MESOPOTAMIA NEWS DISKUSSION :   POLARISIEREN ODER SOLIDARISIEREN? EIN RÜCKBLICK AUF DIE MBEMBE-DEBATTE

von Aleida Assmann MERKUR  860  – Jan 2021

Deutschland hat gegenwärtig ein dramatisches Antisemitismus-Problem. Die Identität der Deutschen ist von der Judenvernichtung, die von Nazideutschland ausgegangen ist, nicht abzulösen. Die historische Verantwortung für dieses Menschheitsverbrechen ist mit einer besonderen Verantwortung für den Staat Israel verbunden. Sie ist Teil der deutschen Staatsräson und zeigt sich in enger Kooperation mit den Menschen in diesem Staat und seinen Institutionen. Dass Juden und Jüdinnen der dritten und vierten Generation nach dem Holocaust wieder in Deutschland leben und hier eine Grundlage für ihre Existenz gefunden haben, grenzt an ein Wunder. Umso erschütternder ist es, dass dieses jüdische Leben in Deutschland inzwischen schon wieder in einer dramatischen Weise gefährdet ist.

Das Tragen von Kippas macht Menschen zur Zielscheibe von verbalen und tätlichen Angriffen, jüdische Gemeindeeinrichtungen bedürfen besonderer Sicherheitsmaßnahmen, und schließlich hat der Anschlag in Halle an Jom Kippur 2019, der nur durch eine verschlossene Tür vereitelt wurde, mit einem Schlag alles infrage gestellt, was in diesem Land inzwischen gewachsen und erreicht worden ist. Wir können uns nicht ausruhen, die Verbreitung des Gifts des Antisemitismus in rechten Gruppierungen und im Internet nimmt weiter zu und erfordert ein entschlossenes Handeln der Ordnungskräfte, klare Positionen der Politiker, aber auch die Wachsamkeit der gesamten Zivilgesellschaft.

Die Loyalität für Israel und der Schutz jüdischen Lebens in Deutschland gegen rechtsextreme Angriffe darf aber nicht auf Kosten der Solidarität mit Palästinensern, Israelis und jüdischen Stimmen in der Welt gehen, die sich für eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts und eine gemeinsame Zukunft für beide Nationen einsetzen. Auch das sollte Teil der deutschen Staatsräson sein, denn das palästinensische Trauma der Vertreibung (Nakba) und die daraus resultierende Notlage wurden ebenfalls durch den von Deutschland ausgehenden Holocaust mitverursacht. 1 Der Kampf gegen Antisemitismus fordert in diesem Land die Vereinigung aller Kräfte. Leider wird der aber durch einen neuen Antisemitismus-Begriff und eine Debatte gestört, die von dieser wichtigen Aufgabe ablenkt, die Gemüter verwirrt und die falschen Gegner ins Visier nimmt.

BDS

Um die Hintergründe dieser Debatte etwas auszuleuchten, müssen wir auf zwei Bündnisse näher eingehen, die in der deutschen Gesellschaft bisher kaum bekannt waren, inzwischen in der Öffentlichkeit aber eine besondere Prominenz gewonnen haben. Das erste Bündnis präsentiert sich unter dem Kürzel »BDS«. Die drei Buchstaben stehen für ein 2005 gegründetes Bündnis für Boykott, Investitionsentzug und Sanktionen (Boycott, Divestment and Sanctions). Bei diesem Zusammenschluss von über 170 Organisationen der palästinensischen Zivilgesellschaft handelt es sich um eine Bewegung des gewaltlosen politischen Widerstands gegen die fortschreitende Besetzung der palästinensischen Gebiete durch den israelischen Staat. Der Vorwurf richtet sich gegen den Bruch internationalen Rechts und der universalen Prinzipien der Menschenrechte im Rahmen der Siedlungs- und Besatzungspolitik.

Boykott und Sanktionen, wenn sie der aktuellen Demokratiebewegung in Belarus dienen, sind als politisches Druckmittel nicht weiter strittig. Im Fall von Israel gilt Boykott allerdings zu Recht als kontrovers, weil es ja nicht nur um Waren, sondern auch um israelische Künstlerinnen, Wissenschaftlerinnen und Sportlerinnen geht, die auf diese Weise von allgemeiner Partizipation ausgeschlossen werden. Das Bündnis wird aber auch von Solidaritätsgruppen und Prominenten unterstützt, sowie von Juden und jüdischen Organisationen. Der rechtliche Status des BDS ist noch nicht zweifelsfrei geklärt. Im Internet habe ich zwei Stellungnahmen zum BDS von mir bekannten und sehr respektierten Wissenschaftlern gefunden. Wolfgang Benz, ehemaliger Leiter des Zentrums für Antisemitismus-Forschung in Berlin, hält den BDS für »sehr unübersichtlich« und nicht für antisemitisch, sondern für eine »politische, israelkritische Bewegung«, was »Antisemiten aber nicht an der Teilnahme hindere«. Wer den BDS dagegen pauschal »als antisemitisch abstempelt«, habe »primär ein politisches Interesse – und kein Interesse an Aufklärung und Frieden«. Mein anderer Gewährsmann ist Moshe Zimmermann, Historiker an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seiner Meinung nach ist nicht jeder BDS-Unterstützer automatisch Antisemit und nicht jeder Boykotteur ein BDS-Anhänger. Er sieht in diesen Zuordnungen eine »Technik des Mundtotmachens« im Interesse der israelischen Regierung. 2

In die deutschen Schlagzeilen geraten ist der BDS durch eine Resolution des Deutschen Bundestags mit der Forderung: »BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen«, die im Mai 2019 angenommen wurde. 3 Seither gilt in der öffentlichen Diskussion der Nachweis, dass eine Person direkten oder indirekten Kontakt zu diesem Netzwerk hat, als unmittelbar rufschädigend. Für diesen Tatbestand wurde inzwischen ein Begriff aus dem Lexikon des Stalinismus wiederaufgelegt: »Kontaktschuld«. Bereits der Nachweis einer indirekten Verbindung zum BDS gilt als kontaminierend. Viele Friedensgruppen und Kulturorganisationen lehnen den BDS ab, kommen aber nicht umhin, wenn sie sich für eine friedliche Zukunft für ein oder zwei Staaten und drei Religionen im Nahen Osten einsetzen, mit Gruppierungen zusammenarbeiten zu müssen, die dem BDS angehören. Die Resolution hat de facto zu einer Verhinderung, ja Kriminalisierung ihrer jahrzehntelangen Friedensaktivitäten geführt.

Zu den merkwürdigen Verwerfungen, die der BDS-Vorwurf inzwischen hervorgebracht hat, gehört der Frontalangriff auf eine Gruppe jüdisch-israelischer Studierender, die an der Hochschule Weißensee gerade ein Kunstprojekt mit dem Titel »Unlearning Zionism« erarbeiten. Mit dem Vorwurf der BDS-Nähe wurde diese Gruppe öffentlich als antisemitisch verurteilt und ihr die finanzielle Unterstützung entzogen. Das bedeutet im Klartext, dass inzwischen Jüdinnen und Juden aus Israel und der Schweiz, die in Deutschland eine kritische Position gegenüber der israelischen Regierung beziehen, mit rechtsradikalen Gruppen gleichgestellt und nun selbst Opfer eines Boykotts werden. Dabei gerieren sich Politikerinnen und Politiker verschiedener Richtungen als Sachwalter des »Jüdischen« im Sinn eines einheitlichen jüdischen Wollens. »Wie kann man unsere Arbeit in einem Atemzug mit Nazis nennen?«, fragte fassungslos eine Studentin der Gruppe, Yehudit Yinhar. Sie ist die Enkelin einer 1938 aus Berlin geflüchteten Jüdin. 4

IHRA

Um besser zu verstehen, warum sich das politische Klima in diesem Land gerade deutlich verschärft hat, muss hier noch ein weiteres Bündnis genannt werden. Es geht dabei um ein Bündnis von Staaten, das 1998 gegründet wurde und auf Einladung des schwedischen Ministerpräsidenten Göran Persson am 27. Januar 2000 in Stockholm zum ersten Mal zu einem Internationalen Forum zusammenkam, um die Erinnerung an den Holocaust über die Schwelle des Millenniums zu tragen, sie für die Zukunft zu sichern und in den Mitgliedstaaten zu verankern. Dieses Bündnis nennt sich »International Holocaust Remembrance Alliance«, abgekürzt durch die vier Buchstaben IHRA. Zur IHRA gehören inzwischen 31 Mitgliedsländer, darunter neben den EU-Staaten auch Israel, die Vereinigten Staaten und Argentinien sowie Beobachterstaaten und Partnerorganisationen wie die UN und die UNESCO. 5

Die Gründungsurkunde dieses Staatenbündnisses ist die »Stockholm Declaration«, die dessen Ziele in acht Punkten zusammenfasst. Dazu gehört die Einführung des 27. Januar als verpflichtendem Gedenktag, der seit 2005 auch für die Mitgliedstaaten der EU gilt und von den Vereinten Nationen eingeführt wurde. Weitere Punkte betreffen die Deklaration des Holocaust als Zivilisationsbruch in Europa und der Menschheitsgeschichte, den Auftrag einer transnationalen Erinnerungsallianz für das Gedenken an die Opfer und ihre Helfer, die Förderung von Aufklärung und Forschung über den Holocaust samt der Öffnung von Archiven und die Bekämpfung von Antisemitismus, um »die Saat einer besseren Zukunft in den Boden einer bitteren Vergangenheit [zu] streuen«. 6

Was 2000 unterzeichnet wurde, war in gewissem Sinn eine praktische und politische Fortsetzung dessen, was 1986 in Westdeutschland mit dem Historikerstreit begann und 1999 mit der Entscheidung des deutschen Bundestags für ein zentrales Holocaustmahnmal fortgesetzt wurde. In Stockholm wurde aus einer öffentlichen Debatte unter Intellektuellen und einer nationalen kulturpolitischen Entscheidung eine transnationale Erinnerungsgemeinschaft. Seither treffen sich Vertreter der IHRA-Staaten jährlich in einem anderen Land und diskutieren die praktischen Fragen, die mit der Umsetzung der Holocaust-Erinnerungskultur in den unterschiedlichen politischen und kulturellen Milieus der einzelnen Mitgliedstaaten verbunden sind.

Die Entstehung einer neuen Antisemitismus-Definition

Unter dem Eindruck der wachsenden Aktualität einer neuen Antisemitismusgefahr hat das Plenum der IHRA im Mai 2016 in Bukarest eine neue Antisemitismus-Definition beschlossen. Diese Definition hat einen Prozess eingeleitet, dessen Ende noch nicht abzusehen ist. Zunächst die Fakten. Die Bukarest-Definition wurde im September 2017 von der deutschen Bundesregierung übernommen, damals noch vertreten durch Innenminister Thomas De Maizière und Außenminister Sigmar Gabriel. Die Minister empfahlen, diese rechtlich nicht bindende Erklärung im Schulunterricht und in der juristischen Ausbildung einzusetzen, aber auch als Unterstützung für Polizeibeamte, um Straftaten mit antisemitischem Hintergrund besser erkennen und einordnen zu können. Auf diese Weise sollte »der Antisemitismusbekämpfung auf nationaler Ebene mehr Bedeutung und Sichtbarkeit zu Teil werden«. 7

In Erfüllung dieses Ziels wurde zwischen 2017 und 2020 in Deutschland Schritt für Schritt ein neuer politischer Rahmen geschaffen. Im Januar 2018 wurde die Stelle eines Antisemitismusbeauftragten des Bundes eingerichtet; es folgten dreizehn Bundesländer mit der Bestellung eigener Antisemitismusbeauftragter. Im Mai 2019 kam es zur BDS-Resolution des deutschen Bundestages. Im November, kurz nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle, übernahm die Hochschulrektorenkonferenz die Anti-BDS-Resolution und machte gleichzeitig die Antisemitismus-Definition der IHRA zur verbindlichen Leitlinie an den Universitäten. Aber erst mit der Debatte um den afrikanischen Historiker und Philosophen Achille Mbembe, die immer weitere Kreise zog, wurde offensichtlich, dass sich das politische Klima in Deutschland merklich verschärft hatte. Mbembe musste aufgrund kompromittierender Textstellen in seinen Werken als Gast der Ruhrtriennale 2020 wieder ausgeladen werden.

Was war passiert? In den letzten beiden Jahren hat sich die Antisemitismus-Definition in Deutschland signifikant verschoben. Die Veränderung ist zwar nur minimal, aber folgenreich. Deshalb ist es geboten, sich die Schlüsseltexte, um die es hier geht, noch einmal genauer anzuschauen und dabei eine Lupe zu benutzen.

Die Bukarest-Definition der IHRA von 2016 bot die folgende Arbeitsdefinition an, die sich auf Judenhass und die damit verbundenen Feindbilder und Attacken als eine spezifische Form der Wahrnehmung bezieht: »Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und /oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen und religiöse Einrichtungen.« 8

Im zweiten Teil der Antisemitismus-Definition der IHRA folgte auf diese Kerndefinition eine längere Liste von Beispielen, die Antisemitismus an konkreten Beispielen veranschaulichen. Die erste längere Erläuterung beginnt mit den Worten: »Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden.«

Im September 2017 beschloss die deutsche Bundesregierung, sich der internationalen Definition von Antisemitismus der IHRA anzuschließen. Dabei wurde die Kerndefinition (mit oder ohne Beispiele) übernommen. In neueren Verlautbarungen wie zum Beispiel der Erklärung der Hochschulrektorenkonferenz wird die Antisemitismus-Definition der IHRA in einer neuen, heute üblichen Variante zitiert. Dabei ist das erste Beispiel in die Kerndefinition mit aufgenommen, allerdings ohne den einschränkenden Zusatz. Seither lautet die erweiterte neue Definition von Antisemitismus: »Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und /oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen und religiöse Einrichtungen. Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten.« 9

Mit dieser kleinen Veränderung hat sich der Fokus der »Arbeitsdefinition Antisemitismus« verlagert und ist im Handumdrehen zu einem Instrument politischer Intervention und Repression geworden. Während die BDS-Resolution der Auslöser für den Rücktritt prominenter Wissenschaftler wie von Peter Schäfer, dem ehemaligen Direktor des Jüdischen Museums, und die Ausladung Achille Mbembes war, wurde die neue Antisemitismus-Definition zum Auslöser eines »neuen Historikerstreits« und einer Debatte um die Rolle des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur.

Insgesamt hat die Verlagerung des Schwerpunkts der Antisemitismus-Bekämpfung durch BDS und IHRA dazu geführt, dass das Bedrohungspotential inzwischen weniger im rechtsradikalen Spektrum als im Milieu von linken und liberalen Intellektuellen gesucht wird. Das Ergebnis war, dass die israelische Regierung vor Kritik geschützt und dabei gleichzeitig von den in diesem Land immer radikaler werdenden rechtsradikalen und rassistischen Umtrieben abgelenkt wurde, die mit ihrer Fremdenfeindlichkeit die diverse und weltoffene Gesellschaft bedrohen. Die Arbeit von Intellektuellen und Kulturinstitutionen wie Wissenschaft, Theater und Museen ist seither nicht nur erschwert, sondern zum Teil auch behindert und blockiert worden.

Drei Antisemitismus-Begriffe

Mit der Erweiterung der Antisemitismus-Definition ist immer unklarer geworden, wer alles ins Fadenkreuz der Antisemitismus-Bekämpfung geraten kann. Nicht nur der BDS hat plötzlich auf nationaler Ebene enorme Bedeutung und Sichtbarkeit erhalten, auch Themen wie Kolonialismus und Rassismus skandalisieren, sobald Verbindungen zwischen dem Holocaust und anderen Menschheitsverbrechen hergestellt werden. Alles in einem Topf war der Artikel von Jürgen Kaube über den »Fall Mbembe« in der FAZ überschrieben. 10 Diese Überschrift war als Kritik an einem Autor gemeint, der, so Kaube, in unzulässiger Weise historische Ereignisse wie Holocaust, Apartheid, Sklaverei und Kolonialismus vermengte. Die Formel passt aber auch für den Antisemitismus-Begriff selbst, in dem gerade unterschiedliche Bedeutungen zusammengeworfen werden. Ich schlage hier eine Unterscheidung von drei Antisemitismus-Begriffen vor.

Erstens: der alte-neue Antisemitismus als Hass und Gewalt gegen Juden. Er schließt eine zweitausendfünfhundertjährige Geschichte der Diskriminierung, Verfolgung und Vernichtung von Juden ein, die zunächst religiös, später »rassisch« als Fremde und Feinde stigmatisiert werden. Der Kampf gegen diesen Antisemitismus ist so aktuell wie eh und je, weil er mit einem ausgedehnten Repertoire an Bildern, Stereotypen und Narrativen arbeitet, das in der Geschichte unter unterschiedlichen Voraussetzungen immer wieder erneuert wird.

Zweitens: der politische Antisemitismus als Form der Aberkennung des Existenzrechts des Staates Israel. Dieser Judenhass ist politisch motiviert und richtet sich gegen den Staat Israel. Im Kalten Krieg zum Beispiel wurde er von der Spitze der DDR-Regierung sowie militanten Achtundsechzigern vertreten, die die PLO ideologisch und militärisch unterstützten. 11 Der politische Antisemitismus lebt weiter in islamischen Staaten, die Israel zu ihrem zentralen Feindbild gemacht haben. Dazu gehört Iran, wo Ahmadinedschad 2006 eine große Konferenz der Holocaust-Leugner organisierte und einen symbolischen Countdown der Existenz Israels einleitete.

Drittens: der neue Antisemitismus als Kritik an der Politik des Staates Israel. Es ist diese neue dritte Definition, die zur gegenwärtigen Verwirrung beigetragen hat, denn bei dieser Definition wird nicht mehr unterschieden zwischen der Frage des Existenzrechts Israels und der Frage nach berechtigter oder unberechtigter Kritik bestimmter Elemente der Politik in diesem Land. Genau diese Nichtunterscheidung in der neuen Antisemitismus-Definition hat zu einer allgemeinen Verunsicherung geführt und eine explosive Stimmung geschürt.

Mbembe als Katalysator einer deutschen Debatte

Die Mbembe-Debatte entstand aus einer kollektiven Anstrengung. Das deutsche Debattenpublikum war monatelang eifrig damit beschäftigt, ausgewählte Textstellen dieses Autors zu studieren, um zu prüfen, ob der Antisemitismus-Vorwurf gegen ihn gerechtfertigt ist oder nicht. Mbembe ist ein Philosoph aus Kamerun, dessen Vorfahren den Gräueltaten der deutschen Kolonialmacht ausgesetzt waren. Dieser Antisemitismus-Kandidat, der unter dem Verdacht der Holocaust-Relativierung steht, bekannte in einem Interview, sein persönliches Verhältnis zu diesem dunkelsten Ereignis der Geschichte mithilfe der Schriften von Franz Rosenzweig, Hermann Cohen und Emmanuel Levinas gefunden zu haben.

Meine These ist, dass der afrikanische Philosoph in dieser Debatte die Funktion eines Katalysators erfüllt. 12 Die Chemiker denken dabei an einen Stoff, der chemische Reaktionen herbeiführt oder beeinflusst, selbst aber unverändert bleibt. Mit anderen Worten: Mbembes bloße Präsenz als gemeinsame Bezugsfigur in der Debatte verhalf den Deutschen zum erregten Austausch ihrer Innenansichten. Mbembes Schriften und Thesen boten der Debatte nicht nur einen Anstoß, sondern auch einen klaren Rahmen. Worum ging es dabei?

Das erklärte Thema von Mbembes Schriften ist die fundamentale Kritik rassistischer Gewalt. Ein Schüsselbegriff in seinem Werk ist »Trennungswahn«. 13 In ihm sieht er die Grundlage einer »Politik der Feindschaft« und den gemeinsamen Nenner für unterschiedliche Formen von Hass. Er selbst trennt dabei nicht, sondern stellt zusammen: Diskriminierung und Entwürdigung von Menschen durch Antisemitismus, Rassismus, Islamophobie, Homophobie, Kolonisierung, Apartheid und Sklaverei. Damit befindet er sich durchaus im Einklang mit Artikel 3 der Stockholmer Holocaust-Erklärung von 2000: »Da die Menschheit noch immer von Völkermord, ethnischer Säuberung, Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit gezeichnet ist, trägt die Völkergemeinschaft eine hehre Verantwortung für die Bekämpfung dieser Übel.« 14

Diese Aufgabe ist im Lauf der letzten zwanzig Jahre nicht leichter, sondern noch dringlicher geworden. Deshalb war die IHRA, was sehr zu begrüßen ist, zunächst auch erfolgreich darum bemüht, den Kampf gegen Antisemitismus mit dem gegen andere Formen des Trennungswahns zu verknüpfen und diese in ihre pädagogische Arbeit mit einzubeziehen. Doch dieser inklusive Blick auf ausgrenzende Gewalt, Versklavung und Menschenrechtsverletzungen weicht gerade einem Blick, der wieder Ausschluss, Trennung und Exklusivität zur verpflichtenden Maxime der Betrachtung macht. Auch wichtige Einsichten, die sich in der wissenschaftlichen und methodischen Entwicklung der Erinnerungsforschung und -praxis gerade durchgesetzt haben, werden durch die Verordnung der neuen Antisemitismus-Definition und die damit verbundenen politischen Maßregelungen infrage gestellt und gestoppt.

Ein zweiter Historikerstreit?

In einem Kommentar zur Mbembe-Debatte hat Thierry Chervel von einem »zweiten Historikerstreit« gesprochen, in dem es nicht mehr wie beim ersten um Historisierung oder Singularität des Holocaust geht, sondern um seine Relativierung. 15 Die alten Antisemiten, die den Holocaust leugneten, spielen in der Mbembe-Debatte keine Rolle mehr; an ihre Stelle sind die neuen Antisemiten getreten. Sie bedienen sich, so die aktuellen Kritiker und Meinungspolizisten, einer subtileren Waffe und relativieren durch Vergleich. Ihre Schriften seien, so die perfide Argumentation, »von dem sehr deutschen Wunsch getrieben, endlich den lastenden Mühlstein der Singularität des Holocaust loszuwerden«. 16

Auch Michael Rothberg hat das Stichwort vom zweiten Historikerstreit aufgenommen. Er lehrt an der Universität von Los Angeles und ist der Nachfolger des berühmten Saul Friedländer, der eine zentrale, ja sogar auslösende Rolle beim ersten Historikerstreit gespielt hatte. Wenn man von zwei Historikerstreiten spricht, liegt es natürlich nahe, das wissenschaftliche Instrument des Vergleichs einzusetzen. Dabei fällt zunächst auf, dass die Ergebnisse des ersten Historikerstreits durch den zweiten nicht infrage gestellt werden. Im Gegenteil, nach mehr als dreißig Jahren ist der Konsens über die Singularität des Holocaust in Deutschland zu einem Bekenntnis geworden, das in die Identität der Nation eingegangen ist.

Allerdings zeigt der zweite Historikerstreit auch, dass sich inzwischen die historischen Konstellationen verschoben haben. Nach der Wende, der Osterweiterung der EU, den aktuellen Migrationsbewegungen und der Zunahme globaler Verflechtungen ist Deutschland nicht mehr, was es 1986 war. Rothberg hat ebenfalls verglichen und hebt drei interessante Unterschiede zwischen 1986 und 2020 hervor: Während es damals um die Singularität des Holocaust ging, geht es heute um die Zulässigkeit des Vergleichs; während es damals eine ausschließlich von Männern geführte Debatte war, ergreifen inzwischen auch Frauen das Wort; während es damals um eine deutsche Debatte und um deutsche nationale Identität ging, haben wir es heute mit einer globalisierten Debatte zu tun. 17

Und genau an diesem Punkt scheiden sich gerade die Geister. Während die einen den Status quo um jeden Preis verteidigen wollen und in der Mbembe-Debatte eine skandalöse Negierung der in diesem Land erreichten Normen sehen, betrachten die anderen den Status quo als keineswegs gefährdet und verweisen vielmehr auf die Notwendigkeit seiner Erweiterung und Anpassung an neue historische Konstellationen.

Singularität, Relativierung, Vergleichsverbot

Was 1986 im ersten Historikerstreit errungen wurde, befindet sich im zweiten Historikerstreit gerade in einer Phase der Transformation und kritischen Reflexion. Ebenso wie wir im Januar 2020 über die letzten Zeugen des Holocaust diskutierten und darüber nachdachten, wie wir ihr Andenken für die Zukunft retten können, so brauchen wir jetzt eine weitere Diskussion darüber, wie wir die Holocaust-Erinnerung in einer globalisierten Welt neu verankern und verknüpfen können.

Diese wichtige Diskussion wird durch das politische Druckmittel des neuen Antisemitismus-Begriffs jedoch gerade erheblich gedrosselt. Das liegt momentan an einem missverständlichen Gebrauch des Begriffs der »Relativierung«. Nach der »Leugnung« des Holocaust ist inzwischen die »Relativierung« des Holocaust zu einem antisemitischen Merkmal geworden. Das Relativierungsverbot wiederum dehnt sich inzwischen auf das Vergleichsverbot aus. Das Argument der neuen Antisemitismus-Spezialisten lautet, dass bereits die Tatsache, dass der Holocaust zusammen mit anderen Menschheitsverbrechen wie Sklaverei, kolonialen Genoziden oder Apartheid genannt wird, dessen Einzigartigkeit infrage stellt.

Die Betonung der Singularität des Holocaust bedeutet für die Deutschen: Dieses Menschheitsverbrechen sprengt das Kontinuum der Geschichte, es bleibt als Zivilisationsbruch für immer mit ihrem Land verbunden und stellt die Welt vor neue Aufgaben. Für die Erinnerung an dieses Ereignis stellen sich zwei Fragen. Die eine lautet: Wie kann man die Erinnerung an dieses singuläre Ereignis gegenwärtig und lebendig halten und ihre Erstarrung und Ritualisierung vermeiden? Die andere lautet: Was wird von dieser Erinnerung gerade verdeckt und ausgeschlossen? Erinnerung braucht Aufmerksamkeit, deshalb herrscht in jedem nationalen Gedächtnis notorischer Platzmangel. Es gibt immer blinde Flecke. Durch die Fixierung auf den Holocaust hat im nationalen Gedächtnis der Deutschen manches noch keinen Platz gefunden; dazu gehört die Erinnerung an Millionen Opfer des rassistischen Vernichtungskriegs der Wehrmacht im Osten Osteuropas und der deutschen Besatzung und in ganz Europa. Doch das ändert sich gerade. Das nationale Gedächtnis ist nämlich durchaus erweiterbar, wenn sich in der Gesellschaft ein entsprechendes historisches Bewusstsein und politisches Bedürfnis einstellt. 18

Für die Erinnerung stellen sich inzwischen weitere Fragen: Muss man den Holocaust isolieren, oder darf man ihn mit anderen Ereignissen in Beziehung setzen? Welche Rolle spielt dabei der Vergleich? Die Singularität des Holocaust erweist sich ja erst, wenn wir verglichen haben. Denn vergleichen, wie immer wieder betont wird, heißt ja nicht gleichsetzen. Dafür ein Beispiel: Nach Alon Confino kann man den Holocaust nicht verstehen, »ohne die Geschichte des europäischen Kolonialismus heranzuziehen. Koloniale Genozide des 19. und 20. Jahrhunderts waren Teil eines beschleunigten Gewaltprozesses, der mit Nationsbildung daheim und imperialer Ausdehnung auswärts einherging.« 19 Confino sieht in den kolonialen Praktiken von Briten, Franzosen, Holländern, Belgiern und anderen eine politische Legitimierung für neue Praktiken einer mörderischen rassistischen Form von Herrschaft: »Die Bühne für die Völkermorde der Nazis wurde durch die gebrochenen Tabus früherer Jahrzehnte geschaffen, einschließlich der deutschen Genozide von 1904 und 1907 in Südwestafrika.« Vergleiche führen aber keineswegs zu einer Gleichsetzung. Noch einmal Confino: »Diese europäischen Traditionen des Kolonialismus und ihre Ideen von Rasse können den Holocaust nicht erklären.« Denn er betont zugleich, »dass der Holocaust von Deutschen, Juden und Europäern als singulär wahrgenommen wurde« und dass diese Singularität ein entscheidender Teil seiner Geschichte bleibt. Wie man sieht, kann man mit Vergleichen unterschiedlich umgehen: Man kann sie als Waffen im politischen Kampf benutzen, man kann sie aber auch zur Differenzierung und Klärung komplexer Probleme einsetzen.

Solidarisieren oder polarisieren?

So verwirrend und unübersichtlich die Debatte zunächst war, ein halbes Jahr später schält sich für mich ihr Kern immer klarer heraus. Ich möchte ihn auf die Alternative »Solidarisieren oder polarisieren?« zuspitzen. In diesem Licht sortiert sich die Logik der vorgetragenen Argumente ebenso klar wie der ihnen innewohnende performative Impact. Denn es stehen sich hier im Wesentlichen zwei Positionen diametral gegenüber. Diejenigen, die sich für »Polarisieren« entschieden haben, sehen in Mbembe einen Hassprediger, der mit seinen Vergleichen den Holocaust leugnet und die Existenz Israels untergräbt. Für diejenigen, die sich für »Solidarisieren« entschieden haben, ist er das Gegenteil: jemand, der aufgrund seiner eigenen Erfahrung mit Gewaltgeschichten neue globale Perspektiven auf diese entwickelt, indem er zwischen ihnen Verbindungen herstellt und neue Kontaktstellen aufzeigt.

Dieser Gegensatz zwischen Polarisieren und Solidarisieren zieht sich durch alle Texte der Debatte. Während die einen die Logik des Entweder-Oder forcieren und damit zugleich eskalieren und immer neue Formen der Polarisierung produzieren, plädieren die anderen für eine Logik der Deeskalation und des Sowohl-als-Auch. Während die einen mit verschiedenen Druckmitteln für eine Verengung des Denkraums sorgen, sind die anderen um eine Entspannung und Erweiterung des Denkraums bemüht. Mit Blick auf diese klare Dynamik stellt sich eine weitere Frage: Wer hat in dieser Debatte eigentlich ein so starkes Interesse an einer Eskalation durch die Aufrüstung von Normen, eine scharfe Ausschlusslogik und die damit einhergehenden Gesten der Einschüchterung? Offenbar wollen diejenigen, die sich mit der Waffe der neuen Antisemitismus-Definition ausgerüstet haben, mit ihren Verdächtigungen, Stigmatisierungen und Verurteilungen vor allem eines: in der Gesellschaft klare Fronten herstellen.

Und möglicherweise geht es dabei weniger um sachliche Probleme, seien es die Exegese der Texte von Mbembe, die wissenschaftliche Methode des Vergleichs oder Fragen der Erinnerungskultur, als um eindeutige politische Standpunkte. Deshalb wird Kritik an einer bestimmten Regierung innerhalb der israelischen Demokratie, die ja grundsätzlich offen für Diskussion sein sollte, als eine Form von Antisemitismus und als Angriff auf die Existenz des jüdischen Staates und der jüdischen Nation gewertet. Falls die Debatte von einem außenpolitischen Interesse geleitet war, das um jeden Preis die aktuelle politische Linie des israelischen Präsidenten Netanyahu stabilisieren und gegen Kritik immunisieren sollte, hätte sich die neue Antisemitismus-Definition als ein erstaunlich effektives Instrument erwiesen.

Die gegensätzlichen Optionen des Entweder-Oder beziehungsweise des Sowohl-als-Auch bieten sich auch als ein Schlüssel für Grundfragen der Erinnerungskultur an. Da die Dynamik des Gedächtnisses so beschaffen ist, dass eine starke Erinnerung eine andere abschwächt oder ganz ausblendet, galt es zunächst als nicht verwunderlich, dass auch im sozialen und politischen Raum die Logik des Entweder-Oder herrscht und eine Erinnerung auf Kosten der anderen existiert. Diese Logik steigert sich in identitätspolitischen Konstellationen. Das Gebot »Du sollst keine andere Erinnerung neben mir haben!« verengt den Zugang zur Geschichte und schließt bedeutungsvolle historische Beziehungen mit anderen Gruppen aus. Das kann dann so weit gehen, dass die Verabsolutierung der eigenen Erinnerung nicht nur zur Ausblendung anderer Erinnerungen führt, sondern auch zur Auslöschung der Erinnerungen anderer. Dasselbe noch mal zugespitzt: »A nation that keeps one eye on the past is wise. A Nation that keeps two eyes on the past is blind.« 20

Michael Rothberg verdanken wir einen Ansatz, der dieses festgelegte Denkmuster aufbricht und ganz neue Perspektiven auf die Praktiken des Erinnerns ermöglicht. Sein Konzept des »Mehrwegsgedächtnisses« (»multi-directional memory«) hat die Logik des Sowohl-als-Auch ins Spiel gebracht und gezeigt, dass Erinnerungen nicht nur in Form der Polarisierung, Aufrechnung und gegenseitigen Leugnung, sondern gerade auch in einer Beziehung der gegenseitigen Anregung und Bestätigung existieren. Die Erinnerung der Menschen bahnt sich unterschiedliche Wege, entdeckt Zusammenhänge und bildet unerwartete Allianzen, die sich von den Mustern und Vorgaben der Ideologen entfernen und auf diese Weise neue Wege und Zugänge zur Geschichte öffnen. Erinnerungen lassen sich eben nicht so einfach von politischen Vorgaben lenken; sie machen auch Sprünge, stellen existentielle Beziehungen her und bauen Brücken der Empathie. Solche dialogischen Verbindungen erhalten das Erinnern auf beiden Seiten lebendig, indem sie es erweitern und erneuern, indem sie Transformation und Erneuerung zulassen.

Ich habe die Frage nach den Grundmotiven gestellt, die die unterschiedlichen Stimmen in der Debatte um Achille Mbembe durchziehen, und bin dabei auf den Gegensatz zwischen Polarisieren und Solidarisieren gestoßen. Es darf hier nicht heruntergespielt werden, dass eine antisemitische Bedrohung für Juden und Jüdinnen in Deutschland inzwischen nicht nur von Rechtsradikalen und Neonazis, sondern auch von anti-israelisch geprägten muslimischen Einwanderern ausgeht. Irit Dekel und Esra Özyürek gehen auf diese »öffentliche Sorge um die Sicherheit der jüdischen Bevölkerung vor muslimischen Angreifern« ein und stellen fest, dass »die Zahl der antisemitischen Übergriffe auf jüdische Orte und Personen in Berlin erst im Jahr 2019 signifikant gestiegen [ist] und die weit überwiegende Mehrheit der Täter den Zählungen des ›Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus‹ zufolge nicht muslimisch, sondern rechts und rechtsradikal« war. 21 Sie weisen auch auf viele Kooperationsprojekte zwischen deutsch-jüdischen und deutsch-muslimischen Gemeinden hin wie Dialogforen, Bildungsprojekte und Gesprächskreise. Entscheidend ist aber die Einsicht, dass die muslimische Minderheit dem deutschen Rassismus und Fremdenhass nicht weniger ausgeliefert ist als Juden und Jüdinnen. Die Attentate in Halle und Hanau sowie die NSU-Morde stehen in einer Kontinuität rechtsextremistischer Taten gegen jüdisch markierte Ziele und solche, die mit der migrantischen Community zu tun haben. So oder so soll die pluralistisch und demokratisch verfasste Zivilgesellschaft getroffen werden. Das gilt für den islamistischen Terror ebenso wie für die erst allmählich in ihrem eigentlichen Ausmaß wahrgenommene Kontinuität rechtsradikalen Terrors in diesem Land. Umso wichtiger ist es anzuerkennen, dass sich längst neue Bande der Solidarisierung zwischen beiden Minderheiten gebildet haben.

Diese Bande werden von der neuen Antisemitismus-Definition und der Anti-BDS-Kampagne aber gerade zerschnitten, weil sie scharf unterscheidet zwischen denen, die Opfer von Antisemitismus werden, und denen, die Opfer von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit werden. Damit bringen diese politischen Instrumente, die dem Schutz der jüdischen Bevölkerung dienen sollen, eine Spannung und Polarisierung in die deutsche Einwanderungsgesellschaft, die der Möglichkeit eines gemeinsamen und gleichberechtigten Lebens in einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft im Weg steht.

FUSSNOTEN & QUELLENANGABEN

  1. Der Frage, wie Holocaust und Nakba verbunden sind, gehe ich in einem Kapitel meines Buches nach: Die Wiedererfindung der Nation. Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen. München: Beck 2020. 
  2. wikipedia.org/wiki/Boycott,_Divestment_and_Sanctions 
  3. Die Abstimmung lieferte kein geschlossenes Ergebnis. Die Fraktion der Linken (größtenteils) sowie Teile der Grünen stimmten gegen die Resolution (https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2019/kw20-de-bds-642892). 
  4. Stefan Reinecke, Zoff um Antisemitismus-Vorwurf. In: taz vom 14. Oktober 2020. 
  5. Die erste Selbstbeschreibung des Bündnisses als NGO war nicht ganz korrekt, weil es sich von Anfang an um eine Allianz von Regierungen und Experten handelte. Der ursprüngliche Name lautete »ITF« und stand für »Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance, and Research«. Er wurde 2012 geändert; das neue Logo entwarf Daniel Libeskind. 
  6. holocaustremembrance.com/de/about-us/stockholm-declaration 
  7. bmi.bund.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2017/09/definition-antisemitismus.html 
  8. https://www.holocaustremembrance.com/de/resources/working-definitions-charters/arbeitsdefinition-von-antisemitismus 
  9. Ohne die Möglichkeit eines Vergleichs ist es nicht möglich, die Spur der Veränderung der Antisemitismus-Definition nachzuvollziehen. Das Internet macht es einem da nicht leicht. Im aktuellen Wikipedia-Artikel zum Thema »Antisemitismus« zum Beispiel wird die neue IHRA-Definition als »Bukarest-Definition« vorgestellt und in dieser inzwischen üblichen Form zitiert (de.wikipedia.org/wiki/Antisemitismus). 
  10. Jürgen Kaube, Alles in einem Topf. In: FAZ vom 20. April 2020 (www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/alles-in-einem-topf-vorwuerfe-gegen-den-philosophen-achille-mbembe-16732050.html). 
  11. Jeffrey Herf, Unerklärte Kriege gegen Israel. Die DDR und die westdeutsche radikale Linke 1967–1989. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. Göttingen: Wallstein 2019. Herfs These, dass der linke Antizionismus eine direkte Fortsetzung des nationalsozialistischen Antisemitismus gewesen sei und die SED-Diktatur ebenso antisemitisch war wie die NS-Diktatur, erscheint mir überzogen. Herf erinnert uns aber an eine heute weitgehend vergessene und verdeckte politische Konstellation, in der schon einmal der Zionismus in Israel auf eine Stufe mit Südafrika und Rhodesien gestellt wurde. Die Kolonialismus- und Apartheids-Analogien haben also eine längere Geschichte, was allerdings bedeutet, dass sich ihre Bedeutung unter veränderten politischen Konstellationen wie einer drohenden Annexion der besetzten Gebiete auch immer wieder verändern kann. Heute muss eine solche Verbindung nicht mehr das Existenzrecht des Staates Israel infrage stellen, sie kann auch von der Sorge um einen gemeinsamen Frieden und die Zukunft des Staates getragen sein. 
  12. Cristina Nord hat einen persönlichen, reflektierten und reichhaltigen Artikel über die Mbembe-Debatte geschrieben (Einig, uneins zu sein. In: Merkur, Nr. 854, Juli 2020). Sie zeigt darin aus ihrer eigenen Perspektive, wie viele aktuelle Themen in der Debatte eingelagert sind. Am Schluss empfiehlt sie Mbembe, sein Verhältnis zu Israel und dem Antisemitismus zu überdenken. Nur in diesem Punkt unterscheidet sich meine Deutung von ihrer, weil ich der Meinung bin, dass Mbembe weder Zentrum noch Adressat, sondern der Katalysator einer sehr deutschen Debatte war. 
  13. Achille Mbembe, Politik der Feindschaft. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. Berlin: Suhrkamp 2017. 
  14. erinnern.at/themen/e_bibliothek/didaktik/methodik-didaktik-1/Erklarung%20des%20Stockholmer%20Internationalen%20Forums%20uber%20den%20Holocaust.pdf 
  15. Thierry Chervel, Je nach Schmerz. In: Perlentaucher vom 24. Mai 2020 (www.perlentaucher.de/essay/die-debatte-um-achille-mbembe-postcolonial-studies-und-der-holocaust.html). 
  16. Thomas Schmid, Die Verharmloser. In: Welt vom 15. Juni 2020 (schmid.welt.de/2020/06/15/die-verharmloser-der-holocaust-ist-kein-verbrechen-unter-vielen-wie-einige-lehren/). 
  17. Michael Rothberg, Comparing Comparisons: From the »Historikerstreit« to the Mbembe Affair. In: Geschichte der Gegenwart vom 23. September 2020 (geschichtedergegenwart.ch/comparing-comparisons-from-the-historikerstreit-to-the-mbembe-affair/). 
  18. Am 11. Oktober 2020 hat sich der Deutsche Bundestag für die Errichtung eines Dokumentationszentrums für alle Opfer des deutschen Vernichtungskriegs und der NS-Besatzung in Berlin ausgesprochen. Dieser Ort der Information, Vermittlung und Begegnung, der die Opfergruppen nicht aufrechnet und hierarchisiert, ist nach fünfundsiebzig Jahren ein überfälliges symbolisches Zeichen für die europäischen Nachbarn, das nichts wegnimmt von der Singularität und Bedeutung des Holocaust. 
  19. Alon Confino, A World Without Jews. The Nazi Imagination from Persecution to Genocide. New Haven: Yale University Press 2014. 
  20. Inschrift auf einer Wand in Belfast, Nordirland. Zit. n. Kübra Gümüşay, Sprache und Sein. Hanser Berlin 2020. 
  21. Irit Dekel /Esra Özyürek, Antisemitismus. Perfides Ablenkungsmanöver. In: Zeit online vom 10. Juli 2020 (www.zeit.de/kultur/2020-07/antisemitismus-debatte-holocaust-deutschland-rassismus-kolonialismus-diskriminierung-10nach8).