MESOPOTAMIA NEWS „DER KOMMENTAR DIESER ZEIT“ : WIR MÜSSEN UNS ZWISCHEN AMERIKA UND CHINA ENTSCHEIDEN – WELTORDNUNG
Von Mathias Döpfner – Vorstandsvorsitzender der Axel Springer SE – 3. Mai 2020
Krisen haben etwas Klärendes. So auch die Corona-Krise. Wenn eine Therapie gegen das Virus gefunden ist, die Shutdown- und Lockerungsdebatten verklungen sind und die Rezession ihr hässliches Gesicht zeigt, muss nichts Geringeres geklärt werden als die Weltordnung. Konkreter: die Bündnisfrage. Wo steht Europa? An der Seite Amerikas oder an der Seite Chinas?
Zunächst ein paar Annahmen und Fakten: Amerika, die einzige demokratische Weltmacht, wird gerade von einem Präsidenten mit einer ausgeprägten narzisstischen Persönlichkeitsstörung regiert – :
Dieser Präsident hat aber, sei es aus Zufall, dank guter Berater oder wacher Instinkte, auch ein paar richtige Entscheidungen getroffen: Steuersenkungen zur Stabilisierung der amerikanischen Wirtschaft. Die Kündigung des Atomdeals mit Iran, der den Mullahs nur Zeit schenkte, um ihren Kurs der nuklearen Bewaffnung fortzusetzen. Die entschiedene Unterstützung Israels, der einzigen Demokratie im Nahen Osten. Die Verstärkung des Drucks auf die Europäer für eine solidarische Finanzierung der Nato. Den Stopp der Unterstützung einer dysfunktionalen WHO.
China hingegen, die einzige nicht demokratische Weltmacht, wird derzeit von einem Präsidenten mit kontrollierter Eitelkeit regiert – von einer mutmaßlich feinsinnigen, hochgebildeten und kultivierten, sehr langfristig und konsistent denkenden und handelnden Persönlichkeit mit großer Sensibilität für die Interessen des chinesischen Einheitsstaates. Weil Xi Jinping eine Ähnlichkeit mit Winnie Puuh, dem Bären aus den Kindergeschichten, nachgesagt wird, sind in China die Verwendung des Wortes und das Bild von Winnie Puuh von der Zensur verboten. Wer die Regierung explizit kritisiert, wird bestraft.
Globale Vormacht dank digitaler Überwachung
Es ist ein Mann, der seit 2012 Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas sowie Vorsitzender der Zentralen Militärkommission und seit 2013 Staatspräsident der Volksrepublik China ist, dessen Amtszeitbegrenzung er 2018 selbst aufhob und der nun auf Lebenszeit weiterregieren könnte. Ein Politiker, der vor allem die Wirtschaftsreformen, die Deng Xiaoping in den Siebzigerjahren einleitete und die unter Jiang Zemin eine neue Dimension erreichten, fortsetzte, beschleunigte und dank verschärfter digitaler Überwachung und einer freundlich und friedlich erscheinenden internationalen Expansion zu einer globalen Vormachtstellung ausbaute.
Das Schlüsseldatum dieser Strategie ist der 11. Dezember 2001, als China nach 15 Jahren Verhandlungen als Vollmitglied in die WTO aufgenommen wurde. Die beste Entscheidung für China. Der vielleicht größte Fehler westlicher Marktwirtschaften in der jüngeren Geschichte. Seither hat sich der Anteil der USA am Weltbruttosozialprodukt von 20,18 Prozent (2001) auf 15,03 Prozent (2019) reduziert, der Anteil der EU ist von 23,5 (2001) auf 16,05 Prozent (2019) gesunken. Minus 7,45 Prozentpunkte in weniger als zwei Jahrzehnten. Der Anteil Chinas ist von 7,84 Prozent (2001) auf 19,24 Prozent (2019) gestiegen. Das durchschnittliche Wachstum Chinas betrug rund 9 Prozent. Das der USA 1,99 Prozent und das der EU 2,34 Prozent.
Der große Fehler im Konzept lag darin, demokratische Marktwirtschaften einem nicht demokratischen Staatskapitalismus auszusetzen, der sich erleichterte Handels- und Wettbewerbsbedingungen zunutze macht, ohne sich selbst den gleichen Regeln zu unterwerfen. Asymmetrie statt Reziprozität wurde Programm. Der in Sonntagsreden stets beschworene „Wandel durch Handel“ hat dann tatsächlich stattgefunden. Aber anders, als man sich dies im Westen vorgestellt hatte. China ist noch autoritärer und wirtschaftlich stärker geworden. Der Westen schwächer.
Was folgt aus all dem? Amerika hat sich klar für eine Politik des Decouplings entschieden. Eine Abkoppelung und zunehmende Unabhängigkeit von China. Europa muss sich nun endlich auch entscheiden, will es seine Freiheit von Peking nicht zunehmend unterwandern lassen.
Das sei kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch, die Frage dürfe man so zugespitzt gar nicht stellen, heißt es immer wieder. Man müsse hier differenzieren. Das Gegenteil ist richtig. Hier müssen keine fein ziselierten Ausführungen vorgetragen werden, hier muss politisch sehr grundsätzlich entschieden werden. China oder Amerika. Beides geht nicht mehr. Unter Trump hat sich die Frage zugespitzt. Aber letztlich geht es nicht um ihn.
Zur Wahrheit gehört, dass sich die amerikanische China-Politik auch unter einer möglichen demokratischen Regierung nicht ändern dürfte. Die China-Frage ist in den USA mittlerweile bipartisan – das heißt, überparteilich.
Nancy Pelosi, die demokratische Sprecherin des Repräsentantenhauses, schenkt dem amerikanischen Präsidenten nichts, sie hat auch die Impeachment-Untersuchung gegen ihn eingeleitet. Während der Münchner Sicherheitskonferenz antwortete sie auf meine Frage, ob sie in der Substanz mit der China-Politik von Trump einverstanden sei, ohne zu zögern und zur Überraschung des versammelten Publikums: „Yes.“ Pelosi bezeichnete China als eine „Regierung, die nicht unseren Werten dient“ und sprach von einer „autoritären Form der Aggression“. Die Hoffnung vieler, die damals mit im Raum waren und die wohl an ihre Geschäfte mit China dachten, dass das Weiße Haus unter einer demokratischen Führung wieder chinafreundlicher werde, wirkte in diesem Moment etwas naiv.
Bei der Regierung eines demokratischen Präsidenten könnte die Distanzierung von China möglicherweise sogar noch entschiedener ausfallen, auch wenn Trump den designierten demokratischen Präsidentschaftskandidaten Joe Biden gerade als China-Softie zu diskreditieren versucht. „China wants Sleepy Joe soo badly“, ätzt der amerikanische Präsident auf Twitter. Dafür spricht aber wenig. Biden war einer der ersten und wenigen internationalen Politiker, der die chinesischen Umerziehungslager für Hunderttausende von Uiguren öffentlich verurteilt hat.
Chinas Aufstieg zur ökonomischen Weltmacht unter nicht demokratischen Vorzeichen wird in den USA mehr und mehr als Bedrohung amerikanischer Interessen wahrgenommen. Ein Freund des Feindes wird damit schnell selbst zum Feind. Sollte Deutschland seine 5G-Infrastruktur mit Huawei ertüchtigen, wäre dies für das transatlantische Bündnis eine extreme Belastung. Eine Zäsur. Denn Amerika könnte Deutschland nicht mehr trauen.
Das transatlantische Bündnis wäre Makulatur
Geheimdienstliche Zusammenarbeit mit einem Nachrichtendienst, dessen Land es zulässt, dass sensibelste Daten in die Hände der Kommunistischen Partei Chinas geraten, wird in Washington mittlerweile nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand ausgeschlossen. Dies haben amerikanische Regierungsmitglieder auch bei Besuchen in Berlin deutlich ausgesprochen. Wenn Washington die enge nachrichtendienstliche Zusammenarbeit mit Europa aufgeben würde, wären die Folgen für unsere Sicherheit und unsere Wirtschaft verheerend.
Eine Abkopplung von den USA würde uns wirtschaftlich und sicherheitspolitisch wesentlich härter treffen. Das transatlantische Bündnis mit dem Land, das nach dem Zweiten Weltkrieg den demokratischen Wiederaufbau Deutschlands ermöglicht hat, das während der Berlin-Blockade durch die Luftbrücke die Versorgung und damit Erhaltung West-Berlins gesichert hat, die letztlich direkt und indirekt die deutsche Wiedervereinigung ermöglicht hat; dieses Bündnis wäre dann Makulatur.
Die Bündnisfrage wird in Europa seit Langem verdrängt. Nun ist sie entscheidungsreif. Mit der Corona-Krise hat dies direkt nichts zu tun. Schon gar nicht geht es um die Frage, woher das Virus kommt. Das ist – sofern es nicht aktiv in Laboren entwickelt und verbreitet worden ist (wovon nicht auszugehen ist) – unerheblich.
Die Krise schärft nur den Blick für längst bestehende Abhängigkeiten selbst in sogenannten systemrelevanten Lieferketten, für fundamentale Unterschiede in der Kommunikation und im Krisenmanagement, für ein am Ende völlig anderes Menschenbild – China hat nach Einschätzung von Mitarbeitern des Robert Koch-Instituts das Coronavirus über entscheidende Wochen hinweg verschwiegen, dann verharmlost und dadurch seine weltweite Ausbreitung ermöglicht.
Unternehmen in der Krise zum Schnäppchenpreis
Vor allem aber rückt die durch Corona ausgelöste globale Rezession Schicksalsfragen in den Fokus: Erlauben wir es dem Staatskapitalismus einer totalitären Weltmacht weiterhin, Schlüsselindustrien wie Bankwesen (Deutsche Bank), Autoindustrie (Daimler, Volvo), Robotik (Kuka) und Handelsdrehscheiben (Hafen von Piräus) zu unterwandern oder ganz zu übernehmen?
Und genau das ist der entscheidende Punkt, warum die Bündnisfrage jetzt und schnell geklärt werden muss: Die aktuelle Krise schwächt die europäische Wirtschaft massiv, und das könnte uns schon sehr bald vor unangenehme Fragen stellen. Bieten wir den Chinesen unsere Unternehmen in der Post-Corona-Ära zum depressionsbedingten Schnäppchenpreis an? Oder setzen wir endlich Grenzen?
Wenn wir jetzt nicht das Prinzip echter Reziprozität – also China darf bei uns nur das, was wir auch in China dürfen – durchsetzen, dann nie mehr. Dann könnte Europa auf lange Sicht ein ähnliches Schicksal wie Afrika erleiden. Man begäbe sich auf den schleichenden Weg zur chinesischen Kolonie. Oder um es in Henry Kissingers Worten zu sagen: „Wenn es nicht gelingt, Amerika und Europa wieder zu einer Interessengemeinschaft zu machen, wird Amerika eine große Insel. Und die EU ein Appendix von Eurasien.“
Europa aber vermeidet bisher eine klare Festlegung und gefällt sich als Block dazwischen, als zauderndes Zünglein an der Waage. Glaubt sogar, sein Opportunismus sei Eigenständigkeit und Mut. Aber Europa als Everybody’s Darling wird es in dieser Angelegenheit nicht geben. Auch in Weltordnungsfragen kann man nicht auf allen Hochzeiten tanzen.
Die europäische Wirtschaft macht gern Geschäfte mit China und möchte dabei nicht gestört werden. Die Politik laviert. Die Italiener organisieren unter dem lächerlichen Euphemismus „Seidenstraße“ sogar schon die freiwillige Selbstunterwerfung. Immer häufiger hört man auch in Europa anerkennende Worte für die Geschwindigkeit und Effizienz der chinesischen Marktwirtschaft, für die Rigorosität des Krisenmanagements. Dass Chinas Erfolge auf einem perfektionierten digitalen Überwachungssystem beruhen, das die Perversionen von KGB und Stasi ins 21. Jahrhundert übersetzt, wird gern vergessen. Und wer so argumentiert, übersieht zusätzlich, dass manche von Chinas Erfolgen auch nur in der Propaganda des Landes existieren.
In dieser Lage ergeben sich für die Europäer zwei Bündnisoptionen. Sie können das traditionelle transatlantische Bündnis trotz Trump vertiefen, unter ausdrücklicher und engerer Einbeziehung eines Post-Brexit-Englands und verbundener Länder wie Kanada, Australien, der Schweiz und des demokratischen Teils Asiens. Oder sie entscheiden sich für eine engere wirtschaftliche Bindung an China, die immer auch eine politische Bindung ist. Dann wacht man vielleicht eines Tages auf und findet sich in einer gruseligen Gesellschaft wieder: an der Seite von China und mit ihm unverbindlich assoziierten Staaten wie Russland, dem Iran und weiteren Autokratien. Die Welt sortiert sich.
Wirtschaftliche Verflechtungen mit China mögen heute auf viele Europäer harmlos wirken, sie könnten aber schon bald auch zu einer politischen Abhängigkeit führen und letztlich zum Ende eines freien und freiheitlichen Europas.
Die Europäische Union hat die Wahl. Vor allem aber muss sich Deutschland, der europäische Wirtschaftsmotor, endlich festlegen. Paktieren wir mit einem autoritären Regime oder stärken wir eine Gemeinschaft freier, rechtsstaatlicher, marktwirtschaftlicher und offener Gesellschaften? Es ist schon bemerkenswert, dass die deutsche, zum Moralisieren neigende Politik im Umgang mit China ihre Werte zu vergessen scheint. Es geht um nicht weniger als um unser Gesellschaftsmodell und Menschenbild.
Deutschland und Europa sollten sich gemeinsam mit den USA für ein konsequentes Abkoppeln von China entscheiden. Wie es genau ausgestaltet werden müsste, gehört zu den spannendsten politischen Fragen der Zukunft. Es käme spät, aber nicht zu spät. Es wäre teuer, aber nicht zu teuer. Deutschland zum Beispiel hat mit China ein jährliches Handelsvolumen von rund 200 Milliarden Euro (Import und Export). Bei 2433 Milliarden Euro deutschem Handelsvolumen insgesamt wären die Auswirkungen massiv, aber nicht untragbar. Die Corona-Rezession markiert ohnehin einen neuen, erschütternd niedrigen Aufsatzpunkt. Eine einmalige Gelegenheit zur Korrektur eines Irrwegs.
Die geschmäcklerische Frage, welche Führungsfigur einem im Spiegel der medialen Vermittlung sympathischer ist – Trump oder Xi Jinping –, ist bei der Entscheidung wenig hilfreich. Der amerikanische Präsident macht es uns schwer. Keine Frage. Aber das transatlantische Bündnis, unsere historisch gewachsene Interessen- und Wertegemeinschaft sollte langfristig wichtiger sein als die verbreitete Verzweiflung über die gegenwärtige amerikanische Regierung. Die ist an Europa wenig interessiert – aber wir müssen für die Zeit nach Trump denken. Amerika ist bei allen Schwächen immer noch die größte und erfolgreichste Freiheitsmacht der Welt.
Ebenfalls irreführend sind die Hinweise darauf, dass Amerika ja schließlich auch Datenschutzrechte verletze, gegen Grundsätze des Rechtsstaats verstoße, Menschenrechte missachte und viele andere schreckliche Fehler mache. Es gibt einen Unterschied: China hat keinen Datenschutz für die Bürger, keinen Rechtsstaat. China hat keine Opposition im Parlament, keine Pressefreiheit, keine Meinungsfreiheit. China kennt keine Menschenrechte, wie wir sie verstehen.
Demokratie stirbt in der Dunkelheit
Wenn beide Seiten Fehler machen, liegt die Wahrheit nicht automatisch in der Mitte. Es kommt darauf an, in welchem Rahmen diese Fehler gemacht werden, ob sie überhaupt als Fehler bezeichnet und als solche erkannt werden können. Zur Selbstkorrektur brauchen Staaten eine dazu taugliche Verfassung. Demokratie stirbt in der Dunkelheit. Diktatur gedeiht darin. In Amerika lachen die Leute über ihren Präsidenten. In China ist das verboten. Und dieser autoritäre Stil reicht schon heute bis nach Deutschland. Als in einem Anzeigenmotiv des Daimler-Konzerns (dessen größter Einzelaktionär ein Chinese ist) der in China zum Staatsfeind stilisierte Dalai Lama zitiert wurde, musste sich CEO Dieter Zetsche zweimal bei der Regierung in Peking entschuldigen.
Ist das das Europa der Zukunft?
Die Fortsetzung der europäischen und vor allem deutschen China-Politik wird eine fortschreitende Entkoppelung von Amerika und eine schrittweise Unterwanderung und Unterwerfung durch China bewirken. Die wirtschaftliche Abhängigkeit wird nur der erste Schritt sein. Politischer Einfluss wird folgen. Wer die künstliche Intelligenz dominiert, wird in Zukunft erst wirtschaftlich, dann politisch dominieren. Derzeit findet das Rennen ausschließlich zwischen Amerika und China statt. China hat den großen Vorteil, kein demokratisches Korrektiv der Regulierung zu kennen. Erlaubt ist, was der Stärkung des chinesischen Einheitsstaates dient. Das macht skrupelloser und vor allem schneller. Die Wahrscheinlichkeit, dass Peking irgendwann das Silicon Valley überholt, ist nicht gering. Europäische Forschungsexzellenz kann hier zum ausschlaggebenden Faktor werden. Auf welcher Seite wollen wir sie einsetzen?
Am Ende ist alles ganz einfach: Welche Zukunft wollen wir für Europa: ein Bündnis mit einer unperfekten Demokratie oder mit einer perfekten Diktatur? Die Entscheidung müsste uns eigentlich leichtfallen. Es geht um mehr als um Geld. Es geht um unsere Freiheit, um Artikel 1, den schönsten Begriff, der je in einem Gesetzestext gestanden hat: die Würde des Menschen.