MESOPOTAMIA NEWS : DER BINÄRE WAHNSINN DER GESPALTENEN REALITÄT

OBEN KONTROLLE, UNTEN VERKEHR. DER MODERNE BÜRGER STEHT VOR EINER DOPPELTEN BÜROKRATIE, VON DER ER NUR DIE EINE HÄLFTE KENNT. DAS ERKLÄRT DEN WACHSENDEN WIDERSTAND GEGEN STAATSVERTRETER AUS VERLETZTER EHRE 

VON THOMAS THIEL – FAZ

In der Frankfurter KFZ-Zulassungsbehörde herrscht Scherenverbot. NachI gewaltsamen Übergriffen auf Mitarbeiter aus marginalem Anlass, etwa nach dem befristeten Entzug eines Führerscheins, wurden die Scheren aus den Büros verbannt. Die Maßnahme reagiert auf eine lange Kette von Aggressionen gegen Behördenvertreter, die auch auf anderen Feldern zu beobachten sind. Vorfälle dieser Art treffen Politiker, Polizisten, Verkehrswächter. Auf teils irrationale, teils berechtigte Proteste trifft die Bahn bei der Streckenplanung und neuerdings die Bundesregierung bei der Verlegung der Mobilfunktechnologie 50. Eine neue Eskalationsstufe erreichte die Konfrontation Ende Januar, als ein Mann in der hessischen Gemeinde Eppstein einen Notarztwagen umparkte, weil er sich in seinem Anrecht auf freie Fahrt für freie Bürger eingeschränkt gefühlt hatte.

Der Konflikt entzündet sich mittlerweile regelmäßig dort, wo Repräsentanten des Allgemeinwesens auf Individuen treffen, denen in Wirtschaft, Werbung, Poli: tik mit Rücksicht auf ihre ganz besondere Persönlichkeit (Mein Rewe, My Muesli) unbegrenzte Wahlfreiheit versprochen wird. Langfristige kollektive Planung trifft auf kurzfristige Gewinnabsichten. Weil die Straßenverkehrsordnung kein personalisiertes Menü ist, bedeutet dieser Konflikt für den Einzelnen regelmäßig einen harten Aufprall. Das dadurch entfachte Ressentiment wird an Objekten ausgetragen, die weniger Widerstand erwarten lassen als Behörden und Gesetze.

Hinter dem Protest steht zunächst einmal der Wunsch, innerhalb der großen virtuellen Kommunikationsgemeinschaft von mehreren Milliarden Menschen überhaupt wahrgenommen zu werden. Nicht zufällig war Stuttgart 21 die öffentliche Geburtsstunde des Wutbürgertums. Die schwäbische Wut war genauer betrachtet ein Notschrei des bürgerlichen Anspruchs auf Repräsentation. Wozu baut man all die schönen Gebäude, die Museen, Stadien und Bürgerhäuser, wenn der Verkehr unter der Stadt hindurchrauscht?

Was die Wut hochkochen lässt, ist aber erst der Umstand, dass ausgerechnet das Medium, das Ich-Stärke und Freiheit von Bürokratie verspricht, den Bürger unter der Hand in eine zweite Bürokratie einwebt. Als die Magna Charta für den Cyberspace 1995 die reibungslose Auflösung der Materie in Information, mithin das Ende von Staaten und Behörde verkündete, deutete Friedrich Kittler (F.A.Z. vom 9. September 1995) schon auf die bürokratische Spinne, die unterhalb der Institutionen ein zweites Netz webt. Unter dem Schleier des Internets, das nur das Medium dieser opaken Bürokratien ist, sah Kittler schon damals die große Bürokratie aus Hard- und Software heranwachsen, die mit der romantischen Idylle des Single User aufräumt.

Diese Bürokratie hat keine eigenen Gesetze und Verfahren, keine Richter und Anwälte, keine Amtsgebäude und Öffnungszeiten: Sie nimmt sich ihr Recht, ohne dass man ihr den Diebstahl zuschreibt. Die paradoxe Folge der schier grenzenlosen Zahl der Kommunikationsmöglichkeiten ist auf Facebook zu betrachten, wo sich zwei Milliarden Menschen mit der Bereitschaft treffen, ihr Grundrecht auf Privatsphäre aufzugeben. Wir lassen uns unsere Freiheit nicht nehmen?

Ist der Protest auf räumlicher Ebene ein Aufstand des Konkreten gegen das Abstrakte, so ist er auf der Zeitachse eine Folge der Dauerverspätung staatlicher Bürokratie. Das Internet begann publizistisch mit einer Kampfansage an Staat, Institution, Politik. „Wir brauchen keine Könige, keine Präsidenten und Wahlen”, schrieb David Clark 1992 in einer berühmt gewordenen Formel:  „Wir glauben an: rough consenus  und running code.“

Der „running code“  ist heute nicht mehr nur die Sache von Hackern und Programmierern,  sondern auch von Tech-Unternehmen und Geheimdiensten. Er unterläuft Rechtsordnungen, hebt Grenzen auf, provoziert maßlose Polemiken gegen den Nationalstaat, als stünden die Weltinstitutionen, die seine Aufgaben übernehmen, schon in den Startlöchern.

Nun ist der „grobe Konsens”, mit dem Clark und seine Gesinnungsgenossen staatliche Institutionen und ihre Regeln ersetzen wollen, kein Modus für die Verteilung von Steuergeldern. Wo die Politik, anders als bei der Datenschutzgrundverordnung, nicht beherzt die Initiative ergreift, rennt ihr der Code davon.

Legislativ und exekutiv in Verzug, übernimmt sie selbst die von der Netzökonomie geprägten Muster, wird übergriffig ins Private, wie das Transplantationsgesetz von Gesundheitsminister Spahn, das bezeichnenderweise auf die vom europäischen Datenschutz verworfene Opt-OutLösung zurückgreift. Parallel dazu verändert sich der Entscheidungsmodus. Tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen wie die gleichgeschlechtliche Ehe werden im Schnellverfahren durchgepaukt, als bliebe für gesellschaftliche Debatten keine Zeit. Mitunter wird der offene Bruch mit dem Rechtsstaat in Kauf genommen (F.A.Z. vom 28. Februar).

Der moralische Ausgleich, der dem Bürger für Rechtsverluste angeboten wird, ist dann aber ebenfalls ein Scheingeschenk. Statt Strukturen zu verändern, reagiert man mit der Manipulation von Verhalten, der Stigmatisierung von Genüssen und dem Ausbau der Überwachung. Dem Bürger bleibt die Aufgabe, sich zu modernisieren, von alten Gewohnheiten Abstand zu nehmen und zu begründen, warum das auf seine eigene Entscheidung und nicht auf sozialen Druck zurückgeht.

Kommen wir zum Auto. Besonders deutlich wird der Zeitverzug des Politischen nämlich auf der Autobahn. Autobahnen werden staatlich betrieben, jede neue Strecke ist eine riesige Bürokratie, die tausend unterschiedliche Ansprüche austarieren muss. Das dauert. Das Datennetz, das die Autobahn mit dem teilautonomen Mobil bekommen soll, sichert der Politik zwar Einkünfte und Überwachungsmöglichkeiten, kann von ihr selbst aber nicht mehr beaufsichtigt werden, weil es ihr dazu an informationstechnischer Kompetenz und am Geld für Fachkräfte fehlt.

Eine Nebenfolge ist, dass der tiefgreifende Rechtswandel, der mit dem selbst: steuernden Auto einhergeht, politisch gar nicht erst thematisiert wird. An die Stelle der unabwiegbaren Würde der Einzelperson (Kant), von der die deutsche Rechtsordnung ausgeht, tritt mit dem Daten-Chauffeur das angloamerikanische Rechtsmuster des größten Glücks der größten Zahl. Man muss sich also schon entscheiden: entweder Homunculus am Steuerknüppel oder freie Fahrt für einzigartige Bürger. Hinter dem irrational wirkenden Protest gegen die Kabelverlegung, die das alles möglich machen soll, steht damit auch ein rationales Anliegen: nicht zum Objekt unter Objekten werden zu wollen im großen Netz der Dinge, sondern als Person anerkannt zu bleiben, die man nach gültiger, aber unzureichend durchgesetzter Rechtsordnung weiter ist.

In dieser Situation wird das Auto zur Rückzugsinsel für Freiheitsansprüche im Moment ihrer auch hier bevorstehenden Ablösung durch das selbststeuernde Mobil, das mit seinen für den Verkehrsfluss nötigen Überwachungstechniken Freiheit beschränken muss. Anders als bei den amtlich festgesetzten Emissionswerten regt sich dagegen kaum Widerstand. Gegen Proteste behelfen sich Justiz und Politik damit, aktivistischen Bewegungen die Gemeinnützigkeit abzuerkennen, was trotz aller Eigeninteressen solcher Bewegungen ein Mittel ist, die Zivilgesellschaft nicht zufrieden-, sondern ruhigzustellen.

Dass das Auto trotz allem ein positiv besetztes Statussymbol bleibt, liegt nicht nur an seinem Mobilitätswert, sondern auch daran, dass es mit größeren Renditen der Datenökonomie eingespeist werden kann als beispielsweise der Alkoholkonsum und der Schokoladenverzehr. Dass Letztere wie das Rauchen zum Gegenstand von Verhaltensmanipulation werden, wird langfristig nur dadurch abzuwenden sein, dass auch Bierflaschen und Schokoladentafeln Teil jenes großen Netzes der Dinge werden, das verwertbare Informationen über ihre Konsumenten liefert. Den Kampf um eih unbeschwertes Leben muss der Westen zuallererst gegen sich selbst ausfechten.

Was bedeutet das für das Recht? Den Druck, den die gesteigerten Ansprüche auf subjektive Geltung auf Rechtsstaat und demokratische Konsensbildung ausüben, hat die Politikwissenschaftlerin Judith Shklar schon vor langem als Übergang von einem Liberalismus des Allgemeinen zum „Liberalismus der Rechte” beschrieben. Dieser Strang des Liberalismus, der den Anspruch des Individuums gegen den Staat verteidigt, hat in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung große Erfolge errungen, als er den Anspruch der amerikanischen Verfassungsväter nach allgemeinem Wahlrecht mit der Doppelmoral konfrontierte, dass es der afroamerikanischen Bevölkerung versagt wurde.

Seit er eine subtile Allianz mit Strängen der neoliberalen Theorie eingegangen ist, die Minderheiten als kreativitätsfördernde ökonomische Ressource begreifen, hat dieser Liberalismus eine doppelte Zielsetzung, aber keine klare Richtung mehr. Einmal geht es um die Förderung von Minderheiten als kreative Bereicherung von Teamarbeit, das andere Mal um ihre politische Anerkennung.

Dass die Subjektivierung von Rechtsansprüchen im Zug der Migration zuneh men wird, ist zunächst einmal zu erwarten. Mit wachsender Heterogenität der Gesellschaft wächst die Schwierigkeit, das Allgemeinwohl zu bestimmen, und sinkt die Erwartung, dass die eigenen Überzeugungen und Interessen im demokratischen Konsens aufgehoben sind. Die Skepsis gegen demokratische Repräsentanz wird erst dann wieder schwinden, wenn es gelingt, den Eindruck zu vermitteln, dass eine allgemein akzeptierte Wertordnung gefunden und durchgesetzt ist. Bis dahin erhöht sich die soziale Lautstärke und verschiebt sich das Muster bei der Durchsetzung politischer Ansprüche. In der identitätspolitischen Variante wird der Kampf um politischen Einfluss als Opferkonkurrenz geführt. Der Opferstatus muss in einen hart umkämpften Katalog von Gerechtigkeitstiteln — das Diskriminierungsnarrativ — eingefügt und gegen konkurrierende Ansprüche verteidigt werden, um nicht wirkungslos zu bleiben. Die Justiz steht dem wieder-oder neu erwachten Anspruch auf persönliche Ehre heute noch ratlos gegenüber.

Die Berufung auf das verletzte Gefühl ersetzt nicht das Abwägen von Empfindlichkeiten mit allgemeinen Ansprüchen. Zugleich ist das Rechtsgefühl ein Korrektiv für das Abgleiten des Rechts in leeren Formalismus und Doppelstandards. So täuschend und selbstgerecht dieses Gefühl auch sein kann, ist es doch nicht einfach als trivialer Affekt abzutun. „Kann sein …”, sagt Kleists Michael Kohlhaas, der zugleich tugendhafteste und entsetzlichste Mensch seiner Zeit, als ihm ein zürnender Martin Luther vorhält, dass der erlittene Ehrverlust seine Untaten nicht rechtfertigt. „ …kann sein, dass nicht.” So maßlos die Konsequenz des um sein Recht gebrachten und darob brandschatzend durch die Lande ziehenden Rosshändlers ist, so zeigt sich, wie schwer ein gekränkter Anspruch auf Gerechtigkeit zu befrieden ist.

THOMAS THIEL FAZ 12 März 2019