MESOPOTAMIA NEWS : DAS ANTI-DEUTSCHE IST GERADE SEHR DEUTSCH / Die ödipale GrossNeurose mit der Kultur-Abstammung (Nicht zuletzt ist Nichtdeutschseinwollen sehr deutsch)

Was ist denn daran deutsch?

Verhaltensunsicherheit: Wir fragen uns zu viel über uns / Von Jürgen Kaube

Die Frage, was deutsch ist, lässt sich nicht klären. Denn wir haben zu viele Antworten darauf. Wir wissen viel, zu viel über dieses Land, seine Bewohner, seine Geschichte. Nicht, dass andere Länder weniger über sich wüssten, aber dort wird solches Wissen nicht ständig zur Beantwortung der Frage herangezogen, wer man sei. „Deutschland ist Hamlet”, hieß es im .neunzehnten Jahrhundert, was auch meinte: Es ist verhaltensunsicher. Wir wissen also auch darum zu viel, weil ständig darüber laut nachgedacht wird, was deutsch ist, mit einerseits starken Behauptungen und andererseits großer Unsicherheit, ob sie zutreffen. Je mehr aber über eine Sache gewusst wird, desto widersprüchlicher erscheint sie.

Also ist deutsch das eine und sein Gegenteil: die Ingenieurskunst und die Romantik, die Rechthaberei und die Unentschiedenheit, die Sehnsucht und der Golf Diesel, das Protestieren und das Mitlaufen, der Außenhandelsüberschuss und der Tourismus, die Querelen um die Ein-wanderung und die Gedenkkultur, Stefan George und Erich Kästner, die Humorlosigkeit und Gerhard Polt.

Nicht zuletzt ist Nichtdeutschseinwollen sehr deutsch. Spätestens hier ahnt jeder, wie kompliziert und letztlich aussichtslos die Sache ist. Außerdem wird nicht selten etwas für typisch deutsch erklärt, von dem leicht nachzuweisen wäre, dass es auch andernorts existiert: das gegliederte Schulsystem, der Mangel an Geschmack, Eintopf. Was deutsch ist, entdecken wir jedenfalls, und zumindest das ist deutsch, in jeder Kleinigkeit wieder, die wir in diesem Land und an diesem Land erfahren. (Man kann seine Freizeit natürlich auch anders verbringen, vielleicht wäre es sogar besser so.)

Ein Beispiel: „In welchem Land ist man”, fragte gerade jemand auf Twitter, „wenn im komplett leeren Zug jemand darauf besteht, ausschließlich auf seinem reservierten Platz zu sitzen?” Und bot drei Antworten zur Auswahl an: Deutschland, Deutschland und Deutschland.

Eine kleine Debatte schloss sich an. Einer fragte zurück, weshalb sich überhaupt jemand in einem komplett leeren Zug auf den einzigen reservierten Platz setze, um dann in Konflikt mit dem Reservierungsbesitzer zu kommen. „Aus Protest gegen das Establishment?” Japan wird als Antwortmöglichkeit vorgeschlagen, außerdem Großbritannien und die Schweiz, was alles unkommentiert bleibt. Jemand anderes schreibt „Österreich”, worauf einerseits widersprochen wird, andererseits Aufklärung über die Reservierungsgepflogenheiten bei der österreichischen Bahn erfolgt (Wenn es denn Aufklärung war; auf Twitter wird viel behauptet, ohne dass die Behauptungen auch nur andeutungsweise belegt würden, man muss sich kurzfassen und will ja nur spielen).

Wieder jemand anderes gibt als Motiv für das Bestehen auf der Reservierung „Platzangst” zu bedenken. Es kommt zu einer Minidebatte, ob das die richtige Bezeichnung für eine Aversion gegen gedrängtes Reisen ist. Schließlich weist jemand darauf hin, dass Reservierungen verfallen und umgekehrt nichtreservierte Plätze durch Last-Minute-Reservierungen belegt werden können, weswegen man in der Bahn nie sicher weiß, was alles reserviert ist. Man solle also nicht sofort auf Deutschland schließen. Vielleicht wollte die Person nur jene nervigen Kettenreaktionen des Sichumsetzens vermeiden, die daraus entstehen können, dass man nicht seinen reservierten Platz einnimmt.

Dann aber wendet jemand ein: „In Deutschland gibt es keine komplett leeren Züge.” Da könnte etwas dran sein: Nicht nur im Allgemeinen leben die sogenannten Diskussionen auf Twitter von hemmungslosen Übertreibungen, auch im Besonderen diejenigen zur Frage, was typisch deutsch sei. Vielleicht war also der Zug gar nicht komplett leer, sondern es waren vielmehr nur ausreichend Plätze frei. An diesem Punkt endet die Debatte soweit wir sie verfolgt haben, fast. Aber nur fast, denn zum Schluss wird auch noch das Motiv variiert, deutsch sei es jederzeit bereit zu sein, über die Frage zu diskutieren, was deutsch sei: „In welchem Land ist man, wenn im komplett leeren Zug jemand sich fragt, in welchem Land man ist, wenn ein Mitreisender darauf besteht, auf seinem reservierten Platz sitzen?”

JÜRGEN KAUBE FAZ 9 August 2018