigenschaft schön auf den Punkt. Denn in beiden Welten, in der wissenschaftlichen wie der politisch-administrativen, waren sie gleichermaßen zu Hause. Die meisten von ihnen waren, wie nicht anders zu erwarten, Männer. Umso interessanter sind die Frauen, die als Gelehrten-Verwalter Geschichte schreiben und machen sollten. Etwa die vor 150 Jahren, am 14. Juli 1868, geborene Gertrude Bell.

Die aus Washington im Nordosten Englands stammende Bell war nicht die einzige Forschungsreisende ihrer Zeit. Die gut dreißig Jahre ältere Anne Blunt war vor ihr ähnliche Wege gegangen. Die Schweizerin Isabelle Eberhardt bereiste, ebenfalls um 1900, insbesondere Tunesien und Algerien, Mary Kingsley war im südlichen Afrika. Bekannt wurde Bell vor allem durch ihre Beteiligung an dem erfolgreichen Manöver, den von den Franzosen aus Syrien vertriebenen König Faisal als Monarchen des neugegründeten Staates Irak zu installieren. Erlangen konnte sie diese Autorität allein deshalb, weil sie in den Jahrzehnten zuvor grundlegende archäologische Grabungen im Nahen Osten durchgeführt und über ihre Forschungen wegweisende Publikationen vorgelegt hatte. Zudem war sie ein äußerst mobiles Bindeglied zwischen London und seinen kolonialen Interessen im arabischen Raum. Dabei kam ihr die Fähigkeit zugute, in unvertrauter Umgebung schnell Vertrauen zu gewinnen und die emotionalen Dimensionen des Kolonialismus zu erkennen. Diesen Aspekten im Unterschied zu den rationalen Prinzipien etwa des Verwaltungsstaats wird erst seit kurzem die Aufmerksamkeit zuteil, die ihnen gebührt. Es ist kein Zufall, dass das Interesse an Gertrude Bell, die schon zu Lebzeiten als ausgezeichnete Kennerin des arabischen Kulturraums zu einer Legende geworden war, zur Zeit des Zweiten Golfkrieges 1990/91 wiederaufflammte.

Aufgewachsen in der Grafschaft Durham, unternahm sie nach dem Studium in Oxford eine eher außergewöhnliche Grand Tour nach Rumänien und nach Istanbul. Über Charles Hardinge, den späteren Vizekönig Indiens, lernte sie dort den Osteuropa-Korrespondenten der „Times“, Valentine Chirol, kennen. Als Bell erstmals Teheran besuchte und eine starke Faszination für das damalige Persien entwickelte, setzte fast unweigerlich eine Erschließung des „Orients“ ein. Sie lernte Persisch und übersetzte die Gedichte des mystischen Dichters Hafiz (1315–1390).

Doch Bell wäre nicht eine Repräsentantin des Hochviktorianismus, hätte es ihr der unter Briten so beliebte Alpinismus nicht ebenso angetan. Unter anderem bestieg sie den Mont Blanc und das Matterhorn. Wenn das Oxford Dictionary of National Biography, das Leslie Stephen, Vater von Virginia Woolf und Entdecker der Schweizer Alpen für den Tourismus, 1885 gegründet hatte, Bells Leben unter den Begriffen der Reisenden, Archäologin und Diplomatin zusammenfasste, so schilderte der Lexikoneintrag die Lebensgeschichte einer umtriebigen und rastlosen Gelehrten, die ihre Wissenschaft zunehmend in den Dienst des britischen Empires stellte.

Auf die Probe gestellt sollte dieses Wissen erstmals in der Region des seinerzeitigen Syrien werden. Zur Jahrhundertwende hatte sich Bell auf Einladung des deutschen Konsuls Friedrich Rosen zunächst Jerusalem vertraut gemacht und von dort aus Exkursionen nach Petra, Palmyra und Baalbek unternommen. Fasziniert von den byzantinischen Kirchen in Anatolien, schrieb sie auf Anregung des Archäologen William Ramsay 1907 einen Klassiker der Reiseliteratur: „The Desert and the Sown“.

Unzureichende Organisation

Nirgends zuvor war die mangelhafte Durchdringung des Hinterlandes durch die koloniale Herrschaft durch die Osmanen so schonungslos beschrieben worden: Wohl waren die Fremdherrscher in den arabischen Städten präsent, nicht jedoch in der Wüste, die die Beduinen kontrollierten. Bell zeigte damit, dass das Osmanische Reich völlig unzureichend organisiert war, um sich gegen die Zersetzung im Inneren wie gegen den äußeren Druck durch die Franzosen und Briten zur Wehr setzen zu können – und dass der osmanische koloniale Staat die Bedeutung der arabischen Wüste für die zukünftige Gestaltung dieses geostrategisch zentralen Raumes unterschätzte. Sie eröffnete damit ihren Zeitgenossen wichtige Sichtweisen und zeigte doch an sich lediglich Naheliegendes. Für die Selbstpositionierung zwischen Wissenschaft und Kolonialverwaltung war dies ein zentraler Schritt.

Denn dass die Geschichte der kolonialen Expansion und der Stabilisierung kolonialer Herrschaft unmittelbar mit der Geschichte des Wissens verknüpft ist, ist spätestens seit den Arbeiten von Michel Foucault und Edward Saids Klassiker „Orientalism“ aus dem Jahr 1978 eine Binsenwahrheit. Damals hatte der „cultural turn“ auch in der Imperialgeschichte dafür gesorgt, nicht allein wirtschaftlichen Interessen und staatlichen Strukturen Aufmerksamkeit zu schenken, sondern auch kulturellen Herrschaftstechniken.

Politisch gewolltes Instrumentarium

Foucault hatte zeigen können, dass Wissen und seine Aneignung Folge, vor allem aber Werkzeug von Macht waren. Said ermöglichte, das von den „Orientalisten“ erworbene Wissen als politisch gewolltes Instrumentarium zu verstehen. Hatte es seine Unschuld verloren, so war es in die Funktionsweisen imperialer Herrschaft eingewoben. Herrschaftswissen wurde dabei nicht nur von Forschungsreisenden erworben. Es wurde gleichermaßen von Missionaren, Händlern, militärischem Personal, Großwildjägern, Verwaltern und Lehrern im Alltag hervorgebracht, allen denjenigen also und noch vielen anderen, die auf irgendeine Art und Weise zu der kolonialen und imperialen Erfassung und Klassifizierung der Welt beigetragen haben. Geographen und Ethnologen, Kulturanthropologen, Biologen und Sprachwissenschaftler zählten dazu in besonderem Maße.

Will man Akteure, die das „Andere“ oder „Fremde“ erforschen und vermessen wollten und nicht selten mit rassistischen Stereotypen arbeiteten, als „Orientalisten“ bezeichnen, so wird man ihnen jedoch nicht ganz gerecht. Auch das zeigt der Fall von Gertrude Bell. Zwar war sie stets eine Repräsentantin des Empire. Mit gleichem Recht fühlte sie sich aber als Spezialistin für eine spezifische, nichteuropäische Region. Die Selbstwahrnehmung als Wissensvermittler über die kulturellen Grenzen hinaus war letzten Endes für die Fähigkeit dieser Wissenschaftler-Verwalter maßgeblich, Wissen überhaupt zu produzieren. Wer diese Seite der imperialen Münze betrachtet, der wird den „Orientalismus“ nicht als Einbahnstraße allein der Herrschenden begreifen, sondern als einen fortwährenden sozialen und kulturellen Verhandlungsprozess, an dem die Beherrschten nachhaltig beteiligt waren. Diese Sichtweise setzt freilich voraus, jenseits von Texten und Schriftlichkeit sich mit Aspekten der Wissensproduktion zu befassen, die der kulturellen Ökonomie des Imperialen entstammen und auch physische, symbolische sowie Emotionen reflektierende Dinge und Gegenstände einschließen. So dominant Herrschaft von der Kolonialmacht erzwungen wurde, so inkohärent und unsicher war sie, weshalb sie unbedingt auf die Kooperation „vor Ort“ angewiesen war. Das ohne Zweifel einflussreichste Modell, mit dem die Hybridität dieses Phänomens illustriert wird, stammt von dem 2015 verstorbenen Historiker Christopher Bayly. Als einer der besten Kenner der britischen Herrschaft über Indien („Raj“) konnte er im Gegensatz zu Said zeigen, dass Kooperation bis hin zu Kollaboration indigener Wissensträger mit den imperialen Eliten eine wesentliche Voraussetzung dafür war, dass der koloniale Staat funktionierte. Nicht das Aufzwingen europäischer Sichtweisen, sondern die geschickte Nutzung von Alltagsquellen habe es ermöglicht, Britisch-Indien mehr als 200 Jahre zu beherrschen und zu verwalten.

Wandel von Autoritätsverlust in Unsicherheit und exzessive Gewalt

Sekretäre, Übersetzer, Verfasser von Nachrichten, Boten oder Spione – sie alle gaben Wissen an die herrschende Macht weiter. Aber dieses Wissen wurde gefiltert und diente dazu, die gegenseitige Abhängigkeit stets neu auszutarieren. Beide Seiten verfolgten klare politische, nicht zuletzt ökonomische Interessen und waren aufs Engste aufeinander angewiesen. Erst in dem Moment, in dem die Mechanismen dieser Informationsnetzwerke nicht mehr funktionierten und koloniale Herrschaft einzig und allein den Charakter militärischer und administrativer Unterdrückung annahm, ging sie vom Status allmählichen Autoritätsverlustes über in denjenigen kontinuierlicher Unsicherheit und exzessiver Gewalt.

Als Gertrude Bell im Jahr 1911 das Buch vorlegte, für das sie bis heute am besten bekannt ist, „Amurath to Amurath“, dokumentierte sie eine konkurrenzlose Kenntnis der antiken Kultur am Euphrat sowie der Vergangenheit und Gegenwart der Städte Aleppo, Bagdad und Mossul. Deren Geschichte, so die Autorin, gebe Zeugnis davon ab, wie Weltreiche entstanden und untergingen und wie durch die jungtürkische Bewegung seit 1908 politische Ideen an die Ränder des Osmanischen Reiches getragen wurden. Bell widmete das Buch Lord Cromer, einem Spitzenbeamten des britischen Empires, der bis 1907 Vizekönig Ägyptens gewesen war. Cromer sollte dafür sorgen, dass den Jungtürken in England viel Sympathie entgegenschlug.

Als Archäologin setzte sich Bell endgültig in ihrem Fach durch, als sie als eine der ersten westlichen Forscher überhaupt den Palast von Ukhaidir und seine reiche frühislamische Architektur gründlich untersuchte. In ihren Augen stellte das etwa 50 Kilometer südlich von Kerbala gelegene Bauwerk ein Zeugnis der historischen Kontinuität zwischen dem antiken Mesopotamien und dem modernen Irak dar. Auch weil sie ihre Forschungen fotografisch festhielt, sind sie für die Gegenwart, in der ein Großteil der Monumente nicht mehr existiert, eine unersetzbare Quelle.

Bell arbeitete in diesen Jahren eng zusammen mit dem vorderasiatischen Archäologen Walter Andrae und dem renommierten Iranologen Ernst Herzfeld, der für seine Ausgrabungen bei Samarra berühmt wurde. Die drei Forscher teilten die Faszination für die Architektur früher Moscheen und Palastformen. Der politische Durchbruch gelang Gertrude Bell nicht im alten Zweistromland, sondern in Ägypten. Nach der großen Expedition nach Hasil ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, nach ihrer Aufnahme als erste Frau in die Royal Geographical Society, nach ihren Exkursionen nach Damaskus, Bagdad und Amman und ihrer Arbeit für das Rote Kreuz zu Beginn des Krieges richteten sich die Blicke auf Bell, als Anfang 1916 geplant wurde, in Kairo ein „arabisches Büro“ zu errichten.

Vorbereitungen für eine britische Hegemonie

Die britische Regierung zog in der ägyptischen Metropole Kenner der Region zusammen, darunter auch T. E. Lawrence, den legendären, exzentrischen Lawrence von Arabien. Gemeinsam sollten sie eine Vorstellung davon entwickelten, wie die britische Hegemonie im Nahen Osten, die mit dem Rückzug der Osmanen nach dem Ende des Krieges zu erwarten war, unter Mitwirkung der arabischen Bevölkerung und der Nutzbarmachung der Kräfte des arabischen Nationalismus gestaltet werden könnte. Bell wurde die Aufgabe zugedacht, Informationen über die Beduinen auf der Sinai-Halbinsel zu sammeln. Wie Lawrence wusste sie, wie überlebenswichtig es für die Träger der westlichen Kolonialinteressen war, die indigene Bevölkerung zu umwerben. Ihre Erkenntnisse vertraute Bell dem seinerzeit ungemein einflussreichen „Arab Bulletin“ an, dem unter der Hand zirkulierenden Organ des britischen Geheimdienstes in Ägypten. Weil sie während des Krieges eng mit dem Militär assoziiert war, hielten sie manche für eine Spionin.

Während mit Blick auf andere Krisenregionen des britischen Empires, etwa Indien, in der Zwischenkriegszeit die Meinung herrschte, für souveräne Eigenregierungen sei die Zeit noch nicht gekommen, nahm Bell eine zunehmend liberale Haltung ein. Mit Eindrücken von der Pariser Friedenskonferenz im Jahr 1919 im Gepäck hielt sie eine kontrollierte Selbstverwaltung durch die Araber für durchaus realistisch, solange das imperiale Mandatssystem nicht angetastet würde. Im April 1920 hatte die Konferenz von San Remo das britische Mandat über den Irak bestätigt. In London war man sich in dieser Sache keineswegs einig. Obwohl er ursprünglich für einen raschen Rückzug der Briten aus dem Irak plädiert hatte, weil die Kosten für Militär und Verwaltung explodierten, stimmte Winston Churchill, zu dieser Zeit in der Funktion des Kolonialministers, schließlich doch dem von Bell favorisierten System der indirekten Herrschaft zu.

So erhielt der junge Irak in der Person von Faisal Bin Hussein im August 1921 zwar einen König. Gleichzeitig sicherte sich das Empire über einen britischen „High Commissioner“ seinen Einfluss. Faisal war für diese Konstruktion die naheliegendste Wahl, weil er kurzzeitig in Syrien geherrscht hatte. Die beste Wahl war er aus britischer Sicht aber nicht. Zwar hatte er während des Ersten Weltkriegs arabische Truppen gegen die Osmanen nach Damaskus geführt, aber er stand in dem Ruf, unerfahren und beeinflussbar zu sein. Überdies hatten ihn die Franzosen vertrieben, als sie das Mandat über Syrien übernahmen.

Nicht nur diese Hypothek sollte schwer auf der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung des Irak lasten. Eine weitere war die Grenzziehung, auf die Gertrude Bell aufgrund ihrer genauen Kenntnisse der Region entscheidenden Einfluss hatte. Als 1923 die Grenzen zu Jordanien, Saudi-Arabien und der Türkei gezogen wurden, blieb das sogenannte Mosul Vilayet mit seiner damals überwiegend kurdischen Bevölkerung zunächst davon ausgenommen. Die ölreiche, ehemalige osmanische Provinz mit Städten wie Kirkuk und Mossul, die unter britischem Mandat stand, wurde dem Irak erst 1926 zugeschrieben. Während die Türkei das Territorium als ihres betrachtete und den kurdischen Nationalismus fürchtete, sah Faisal Bin Hussein in dem gebirgigen Gebiet eine Art Pufferzone zwischen seinem Land und der Türkei.

Übergeordnete geographische Perspektive

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die übergeordnete geographische Perspektive. Das Osmanische Reich hatte sich den Nahen Osten vom Westen her erschlossen, das britische Empire hingegen kam vom Osten: schon im November 1914 war die indische Armee unter dem Kommando von General Nixon in Mesopotamien eingetroffen, um keine Zweifel an der zukünftigen Gestaltung der Region und der Sicherheit Basras wie auch Indiens aufkommen zu lassen.

Die Archäologin beließ es jedoch nicht dabei, politischen Einfluss auszuüben. Sie beteiligte sich am Einwerben von Spenden, dank derer 1923 das Nationalmuseum von Bagdad gegründet und 1926 eröffnet werden konnte. In ihren Briefen bekannte sie sich wiederholt dazu, in Bagdad viel heimischer geworden zu sein als irgendwo sonst auf der Welt. Jack Philby, Offizier im Colonial Office, Arabist und Forschungsreisender, schrieb Bell eine führende Rolle darin zu, den Irak trotz und wohl auch angesichts der massiven Unruhen in den 1920er Jahren politisch gestaltet zu haben.

Ungeklärte Beweggründe

War es die unerwiderte Liebe zu Faisal, die sie so weit trieb? Oder ein Verständnis dafür, dass das Empire auch auf den von den Wissenschaften errichteten Fundamenten fußte? Sicherlich ist zu bedenken, dass die europäischen Kolonialreiche und mit ihnen das britische Empire nach dem Ersten Weltkrieg nicht die Fortsetzung der territorialen Expansion betrieben, wie sie für das 19. Jahrhundert so charakteristisch gewesen war, sondern die alten und neuen Territorien reorganisieren und kontrollieren wollten. Auch das war ohne Zweifel imperiale Herrschaft, aber deren Akteure beanspruchten, weniger als Eroberer denn als Verwalter gesehen zu werden. Außerdem bot sich ein Vergleich an, nämlich der britischen Fremdherrschaft mit der osmanischen. Diese stand nun im Ruf, sie habe für die ethnischen und religiösen Eigenheiten der Unterworfenen kein Verständnis entwickelt. Bell zufolge war kulturelles Einfühlungsvermögen nicht inkompatibel mit dem Imperialismus.

1932 wurde die britische archäologische Schule in Erinnerung an die nur sechs Jahre zuvor verstorbene Bell gegründet – und zwar nicht in Respekt vor etwaigem amateurhaften Enthusiasmus für das orientalische „Andere“, sondern weil Bell eine von ihren Zeitgenossen früh respektierte, schonungslose Forscherneugier an den Tag gelegt hatte. Ihre arabischen Reisebegleiter, allesamt männlich, nannten sie „die Königin der Wüste“, Khatun, wovon sich wiederum der Film „Queen of the Desert“ (Werner Herzog, 2015) den Titel borgte.

Doch was dem Film nicht gelingt zu zeigen, ist das eigentlich Wesentliche an dieser faszinierenden Forscherpersönlichkeit: Nämlich ihre Bereitschaft und ihr Interesse, sich tief auf die von ihr bereisten Regionen und ihre Menschen einzulassen. Die Landschaft des Euphrat und ihre Kulturdenkmäler, die Wüste Syriens und das südliche Anatolien, so glaubte Bell, würde sie erst verstehen, wenn sie auch das alltäglichen Leben in der Gegenwart erforschte. Bells Verknüpfung von antiker Geschichte Mesopotamiens, so geographisch unscharf diese Bezeichnung auch war, mit aktueller Politik des umkämpften irakischen Raums befähigte sie, die Aufgabe der Diplomatin für das Empire zu übernehmen. Natürlich war sie hierin privilegiert, und natürlich vertrat sie imperiale Interessen. Sie lebte in der Überzeugung, die britische koloniale Herrschaft sei in der Form des allenthalben ungeliebten Mandats immer noch besser als die vom arabischen Nationalismus hervorgerufenen politischen und religiösen Konflikte und Unruhen.

Engagement gegen das Frauenwahlrecht

Bells Herz hing nicht an politischen Fragen. Zu Recht wird die Forscherin von ihren Biographen dafür kritisiert, sich noch vor dem Ersten Weltkrieg gegen das Frauenwahlrecht engagiert zu haben. Aus heutiger Perspektive unverständlich und befremdlich, hatte sie sich der 1908 ins Leben gerufenen nationalen Vereinigung gegen das Wahlrecht für Frauen unter der Präsidentschaft von Lord Cromer angeschlossen. Für Frauen ihrer sozialen Schicht war dies allerdings nicht ungewöhnlich. Der Wohlstand ihrer privilegierten Familie und eine grundsätzlich proimperiale, schließlich elitäre Gesinnung auf der einen Seite, ihr Engagement für die Emanzipation muslimischer Frauen in Bagdad und die Einrichtung von Schulen in ländlichen Regionen des Irak auf der anderen: beides macht es nicht einfacher, Gertrude Bell auf einen einzigen Nenner einer „Gelehrten-Administratorin“ zu bringen.

Sich dem Geschlechtermodell ihrer Zeit zu entziehen, musste nicht heißen, sich den Dynamiken des Empires zu entziehen. Frauen hatten um 1900 die Möglichkeit, sich in Missionsvereinen oder philanthropischen Gesellschaften zu organisieren und in diesem Rahmen ihre Begeisterung für die koloniale Expansion kundzutun. Aber diese Möglichkeiten waren oftmals auf das „Mutterland“ beschränkt. Worin Bell mithin Erfolg hatte und mit ihr wenige Frauen ihrer Zeit, war, einen den Männern vorbehaltenen Raum an der kolonialen „Peripherie“ zu durchmessen und hier wissenschaftliche, politische, administrative und militärische Anerkennung zu erwerben.

Kaum staatliches Unterstützung für Bell

 

So finanzierte in der Regel nicht der britische Kolonialstaat Bells aufwendige Reisen und Forschungen, sondern ihre wohlhabende Familie, die in Newcastle aufgrund ihrer Eisen- und Aluminiumproduktion zu den reichsten Industriellen des Empires zählte. Selbst Bells politisches Engagement wurde lediglich mit kleinen Summen entschädigt. Wenn es ihr gelang, die Kategorie des Geschlechts in die männlich dominierte Welt des Empires zu transportieren und geschickt Schreibstrategien zu benutzen, durch die mal eine weibliche, mal eine männliche Position von Vorteil war, so hatte sie kein Interesse daran, klassenspezifische Hindernisse abzubauen. Dass sie mit Faisal Tennis spielte und Dinnerpartys organisierte, sollte die Nähe zum Königshaus dokumentieren, – aber auch den Exotismus, den das Koloniale nach wie vor pflegte, und die emotionalen, geheimnisvollen Aspekte, die er offenlegte. Nicht trotz des Empires, sondern auch wegen ihm waren diese Verbindungen möglich.

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