MESOPOTAMIA NEWS :  Biokapital – DIE HAUPTTENDENZ IN DER ANTIRASSISTISCHEN WELT IST  SELEKTION & SEGREGATION 

 Markterzeugte Neue Eugenik und politische Ökonomie des Körpers –

DER NEUE ZWANG ZUM GANZEN  – Von Klaus Koch (MERKUR)

Eigentümer seines Körpers zu sein, wie die Philosophie des aufgeklärten Liberalismus es wollte, wird allmählich sehr anstrengend. Es ist zuviel, was ihm zugemutet wird, was er tragen soll: an Bedeutung und Ausdruckskraft, heute Identität genannt, an fortwährender Präsenz und Öffentlichkeit, an Leistungsfähigkeit und extensiver Disziplin. Selbst seine Genußfähigkeit ist noch Leistungsprodukt.

Das macht die Freiheit fragwürdig, die das Eigentum am Körper gewähren soll.

Und im Kampf um Menschen- und Bürgerrechte soll es ja erst notwendig und unveräußerlich geworden sein: Habeas corpus. Nun breitet sich Unruhe darüber aus, ob man über den Körper noch verfügt, ob er Akteur und Adressat von Freiheiten sein kann, autonom. Er verliert ja auch sichtlich an Kontur und Bestimmtheit – ebenso wie die soziale Welt, in der er sich bewegen muß.

Zugleich winken und drohen überall verlockende Angebote, das Körpereigentum zu stärken und seinen Wert zu vermehren: den Körper mit mehr Sicherheit und Dauer zu versehen, ihm Harmonie der Gestalt zu verleihen, ihn in einer Nachkommenschaft mit optimaler Ausstattung zu bestätigen.

Da diese Angebote als wissenschaftliche Neuerungen auftreten, also zukunftsbedeutend, und da sie über den Markt daherkommen, also Konkurrenzlust locken, sind sie schwer abzuweisen. Die Wertsteigerung des Körpereigentums durch die zahlreichen Investitionen, zu denen der technische Fortschritt auffordert, verschafft freilich keinen vermehrten Genuß. Im Gegenteil, man muß um so empfindlicher wahrnehmen, daß die Privatheit dahinschwindet, die das ja allzeit beschwerliche Eigentum erst erträglich und angenehm macht.

In der liberalen Marktgesellschaft mußte der Körper als ein Eigentum besessen werden, er war gleicher Art wie der Güterbesitz: Es sollte niemand gezwungen sein, sein Leben vertraglos anderen zu deren Genuß zur Verfügung zu stellen. Das hatte sich gegen den Tyrannen, auch gegen den Staat gerichtet.

Zumindest die Fiktion der Privatheit des Körpereigentums war vonnöten, damit über dessen zeitweilige Ausleihung verhandelt und Verträge geschlossen werden konnten. Dazu war Privatheit verlangt, die vor unerwünschten Einblicken in den Körper schützte, andererseits den Besitzbürger fähig machte zur Assoziation. Nur so konnte schließlich der Sozialstaat, namentlich durch seine Versicherungsorganisation, seine Solidaritätstechnik an den Körper heften: Indem man ihm seine Privatheit ließ, konnte er in seinen Defekten und Zufälligkeiten geschützt und sozialfähig gemacht werden.

Alles in allem war das eine nicht unelegante Konstruktion des politischen Liberalismus, um dem Körper, dem weiterhin undurchsichtigen und unerklärten, eine sinnvolle Funktion im aufsteigenden Kapitalismus zuzuweisen.

In Amerika wird sie noch immer ernst genommen;[1]) ohne Unterbrechung debattieren konservative und sozialdemokratische Liberale wieder einmal darüber im Streit um die weitere Verminderung des welfare state.

Doch ist die Idee vom Körper als dem Träger bürgerlicher und ökonomischer Freiheiten nicht mehr zu retten. Nicht nur ist die Privatheit dahin, die er braucht, es sind auch die Freiheitszwecke verloren, für die er einstehen soll. Vor allem aber sind es die radikalen technischen Transformationen, die die schöne Idee vom freiheitsgarantierten Körpereigentum als nur noch Ideologie bloßstellen.

In der besitzindividualistischen Abstraktion des Körpers ist eine Erfahrung vergessen oder bewußt ausgespart, die den Europäern eingebrannt ist, auch wenn sie schwächer geworden ist. Wenn am Nahhorizont der Erwartungen heute ein von Erbleiden befreiter Körper in strahlender Potenz erscheint, so ist auf der Wand der Gegenprojektion nicht nur der unternehmerische Körpereigentümer und Citoyen zu sehen.

Neben ihm ist ein Schatten wahrzunehmen. Es ist der Schatten all derjenigen, die aus den Lagern des totalitären Jahrhunderts zurückgekehrt oder dort umgekommen sind.[1]) Sie waren auf den nackten Körper reduziert, der keine menschliche Eigenschaft mehr zu tragen hatte, nur den Namen noch und die Nummer. Es waren die notwendigen Rückstände aus dem gereinigten und zusammengeschlossenen Volkskörper, der die ausgeschiedene Bevölkerung der Unpersonen brauchte.

Wenn das Volk als ein Leben im Ganzen und Einheitlichen entstehen sollte, mußte es sich derjenigen entledigen, die nicht hineingehören konnten – ohne sie konnte es das Ganze nicht geben. So durften sie nur reines Naturmaterial, nur Körper sein, und deswegen nicht einmal Feind.

Diese Erfahrung muß auch das Bild von der stolzesten Blüte der politischen Kultur trüben, der demokratischen Nation »une et indivisible«, in der der Bürger mit seinem Körpereigentum sich entfalten und bewähren konnte. Die Nation erzeugt die Ausgeschlossenen, und es irren heute Millionen umher, denen außer ihrem Körper nur wenig mehr zu eigen ist. In ihnen lebt die Welt der Lager fort, die barbarische Konsequenz des Willens zur Einheit, zum unverletzbaren Ganzen.

Der bürgerlich-kapitalistische Körpereigentümer, der in diesem Eigentum seine Freiheiten erwirbt und genießt, und der nackte Körper der Eigenschaftslosen in den Lagern – sie stehen nicht gegeneinander. Gemeinsam erst geben sie der nächsten Utopie ihr Relief.

Die Utopie von der vollkommenen Gesundheit[1]) im harmonischen und selbstbeherrschten Körper will freilich von beiden nichts wissen, will sie hinter sich lassen. Sie denkt nicht an eine Gesellschaft, die Freiheit braucht. Das macht sie, der Markt und Technik mächtig in die Segel blasen, nur um so attraktiver. Zur Ideologie wird auch sie geraten. Aber noch ist es nicht soweit. Erst einmal hat sie manches zu versprechen, nicht nur Vermehrung von Leben, sondern auch Emanzipation.

Angebotsökonomie der neuen Eugenik

Es gehört zu der unerklärlichen Kurzsichtigkeit, die sich mit der restlosen Weltdurchdringung des Kapitalismus ausbreitet, daß die nahezu gleichzeitige Umwälzung kaum wahrgenommen, jedenfalls als ein Epochenschritt nicht begriffen wird: Die Eugenik ist nicht mehr bloß Utopie oder Bedrohung, sie ist unauflöslich in den Zivilisationsprozeß eingelassen und setzt seine nächste Finalität.

Das anzuerkennen weigern sich nicht nur die Wissenschaften – was man begreifen kann –, sondern auch die zahlreichen Ethikkommissionen, die sich um nationale, europäische oder globale Konventionen und Gesetzgebungen bemühen. Viele ihrer Gebote und Verbote sind rückwärts gerichtet, auf die Verhinderung einer negativen und einer melioristischen Eugenik, die noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fortgelebt hat.

Es ist noch immer die Eugenik des Industriezeitalters gemeint, wenn etwa die Gentherapie an der Keimbahn oder Forschungen über die Ektogenese gebannt bleiben. Spielt dabei zwar auch die Unterbindung einer embryonenverbrauchenden Forschung eine Rolle, so sind die Imperative dieser Kommissionsethik vor allem auf Bewahrung gerichtet, gegen die Instrumentalisierung des Körpers als einer Verstümmelung der Persönlichkeit und ihrer Nachkommenschaft. Die in das totalitäre Jahrhundert zurückblickende Abscheu gegen Rassenhygiene und Züchtungswahn ist jedoch heute nur noch nachholende Bewältigung.

Wie spätestens seit Beginn der neunziger Jahre wahrzunehmen ist, wird soeben der Eintritt in eine neue Ära der Eugenik vollzogen – der großmächtige Begriff läßt sich nicht umgehen.

Der neuen Eugenik sind die politischen, noch immer auf Gesetzgebung und entscheidungsleitende Öffentlichkeit zielenden Apparate nicht mehr gewachsen. Sie wird daher auch von der Kompetenz der Ethikkommissionen nicht erreicht. Diese gehören selber zu den Institutionen, die sich die neue Eugenik umzustürzen anschickt. Es bleibt ihnen und ihren Auftraggebern zwar nichts anderes übrig, als die öffentliche Diskussion auf sich zu konzentrieren, aber sie erweisen damit je länger, desto deutlicher ihre Ohnmacht. Und sie verstellen den Blick auf einen nahenden Zustand, den sie zwar ahnen, den sie aber noch nicht beschreiben und benennen dürfen. Die Zumutung wäre zu groß. Aber sie kann, auch beim besten Willen, von Experten und ihren Organisationen nicht geleistet werden. Es ist ja auch der Kapitalismus selber zu einer Unbenennbarkeit geworden.

 

Die Ethikkommissionen und die organisierte Wissenschaft sind zum Verschweigen ihrer Ahnungen verurteilt, weil sich über die Durchsetzungsformen der neuen Eugenik, über ihre soziale Gestalt, einstweilen nicht akzeptabel spekulieren läßt. Doch ist die Prozeßlogik bereits erkennbar. Sie konstruiert sich aus vorgezeichneten technischen Fortschritten, aus den Überlebenszwängen einer risikoökonomisch getriebenen Weltgesellschaft und aus den Folgen des Institutionenverfalls.

Der Forderung nach vollkommener Gesundheit – der UN-Formel zufolge: nach Abwesenheit jeder physischen, psychischen und sozialen Behinderung individueller Entfaltung – kann sich auf Dauer niemand widersetzen, da sie mit dem Markt und seiner Angebotsdynamik im Bunde ist.

Der Markt der geschaffenen und noch zu schaffenden Bedürfnisse, auf den die immensen Investitionen der chemischen und der pharmazeutischen Industrien zielen, ist bereits vorgeformt und gesichert, zugleich ist er unübersehbar offen.

Es gibt keinen anderen noch zu erschließenden Gütermarkt, auf dem so viel Angebot bei so wenig Risiken und Nebenkosten erzeugt werden kann. Fast alle Güterproduktionen, sogar die Telematik, stoßen an ihre natürlichen Grenzen, verbrauchen unerträglich viel Umwelt. Die Produktion des Gutes »perfekte Gesundheit« kennt solche Beschränkungen kaum. Die Massennachfrage nach diesem Gut, die auf direktem Wege in die Eugenik führt, ist nach heutigem Sichtvermögen unbegrenzt.

Die Drift zur Eugenik ist schon deswegen unaufhaltsam, weil sich niemand, der im Markt und in staatlicher Ordnung lebt, der Notwendigkeit der fortwährenden Prognose seiner biologischen Erwartungen entziehen kann. Der Zwang zur individuellen Prognose wiederum verstärkt sich mit der Diversität und der Verfügbarkeit der Tests, die sich aus der Erschließung des Genoms ergeben, nunmehr mit hoher Geschwindigkeit.

Statistik, also vornehmlich Epidemiologie, und Erforschung der Infektionskrankheiten hatten den Boden dafür bereitet. Ihre Einkreisung von Pathologien als kollektiven Störungen oder Risiken hatte, im Hygienestaat der industriegesellschaftlichen Epoche, der sozialen Sicherheit und Kontrolle zu dienen. Seuchenkontrolle und Gesundheitsstatistik waren also immer auch politischer Natur, erfaßten das Individuum als soziales. Ihre Qualität ändert sich mit der Genomanalyse, die eine Pandorabüchse von Testmöglichkeiten eröffnet und dringlich zu deren Gebrauch auffordert.

Wo bisher Gesundheitskontrolle und -vorsorge von der Prognose der kollektiven Wahrscheinlichkeit ausgegangen waren und die Individuen zu bestimmten Verhaltensweisen angehalten hatten, tritt mit der Genomanalyse der Zwang zum Selbstinteresse und zur ständigen Zukunftsberechnung in den Vordergrund.

Unter der Aufsicht von kollektiver Prognose und Gesundheitssicherung durfte das Individuum gewissermaßen verantwortungslos für sich bleiben; es mußte nur, wofür schon die Gebote bürgerlicher Moral sorgten, seine Arbeitskraft und die Kraft zu sozialer Kompetenz aufrechterhalten. Aber es brauchte nicht viel von seiner biologischen Kondition zu wissen, konnte es auch nicht. Seine systematische Prognose wurde nicht angestellt, sie wurde allenfalls vom Experten höchst ungefähr kombiniert, man konnte darauf nicht verpflichtet werden.

Mit dem rasch anwachsenden Angebot von biotechnischen Tests verlieren die Individuen die Unschuld der Unwissenheit von ihrem Körper. Zur Prognose, die sich aus der Genomanalyse entfaltet, treten die Neurowissenschaften, deren Kontroll- und Prognosekompetenz ebenfalls rasch zunimmt und Anerkennung erzwingt. Schließlich sind Psychotests aller Art für die mittleren und höheren Einkommensschichten weithin zur Selbstverständlichkeit geworden, gegen die es, so fragwürdig sie oft sein mögen, kaum noch Vorbehalte gibt. Welches Wissen über sich und ihre biologischen Erwartungen die Individuen mit Hilfe der Zwangsangebote von biotechnischen und psychologischen Tests auch immer gewinnen: Indem sie sich ständig ihrer Prognose aussetzen, werden sie zur Marktreife – für die Teilnahme an der Eugenik – erzogen.

In den USA haben die Arbeitnehmer bei inzwischen 50 % der Einstellungsgespräche biologische Testdaten vorzulegen, in der Industrie werden von zwanzig Prozent heute gentechnische Tests verlangt. Dies geschieht in der Regel aufgrund von Vereinbarungen mit den Gewerkschaften. Diese haben, solange Mindeststandards des right of privacy gewahrt bleiben, grundsätzlich so wenig dagegen einzuwenden wie die Arbeitnehmer selber. Da für achtzig Prozent der amerikanischen Arbeitnehmer die Unternehmer die Krankenversicherungskosten tragen und diese gemeinsam mit den Versicherungsfirmen festlegen, wird akzeptiert, daß damit so ökonomisch wie möglich gewirtschaftet wird. Die Krankenversicherung ist Teil des Einkommens, wird zusammen mit diesem verhandelt. Eine besondere kapitalistische Pointe ergibt sich daraus, daß die Rückstellungen für die Krankenversicherung ebenso wie für die Pensionen in mutual funds eingebracht sind, die zu den potentesten Anlegern auf den Weltfinanzmärkten gehören, sich im Interesse ihrer Klienten auf den shareholder value konzentrieren müssen – und heute besonders gerne in die pharmazeutischen Industrien investieren werden.

Also auch in die Biotechnik und die Testindustrie – gewissermaßen ein kompletter kapitalistischer Kreislauf, den auch jeder amerikanischer Arbeitnehmer für vernünftig halten wird, der das Unternehmensinteresse als sein eigenes Interesse begreift.

Das ökonomische und soziale Gelände für die Eugenik ist also vorbereitet. Auf ihm wird sich, folgt man den Erwartungen der Mehrzahl der Sachverständigen, bis etwa zum Jahr 2010 folgendes ereignen: Es werden, nach dem nach Abschluß des Humangenomprojekts, also der Erstellung des Inventars aller Träger von Erbeigenschaften, Therapien für mehrere Massenkrankheiten oder -störungen, deren veranlassende Gene bereits lokalisiert sind, auf dem Markt sein. Dazu gehören Diabetes, der arterielle Hochdruck, die Myopathie, die Fettleibigkeit – von der heute bis 25 Prozent der Europäer und Nordamerikaner befallen sind –, mehrere Krebsformen, darunter der Brustkrebs.[1]) Das sind zumeist polygene Krankheiten, die auch durch Umweltfaktoren bedingt werden. Sie sind also am Gen allein nicht zu beseitigen, aber am Gen wird angesetzt werden müssen. Man wird bis dahin auch Gene gefunden haben, die mehr oder weniger pathologische Charaktereigenschaften steuern, etwa die Langlebigkeit.

In spätestens zehn Jahren wird auch die Technik der präkonzeptionellen Geschlechtsbestimmung perfektioniert sein und weithin praktiziert werden.

Das ist ein besonders drastisches Beispiel für den plötzlichen Konstitutionswandel von der negativen zur positiven Eugenik. Wenn bisher die Geschlechtswahl hauptsächlich durch Elimination gehandhabt wurde, also durch Abtreibung des mit Hilfe pränataler Echographie festgestellten unerwünschten Geschlechts, so nimmt die präkonzeptionelle Geschlechtsbestimmung mit einemmal diesen Makel. Was insbesondere für Indien, wo Geschlechtswahl durch Tötung weiblicher Embryos noch heute massenhaft geübt wird, von Belang ist, wird dann auch im Westen, wo man solches bisher nur ausnahmsweise und heimlich betreibt, gerne akzeptiert werden.

An diese Technik schließt sich im übrigen auch die gezielte Weitergabe von erwünschten Erbeigenschaften an, etwa des Pigmentgehalts der Haut oder der Körpergröße. Schon die präkonzeptionelle Geschlechtswahl führt, nunmehr schuldbefreit, wenn auch nicht ohne Preis, nämlich über den Markt, weit in die Eugenik hinein. Sie wird am Ende auch keiner therapeutischen Rechtfertigung mehr bedürfen. Sie stellt, im Unterschied zu den Gentherapien, eine kassenfreie Eugenik dar.

Vermutlich wird auch schon im nächsten Jahrzehnt mit einem Tabu der Bioethik gebrochen werden, der Keimbahntherapie, die von allen heutigen Gesetzen und Konventionen untersagt ist.[1]) Der Anstoß dazu wird voraussichtlich von den polygenen, mit Verhaltensweisen und Umwelt verbundenen Massenanomalien gegeben werden. Es könnte sich nämlich erweisen, daß die bislang allein erlaubte Körperzellentherapie, also die Heilung nur am Individuum, zu aufwendig und zu kompliziert ist oder daß die Patienten nicht von Generation zu Generation eine Prozedur mitmachen wollen, die sich durch einmalige Behandlung an der Keimbahn erübrigen läßt. Die massenhafte Marktnachfrage könnte also die Aufhebung eines Verbots legitimieren, das vor allem mit der Abwehr einer melioristisch motivierten Eugenik begründet wird.

Bleibt freilich die zweite Begründung des Verbots: das unbekannte Risiko von gefährlichen Synergien bei der Ausschaltung von mehreren Erbdefekten, die an großen Populationen auftreten. Dies mag partiell eine technische Barriere sein, doch kann sie nur auf Zeit der Finalität Widerstand leisten, die in der Genomanalyse angelegt ist: der sukzessiven, durch Markt und freie Entscheidung der Individuen gesteuerten Veränderung des Genomdesigns. Blickt man zurück auf die rapiden Fortschritte der humangenetischen Technik und der Fortpflanzungsmedizin und die gleichzeitigen Anpassungen der Standards der Massenmoral, dann wird man die Kraft der Institutionen, den schnellen und breitgestreuten Eintritt in die Eugenik aufzuhalten, nicht mehr hoch einschätzen können.

 

Entheimlichung des Körpers

Es wäre also verlangt, daß man sich nunmehr ganz in Besitz nimmt und damit seine biologische Optimierung selber plant? Nichts anderes.

Die Lesbarkeit des Genoms bedeutet, daß man damit umgeht wie mit jeglicher Schrift und daß man es nach Kräften vollendet, die Schrift vollzieht. Was Vollendung schließlich sein soll, wenn nicht nur größtmögliches Gleichgewicht des körperlichen Befindens, muß unbestimmt bleiben. Aber es ist unmöglich, das Genom unberührt zu lassen. Wenn man nicht selber damit umzugehen weiß, werden es womöglich andere repressiv tun.

Man kann also die Sache nicht einfach an sich herankommen lassen und abwarten, was geschieht. So kommt man auch nicht umhin, mit der massenhaft vorhandenen Information zu spekulieren. Es gibt mittlerweile so viele Evidenzen und Nahezu-Gewißheiten über die Straße zur Eugenik, daß man der Notwendigkeit zu konstruieren nicht entgehen kann, will man sich nicht der Unordnung und der Verzweiflung überlassen. Es spekulieren ja auch nicht wenige, die meisten zur Zeit allerdings noch auf Baisse. Sie geben sich den kommunen Wonnen der Rede vom Prothesenmenschen oder von der Eroberung des Körpers (Paul Virilio) hin. Da gibt es viel auszumalen, und man kann sich gut beschäftigen, um die Geistesträgheit zu beschwichtigen.

Die Spekulation auf Hausse ist viel anstrengender, sie grenzt auch leicht an Aberwitz. Weigert man sich aber, aus der Entdeckung der Doppelhelix und der zwangsläufig folgenden restlosen Entschlüsselung des Genoms eine Finalität dieses besonderen Fortschritts zu konstruieren und damit auf Handlungschancen zu sinnen, gerät man in die Gefahr, zynisch im Chaos zu versinken.

Der Lesbarkeit des Genoms eine Notwendigkeit, einen Sinn und eine Richtung zuzuerkennen, ist andererseits riskant. Man weist damit nämlich auch dem Kapitalismus, der in prädiktiver Medizin und Eugenik ja gerade die interessanteste und revolutionärste Verdichtung seiner Kraft in Gang zu setzen scheint, eine historische Bestimmung zu. Damit muß man ihm auch eine Moral zusprechen – was heute selbst seine wildesten Apologeten verschämt zurückweisen würden.

Dies ist der Zustand, den die prädiktive Medizin herstellt: Der anthropologische Mensch steht nunmehr ganz frei da. Er hat mit allen anderen die schmerzhafte Gleichheit zu teilen, daß die Ungleichheit seines biologischen Loses offengelegt ist. Diese Ungleichheit zu verbergen oder zu camouflieren, wie es in der alten kapitalistischen und zugleich politischen Gesellschaft moralisches Gebot war, ist nun nicht einmal der Minderheit möglich, die durch den Schicksalsspruch des Zeugungszufalls von Erblasten verschont ist und sich für gesund halten darf.

 

Diese schonungslose Aufdeckung, die unvermeidliche Zerstörung der Heimlichkeit, in die sich der Körper des kapitalistischen Menschen hüllen mußte, versetzt zunächst in Schrecken.

Denn sie stürzt in die Notwendigkeit von Entscheidungen, denen das Individuum in seinem schwachen Wissen von der eigenen Natur nicht gewachsen ist. Es fühlt sich aus der wohligen Zwecklosigkeit seiner Marktexistenz gerissen, soll Verantwortung für sich und, was noch schwerer ist, für seine Nachkommenschaft auf sich nehmen.

Es kommt nicht darauf an, ob diese Emanzipation zur Gleichheit in biologischer Ungleichheit in der geheimen Absicht des Kapitalismus gelegen hat, von ihm gewollt werden mußte – wenn er nun einmal, in seiner Allherrschaft, für alle vergangenen Fortschritte im guten wie im schlechten verantwortlich gemacht werden, Allurheber sein muß. Alle Geschichte scheint ja auf ihn zugewachsen zu sein. Erst einmal wird der Markt von der Aufhebung dieser Ungleichheit profitieren, weil alle jetzt von ihm die Herstellung biologischer Chancengleichheit verlangen werden.

Interessanter ist im Augenblick die Zukunft, in die der Kapitalismus von der prädiktiven Medizin geführt wird. Und diese ist, unter allen denkbaren technisch-ökonomischen Fortschritten, seine mächtigste Wegbereiterin. Geht sie weiterhin so energisch zu Werke wie in den letzten anderthalb Jahrzehnten, dann wird der Kapitalismus bald an einen Wende- oder Krisenpunkt geraten. Die Technik könnte ihm einen Konstitutionswandel aufzwingen, wie er ihn in diesem vergangenen Jahrhundert noch nicht hat durchstehen müssen.

Der über seine eigene Natur ignorante bürgerlich-kapitalistische Mensch gerät mit der Lesbarkeit seines Genoms und mit der prädiktiven Medizin in die nun unvermeidbare Lage, sich und seine Sozialität revolutionieren zu müssen.

Daran war noch vor zehn Jahren nicht zu denken. Revolutioniert werden muß damit auch der Kapitalismus. Ob das, worein er sich transformiert, noch Kapitalismus sein wird, kann einstweilen nicht bekümmern; dafür fehlt es derzeit auch an sozialer Phantasie.

Man kommt aber, auch wenn man ein von der Geschichtsphilosophie gebranntes Kind ist, nicht umhin, dem Kapitalismus eine Entwicklungsrichtung zuzuschreiben. Der Eintritt in die Eugenik zwingt gewissermaßen dazu, seine Geschichte rückwärts zu lesen, auf die in ihm codierte Zweckhaftigkeit hin.

Damit wird er zur Epoche, wird menschheitsgeschichtlich – und erneut kritisierbar. Eben dies hatte die postmodernistische Luderei ein für allemal abschütteln wollen. Den Kapitalismus-Laudator Marx hätte übrigens die Idee entzückt, daß dem Markt ein weiteres Mal durch einen selbst verursachten Emanzipationssprung eine Existenzkrise beschert wird. Noch aber sind wir nicht ganz so weit.

Ausrottung des Zufalls – Zerfall der Solidarität

Wo zuviel Gewißheit herrscht, da kann nicht versichert werden.

Wenn Unsicherheit und Risiko unter eine kritische Größenordnung sinken, findet man nicht genug Prämienzahler, also Menschen mit verdunkelter Zukunft. Damit werden Solidaritäten unmöglich, die auf die gemeinsame Angst vor der Unberechenbarkeit der individuellen Schicksale gegründet sind. Es werden also, durch zu genaue Prognose für zu viele Gefährdete, die Institutionen unterminiert, die Sozialität im Wirtschaftsstaat durch Vergesellschaftung der Wahrscheinlichkeiten von Unfall und Zufall garantieren.

Diese Falle wird soeben von der prädiktiven Medizin aufgebaut. Und es ist ihre eigene Grundlage, die sie zu zerstören droht. Die Entstehung der prädiktiven Medizin wäre undenkbar ohne die fortwährende Potenzierung von Therapie, die ja von der Versicherung nicht nur bezahlt wird, sondern auch vorangetrieben werden muß. Nun gefährdet gerade der Erfolg dieser Institution, einer der stärksten Integrationsklammern der Industriegesellschaft, deren eigene Existenzbedingung, nämlich die Unsicherheit des biologischen Schicksals der meisten.

Diese Gefährdung geht zurück auf die Wurzel, denn der Anfang aller Versicherung liegt beim Fabrikunfall, der Risikoteilung vom Unternehmer ebenso wie von den Arbeitern verlangte. Die Genomanalyse verkündet also das Ende der Industriegesellschaft in einer ihrer ältesten Sozialmaschinen.

Ein drastisches Szenario kann dazu dienen, das Zusammenspiel von Opportunitäten und Wahrscheinlichkeiten zu verdeutlichen. Es wird in der Wirklichkeit nicht so verlaufen, aber es wäre ein Wunder, wenn es von den Planungsabteilungen der Versicherungskonzerne und der staatlichen Gesundheitsdienste nicht längst im Laborversuch inszeniert worden wäre; wenn nicht, wäre es eine Fahrlässigkeit.

Die Konsequenzen der Genomanalyse für das Versicherungswesen sind zwar schon bald nach dem Beginn des internationalen Humangenomprojekts zum Thema gemacht worden,[1]) doch haben sich die gesundheitspolitischen Öffentlichkeiten darum kaum gekümmert. Freilich, täten sie es, würden sie allzu viele Fragen aufwerfen, denen einstweilen weder sie selber noch die wissenschaftliche Expertenwelt gewachsen sind.

Es ist nunmehr eine plausible, von den meisten Fachleuten geteilte Annahme, daß um das Jahr 2015 die genetischen Wirkungsbedingungen für eine Reihe von Massenkrankheiten hinreichend bestimmt sein werden. Hinreichend bedeutet, daß Aussicht auf eine Therapie in naher Zukunft besteht. Es werden also auf einmal große Populationen entstehen, die prinzipiell einen Anspruch auf Diagnose und Therapie stellen können. Dazu gehören nicht nur die manifest Kranken, sondern die in der Regel viel größere Zahl von potentiell Belasteten, die nur epidemiologisch geschätzt sind.

Allein die Gewißheit von demnächst anwendbaren Therapien wird große Informationsmengen entstehen lassen, die alsbald auf den Markt kommen und dort Wirkung zeigen werden. Anzunehmen ist ja ebenso, daß gleichzeitig mit der Aussicht auf Therapien entsprechende Tests zu geringem Preis allgemein zugänglich sein werden – wenigstens in den reichen Ländern. Die Krankenversicherungen, ob öffentlich oder privat, können die massenhaften Ansprüche auf vorsorgliche Diagnose nicht nur nicht abweisen, sie müssen sie sogar wünschen, auch wenn sie für sich daraus unangenehme Konsequenzen zu erwarten haben.

Das gilt zumal für solche Krankheiten, die durch individuelles Verhalten (Rauchen etc.) oder durch Umwelt aktualisiert oder verstärkt, also nicht allein gentherapeutisch behandelt werden können, sondern Milieu- und Verhaltensveränderungen verlangen.

Der Versicherer muß selber bestrebt sein, die Vermehrung von Information zu forcieren – und damit zugleich Populationen von Anspruchsberechtigten. Das werden nicht zuletzt die Normgesunden unter den Mitgliedern verlangen, die sich vorläufig geringer Krankheitserwartung erfreuen dürfen und keine Lust haben werden, mit hohen Prämien die nachweislich schlechter ausgestatteten Solidargenossen zu unterstützen.

Das hätte unter anderem die Folge, daß an den Börsen die Versicherungswerte sinken. Um diese fatale Verlaufslogik zuzuspitzen: Jedes hinlänglich bestimmte, also therapieversprechende Gen muß die Aktienwerte der Pharmaindustrie steigen, die der Versicherungsindustrie abrutschen lassen.

Die prädiktive Medizin, die die Versicherungsinstitutionen mit dem allzu großen Angebot von Prognose überlastet, muß überdies auf besonders heimtückische Weise die Zerstörung der dort organisierten Solidaritäten fördern. Das, was schon heute mit der Zuweisung von Dialysegeräten und Transplantationsorganen geübt wird, wird generalisiert werden müssen.

Da die prädiktive Medizin dazu führt, daß die anonyme Gesamtmasse der Versicherten mehr und mehr in diskrete Gruppen aufgelöst werden kann und daher muß, müssen Prioritäten gesetzt und Privilegierungen für Diagnose- und Therapiefähige eingerichtet werden. Es muß also zwischen und innerhalb von Populationen potentieller Patienten diskriminiert werden.

Schließlich werden die Versicherungen auch dazu gebracht werden, Systeme der Verhaltensdisziplinierung zu fordern und auszubauen. Das kann im Falle von gruppen- oder schichtspezifischen Erbbelastungen, die durch Verhalten und Umwelt virulent werden, zu kaum lösbaren Konflikten führen. Die Fettsucht zum Beispiel, deren Genkomposition nunmehr gelungen ist, ist eine typische Unterklassenkrankheit, wie besonders in den USA augenfällig ist. Sie hat sich in den letzten Jahrzehnten besonders dort ausgebreitet, wo sich ein Kreislauf von Armut, Arbeitslosigkeit, Illettrismus und sozialer Marginalisation eingenistet hat. Man müßte also, wollte man sinnvoll gentherapeutisch arbeiten, ein ganzes Milieu mitverändern. Bei diesem Milieu hieße das mehr oder weniger Zwang, jedenfalls erst einmal Diskriminierung.

Die Erosion der Versicherungssysteme durch die prädiktive Medizin sieht in Amerika anders – und brutaler – aus als im kontinentalen Europa. Hier, wo der Staat Kranken- und generell Sozialversicherungen nach dem Bismarck-Modell errichtet und damit, nämlich durch Zwangssolidarität, auch eine Integrationsklammer für die moderne Staatsnation geschaffen hatte, geht es immer auch um die Verletzung von Gerechtigkeitsgarantien. Wenn die Einheit der gegen das Risiko solidarisierten Versicherungsbürger aufgebrochen und in Gruppen partikularisiert wird, handelt es sich auch um politische Zerstörung, um Verlust von Legitimität. Deswegen wäre der Staat auch der Adressat der Gefährdungen durch die prädiktive Medizin.

In Amerika, wo die individualisierte Krankenversicherung in der Regel direkt an das Beschäftigungssystem gekoppelt ist und die schlechte Gesundheitsprognose unmittelbar die Berufs- und Arbeitschancen bedroht, hat sich bereits mit Aids viel härter die soziale Zerreißfrage gestellt. Die Weigerung von Versicherungsunternehmen, Aidskranke aufzunehmen – eine Alternative der öffentlichen Sozialversicherung gibt es nicht –, hat bereits auf die Dramatik einer Entwicklung vorausgewiesen, die sich durch die prädiktive Medizin zu verallgemeinern verspricht: Wer aufgrund schlechter Prognose nicht versicherbar ist oder doch außergewöhnlich hohen Prämien ausgesetzt wäre, ist auch nicht oder nur beschränkt berufs- und arbeitsfähig.

Und diese Minderheiten vermehren sich rasch. Schließlich gibt es keine Beständigkeit für die Erwartung der prämienzahlenden Unternehmer und der Versicherungen: Kann sich eine Firma durch Fernhaltung von Risikogruppen heute noch für sauber halten und in den Genuß von verminderten Prämienzahlungen für ihre Angestellten kommen, so kann sich das schon morgen ändern. Es tauchen nämlich immer neue Risikogruppen auf – was sich andererseits auch aus der zunehmenden Verschärfung der Sicherheits- und Ausschlußregeln ergibt.

Gegen diese Vermehrung des sozialen Risikos durch den Fortschritt der prädiktiven Medizin können auch Gesetze im Prinzip wenig ausrichten. Zwar lassen sich Schutzbestimmungen verschärfen, darum müssen sich schon die Gewerkschaften bemühen. Aber noch schneller verschärfen sich die Situationen, die den Unternehmen eine biologisch selegierende Auswahl ihres Personals nahelegen, ja aufdrängen. Und die Versicherungsunternehmen, auf die der Druck zunimmt, weil der Anteil der genetisch gut Ausgestatteten mit günstiger Prognose abnimmt, werden bald am Ende ihres Lateins sein. Die dabei bisweilen auftauchende Erwägung, durch eine Staatsversicherung nach europäischem Modell dieses Risiko abzuwehren und auf diese Weise die Arbeitsbeziehungen zu entlasten und zu schützen, wird denn sogleich auch wieder fallengelassen. Nicht nur läßt sich im heutigen Amerika eine sozialstaatliche Regelung, die eine biologische Benachteiligung verhindern will – anders können die Amerikaner das Problem nicht begreifen –, kaum diskutieren. Es wäre damit auf Dauer auch wenig geholfen. Auch die sozialstaatliche Versicherungsorganisation der Europäer kann vor der Grunddrift nicht bewahren, die eine Desolidarisierung der in kollektiver Risikoabwehr Vereinigten erzwingt, weil Prognose zu einer gemeinschädlichen Gewalt umkippt.

Die Überlegung, wie die bewährten Versicherungsinstitutionen zu reformieren und zu erhalten sind, bricht sich alsbald an der Tendenz, die der prädiktiven Medizin im allgemeinen und der Genomanalyse im besonderen innewohnt: Es muß dem Träger des Genoms das gesamte erreichbare Wissen über seine genetische Konstitution verfügbar gemacht und zugemutet werden. Und es muß dieses Wissen allgemein und offen zugänglich gemacht werden. Das Genom und die Prognose der prädiktiven Medizin müssen vom Individuum offenbart werden, weil sie sich als ein Geheimnis gegen den Interessenangriff der anderen nicht mehr verteidigen lassen. Wenn ein jeder von sich das Mögliche weiß, weiß er zuviel, um seiner Lust an Ungleichheit durch Überlegenheit seiner biologischen Chancen frönen zu können. Der Körper muß also entheimlicht werden – nicht nur, weil es nichts nützt, durch Verbergung der genetischen Minderausstattung sich Vorteile im sozialen Kampf zu erhalten. Die Mitwelt kommt ohnehin bald dahinter.

Es ist auch die zweckmäßigste Überlebensstrategie, den Körper ganz offenzulegen und die anderen zu gleichem aufzufordern. Die Privatheit des Körpers ist nämlich im Prinzip schon verloren. Kein right of privacy, kein Arztgeheimnis, kein Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird sie retten können. Und kein Individuum wird sich in sein Recht auf Nichtwissen flüchten können. Am Auflösungsprozeß der Versicherungsorganisationen, ob nach amerikanischem oder nach europäischem Modell, wird man diese in der Entschlüsselung des Genoms angelegte Tendenz die nächsten zwei Jahrzehnte hindurch verfolgen können – wenn sie überhaupt so lange zu halten sind.

Damit tritt jener perverse Effekt ein, den jeder technische Fortschritt über kurz oder lang den ihn tragenden Institutionen zufügt.

Die Institution Versicherung, die den Fortschritt der präventiven Medizin ebenso brauchte wie vorantrieb, schützte den privaten Körper des Erwerbsbürgers. Wenn sich diese Privatheit nun nicht länger aufrechterhalten läßt, trifft dies auch die Grundvoraussetzung der reinen Marktlehre, die soeben ihren letzten und größten Triumph feiert. Ihre Glaubenspfeiler sind der methodische Individualismus und die optimierende Rationalität, die erst den Markt als eine befriedende und glückverheißende Sozialorganisation möglich machen. Diese beiden Maximen verlangen unter anderem, daß jeder durch Prognose die eigenen Kräfte und Chancen einschätze, damit er sich auf dem Markt bewähren und seinem Selbstinteresse auf vernünftige, das heißt ökonomische Weise folgen kann.

Zwar können das Wissen vom eigenen Genom und die Prognose der prädiktiven Medizin nicht die ganze Person und ihr natürliches, also individuelles Selbstinteresse bestimmen, doch tritt mit dem technischen Fortschritt eine neue Lage ein. Nicht nur verlangt die Berechenbarkeit des eigenen biologischen Kapitals Begrenzungen und Verzichte des Verhaltens, wie sie das unternehmerische und sich daher notwendig überschätzende Individuum bisher nicht gekannt hatte. Es kann auch der Befund der Körperkapital-Prognose nicht in der Alleinverfügung des Besitzers bleiben.

Nicht nur die Erfordernisse des sozialen Lebens verlangen die größtmögliche Kenntnis vom Körper der einzelnen und ihre Offenlegung. Erst recht fordern geregelte Marktbeziehungen die Entprivatisierung dieser Kenntnis und die Transparenz der Vitalbilanzen. Man wird einen Vorteil nicht mehr daraus ziehen können, daß man sich selbst biologisch unbekannt bleibt und dem anderen, mit dem man Geschäfte machen will, seine Undurchdringlichkeit entgegensetzen kann. So hatten freilich die Markttheoretiker von Walras bis Hayek nicht gewettet. Sie mußten die Privatheit des Körpers und damit seine Heimlichhaltung voraussetzen, nämlich als Bedingung des methodischen Individualismus und der rationalen Interessenverfolgung.

Man kann also am Verlauf der Zerstörung, denen die für den Markt unerläßliche Institution Versicherung ausgesetzt ist, auch die Zerstörung einer Bedingung des Besitzindividualismus studieren.

Damit läßt sich eine Hoffnung verbinden: Die heutige »Redarwinisierung« der ökonomischen Theorie in dieser hochfiebrigen Phase des Kapitalismus ist nur eine aussichtslose Flucht nach vorne. So beklemmend die herrschende ideologische Lage auch ist, die Durchsetzung des ökonomischen Sozialdarwinismus könnte bald ihre Grenze daran finden, daß die biologische Ungleichheit aller völlig durchsichtig wird und damit nicht mehr als natürliche Ungleichheit begriffen werden kann.

Perfektionen

Je genauer die Prognosen, die die prädiktive Medizin den Individuen stellen kann, desto größer die Zahl der »unverschuldeten« Defekte. Dazu werden bald auch Verhaltensweisen gehören, die jetzt von vielen noch als selbstverantwortet und frei erworben betrachtet werden.

Die Langlebigkeit etwa. Sie wird heute zumeist als eine halb beneidens-, halb bedauernswerte Lebenstüchtigkeit und als Verdienst angesehen. Demnächst wird man sie vielleicht als Ergebnis eines genetischen Urteils betrachten. Auch aus ihr kann man nicht heraus, obwohl mancher Greis sich das wünscht, nur eben wegen dieser Anomalie zu schwach geworden ist, seinem Leben ein Ende zu bereiten. Um die grausame Dialektik auf die Spitze zu treiben: Wäre es also geraten, eine gentherapeutische Behandlung des Defekts Langlebigkeit zu entwickeln, auch wenn eine Mehrzahl der Hochbetagten dies ablehnen würde, denn durch die Therapie würde ihre Anomalie, die sie als Defekt nicht empfinden können, geradezu bestätigt?

Wird sich das Leiden am genetisch bedingten Defekt, wenn er nunmehr als unverschuldet gilt, verändern? Das wird abhängen von der Art der Emanzipation, also von der bewußten Verfügung über den eigenen Körper, zu der die prädiktive Medizin verführen und zwingen wird. In zweierlei Richtung kann es gehen. Hoffen darf man zum einen auf eine zur Duldsamkeit gezwungene Gesellschaft, in der nur eine Minderzahl frei ist von vorhersehbaren Defekten, also normgesund und unbedürftig der vorsorgenden Therapie. Da jeder um die angeborene eigene Schwäche nicht nur Bescheid wüßte, sondern sie auch als Bedingung seiner Persönlichkeit begreifen könnte, wäre mehr möglich als nur Nachsicht mit den Erbschäden der anderen: Empathie. Da für jeden die eigene Konstitution transparent sein könnte, ja müßte, gäbe es keine Scham ob der anhaftenden Schwäche, alle könnten angstfrei miteinander umgehen.

Die vermehrten Chancen, gegeneinander Duldsamkeit zu üben und Einfühlung zu beweisen, brächten freilich mit sich, daß man vom anderen mehr Autonomie, Beherrschung des Körpers, verlangen darf. Und hier muß man mit entgegengesetzter Perspektive spekulieren. Verschärfen können sich auch Unduldsamkeit und Druck, nämlich auf diejenigen, die sich nicht beobachten und behandeln wollen, es an Disziplin fehlen lassen. Sich von Prognose frei zu halten und sich nicht vorsorglich therapieren zu lassen, kann dann leicht als Rücksichtslosigkeit, als sozialer Verstoß gelten. Schließlich führt die prädiktive Medizin in wachsende Knappheit der Mittel. Selbst wenn der Aufwand für Diagnose und Therapie viel höher sein sollte als heute, es wird sich auch der Mangel vermehren. Denn es werden durch diesen technischen Fortschritt Ansprüche gesteigert, die unabweisbar sind. Sie treten in unmittelbare Konkurrenz zu anderen notwendigen Kosten des Wohlfahrtskonsums.

Die prädiktive Medizin, ein mächtiger Marktmotor, wird also auf klassisch kapitalistische Weise Knappheit herstellen. Der Fortschritt der ermöglichten und damit notwendigen Vorsorge für den nunmehr selbstverantworteten Körper wird damit auch Umverteilungskonflikte ganz neuer Art erzeugen. Sie zu regeln, wird der Markt nicht fähig sein. Er kann nur Angebote machen, die einen Rückfall in darwinistisches Verhalten bedeuten würden. Und andere Agenturen, die eine halbwegs gerechte Verteilung des knappen Gutes Vorsorge leisten könnten, liegen einstweilen außerhalb unserer Organisationsphantasie. Bleibt also doch wieder nur der Staat. Der aber kann angesichts der durch den Fortschritt ständig verschärften Mittelknappheit gar nicht anders als rigoros vorzugehen, Prioritäten zu setzen – also wieder ganz Staat zu sein.

Damit wären der Empathie, die jeder dem anderen ob seiner unverschuldeten Defekte entgegenbringen könnte, die man sogar einander schuldig wäre, bald Grenzen gesetzt. Die Vermeidbarkeit eines virtuellen Schwächezustands, der Hilfe erforderte, kann nun zum Pressionsmittel werden, mit dem der Staat die Bürger gegeneinander treibt. Und die können nicht lange zögern, einander mit Schikane zu disziplinieren, wenn das Versäumnis der Planung für das eigene biologische Kapital auf die Gemeinschaft zurückfällt und die Steuerlast vermehrt.

Die Eugenik, die durch Reinigung perfekte Gesundheit in angenehmer Gestalt verspricht, und die Entheimlichung des Körpers durch die prädiktive Medizin sind also dabei, den kapitalistischen Produktionsmenschen aus seiner Verpanzerung zu treiben. Ob durch einfühlendes Verständnis für den geplagten anderen oder ob durch kontrollierendes Mißtrauen gegenüber seiner sozialen Disziplinlosigkeit: In Aussicht steht, daß sich die sozialen Beziehungen mehr und mehr über die biologische Beschaffenheit der Individuen herstellen und verdichten werden. Das heißt, daß über Gleichheit und Ungleichheit, über Wahlfreiheit und Autonomie ganz anders gehandelt werden muß als während der vergangenen zweihundertfünfzig Jahre – und mit anderen Konsequenzen.

Biopolitik wird sich mit harter Bedeutung füllen. Es geht dabei nicht mehr um überall anwesende und unauflösbare Strukturen der Macht, sondern in der Tat um Politik, um den Kampf von Lebensinteressen, der die Herrschaftsordnung verändert.

Unvermeidlich scheint, daß sich die Distanz vermindert, die die bürgerlichen Individuen und Marktteilhaber in ihren undurchsichtigen Körpern zueinander halten konnten. Die Opakheit des Körpers in seinen Funktionen war notwendiger Schutz des Selbst, des besitzindividualistischen Unternehmers, aber auch des politischen Bürgers. Jedem war zwar erlaubt, ja er war dazu gezwungen, sich Umriß und Gestalt zu geben, um identifizierbar zu sein für Markt und Tribüne.

Aber man wußte besser nicht genau über sein biologisches Kapital Bescheid, über seine Anatomie, seine Physiologie, schlechthin über den Genotyp, wenn man seiner Person Gestalt gab und sich ein Bild von sich machte. Und man wollte solches auch von den anderen nicht wissen. Dieses glückliche Unwissen vom Körper, das der Bürger und Aufklärungsmensch brauchte, wird nun aufgehoben. Und so kommt man sich allzu nahe.

Das wirkt bedrohlich, weil es sowohl den Homo oeconomicus wie den Citoyen der notwendigen Außenhaut beraubt. Doch ist es wohl nur noch eine Minderheit, die diese Bedrohung empfindet. Der Entblößungsdrang der Massen vor allem im ehemals protestantischen Norden und Nordwesten, die aggressive Exhibition der formlosen Charaktere in ihren ebenso formlosen Leibern im Medium zeigen an, daß die ichstützende Intimität, die von der Intransparenz des Körpers erlaubt wurde, nicht mehr zu retten ist.

Die zwanghafte Selbstenthüllung der Massen kündigt freilich nicht den Übergang in einen Kulturzustand an, der von der Entheimlichung der Körper belebt ist. Sie ist nur Regression, angstvoll und letzten Endes terroristisch, und es sind ja vor allem die Unbedarften und Glücklosen, die sich bloßstellen und in ihrer Hilflosigkeit aneinanderdrängen. Sie sind es auch, die von dem Emanzipationsschritt, den die prädiktive Medizin herbeiruft, am meisten zu fürchten haben. Man kann es gröber sagen: Die meisten werden abschließend als einfach zu dumm identifiziert für das selbstbestimmte Handeln, das ihnen abverlangt wird.

Die prädiktive Medizin stellt vor allzu viele Entscheidungen, denen auch das einigermaßen gebildete Marktindividuum nicht gewachsen ist. So kommt es, daß mit jeder neuen Botschaft, die der stürmische Fortschritt verkündet, sich die Nebelwand der Unmündigkeit verdichtet. Die Flucht vor der Entscheidung in die Unmündigkeit wird sich aber nicht mehr lange fortsetzen lassen. Die Konfrontation mit dem Zwang zur Erkenntnis der eigenen biologischen Verfassung wird, das läßt der state of the art der prädiktiven Medizin heute schon deutlich sehen, ziemlich schmerzhaft sein: Der zur Gedanken- und Erwartungslosigkeit verwöhnte Marktmensch wird mit Härte vor die Notwendigkeit seiner Emanzipation gestellt werden.

Die Entdeckung der Doppelhelix, die sich erst in den beiden letzten Jahrzehnten in Verbindung mit anderen Neuerungen zur Basistechnologie ausformte, hatte gewissermaßen einen Auftrag enthalten: die Herstellung von Perfektionszuständen. Diese Technologie erzeugt zwar in den alten Gesellschaften der Industriezivilisation Verwirrungen ohne Ende, indem sie die für natürlich gehaltenen Kulturmuster zerstört, ohne neue an ihre Stelle setzen zu können. Gerade indem sie das Individuum in seine nackte Freiheit und seine Einmaligkeit stellt, wird sie auch Perfektionslust hervorrufen. Der Weg, der dabei zuerst eingeschlagen werden muß, lautet nach dem alten und noch nicht widerrufenen Zivilisationsprogramm: Reinigung.

Auf den Reinigungsdrang kann die prädiktive Medizin setzen, wenn sie Perfektion des Körpers und Gleichgewicht der Gesundheit in Aussicht stellt. Sie braucht dabei keinen Zwang und keine Massensuggestion anzuwenden, wie einst die Rassenhygieniker, denn sie kann den Marktteilnehmer in seinem eigenen Interesse ansprechen und ihm dazu Information über sich anbieten – mehr, als er haben will.

Die Kulturidee von der Perfektion des transparenten Körpers in optimaler Gesundheit, die zu einer »demokratischen« und markterzeugten Eugenik führt, wäre nicht lange auszuhalten, stellte sich nicht wie von selbst wieder eine alte Idee der Aufklärung ein: die Perfektibilität des Menschengeschlechts.

Sie war in diesem Jahrhundert der totalitären Ideologien in den Ruin getrieben worden, und es waren die letzten Aufklärer selber, die ihr in der Dialektik der Aufklärung den unbarmherzigsten Prozeß machen mußten.

 

 [1]) Vgl. G. A. Cohen, Self-Ownership, Freedom, and Equality. Cambridge: Cambridge University Press 1995.

[1]) Vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer. Le pouvoir souverain et la vie nue. Paris: Seuil 1997.

[1]) Vgl. Lucien Sfez, La santé parfaite. Critique d’une nouvelle utopie. Paris: Seuil 1995.

[1]) Axel Kahn / Dominique Rousset, La médecine du XXIe siècle. Paris: Bayard 1996.

[1]) Vgl. Jens Reich, Das Problem der Genverbesserung. In: Kursbuch, Nr. 128, Juni 1997.

[1]) Vgl. den Aufsatz von Henry T. Greely in: Daniel J. Kevles / Leroy Hood (Hrsg.), The Code of Codes. Cambridge: Harvard University Press 1992.

 

Von Klaus Koch