MESOPOTAMIA NEWS : 12000 JAHRE MESOPOTAMISCHER KULTUR ZU VERNICHTUNG  / SAFE HASANKEYF

Hasankeyf – eine Stadt geht unter

In der Südosttürkei steht der kontroverse Ilisu-Staudamm kurz vor der Fertigstellung. In wenigen Monaten wird die jahrtausendealte Stadt Hasankeyf im Stausee untergehen. Die Bewohner versuchen sich mit der neuen Realität zu arrangieren.  – Volker Pabst, Hasankeyf   NEUE ZÜRCHER ZEITUG – 7.10.2019,

Einige Andenkenverkäufer harren noch aus in der kleinen Ladenstrasse von Hasankeyf. Auch zwei Cafés gibt es hier noch. Von deren Terrassen geniesst man den herrlichen Blick auf die Schlucht, den Tigris und die Stadt – oder auf das, was davon übrig ist. Die Pfeiler der historischen Brücke sind mit Beton ummantelt. Auch die in den Stein gehauene Höhlenstadt, die noch bis in die siebziger Jahre bewohnt war, ist zum grossen Teil unter einer dicken Betonschicht begraben, die wie eine graue Gletscherzunge auf dem Fels liegt. Die auf Holzpfählen gebauten Fischrestaurants am rechten Flussufer sind verschwunden. Die Fische, die man von dort aus im Wasser sehen konnte, grösstenteils auch.

Die Stimmung in Hasankeyf ist gedrückt. Bald werden auch die letzten Geschäfte an der alten Ladenstrasse schliessen müssen. Am 8. Oktober sollen die Vorarbeiten für den Transport einer historischen Moschee aus der Oberstadt in den Architekturpark auf der anderen Talseite beginnen. Weil die Strasse dafür zu eng ist, müssen einige der alten Häuser abgerissen werden. Spätestens ab nächstem Frühjahr wird sowieso alles unter Wasser stehen. Hasankeyfs Tage sind gezählt.

Seit 12 000 Jahren besiedelt

«Wir haben lange gekämpft, um das zu verhindern», erzählt Ömer Güzel. Der Ladenbesitzer, dessen Familie seit Generationen in Hasankeyf lebt, war während Jahren eines der Gesichter des Widerstands gegen das Staudammprojekt von Ilisu. Doch den Bau konnten die Gegner nicht aufhalten. Die 130 Meter hohe Staumauer 40 Kilometer Luftlinie flussabwärts ist fast fertig gebaut. Sie wird den Tigris auf einer Länge von 140 Kilometern in einen See verwandeln, der dreimal grösser ist als der Vierwaldstättersee. Neben der Stadt Hasankeyf werden auch Dutzende von Dörfern überflutet werden.

Vor zwei Wochen ist Güzel mit seiner Familie aus seinem Altstadthaus in die gesichtslose Neubausiedlung Neu-Hasankeyf gezogen, die der Staat auf einer höher gelegenen, staubtrockenen und im Sommer brütend heissen Ebene auf der andern Talseite errichtet hat. Viele Bewohner klagen über die Baumängel in den hastig fertiggestellten Häusern. Seiner Frau aber gefielen die grossen, hellen Zimmer im neuen Haus, erzählt er. «All unsere Erinnerungen werden im See versunken sein. Wir erleben das letzte Kapitel in der Geschichte unserer Stadt.»

Diese Geschichte ist lang. Hasankeyf liegt im nördlichen Zweistromland, der biblischen Region zwischen den Flüssen Tigris und Euphrat, wo die Menschen erstmals sesshaft wurden. Die ältesten gefundenen Spuren reichen 11 500 Jahre zurück. Seither ist der Ort ununterbrochen besiedelt. Alle mesopotamischen Zivilisationen haben in der strategisch günstig gelegenen Stadt ihre Spuren hinterlassen. Als Station auf der Seidenstrasse erlangte sie in der Vergangenheit eine weitaus grössere Bedeutung, als es die heutige Einwohnerzahl von knapp 3000 vermuten liesse. Entsprechend gross ist der kulturhistorische Verlust, der mit der Flutung Hasankeyfs einhergeht. Allein die archäologische Bestandsaufnahme der Region würde Jahrzehnte dauern. Laut der Uno-Organisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur (Unesco) erfüllt die Region neun von zehn möglichen Kriterien für die Aufnahme ins Unesco-Weltkulturerbe.

«Es ist verrückt, dass beim heutigen Wissensstand ein Projekt realisiert wird, das eine solche Zerstörung verursacht!», empört sich Ulrich Eichelmann. Der deutsche Aktivist, der sich seit 2005 gegen den Ilisu-Staudamm engagiert und zeitweise mehrmals jährlich in der Region war, ist nochmals nach Hasankeyf zurückgekehrt, um den Ort ein letztes Mal zu sehen. Der grösste Erfolg der Kampagne war, als Deutschland, Österreich und die Schweiz 2009 ihre Exportrisiko-Garantien zurückzogen. In der Folge schieden mit Ausnahme des österreichischen Anlagebauers Andritz alle Unternehmen aus den drei Ländern aus dem Projekt aus. Doch die türkische Regierung fand neue Geldgeber und neue Ingenieure und führte das Projekt weiter. Unter Recep Tayyip Erdogan, damals noch Premierminister, genoss der Infrastrukturbau immer hohe Priorität.

Entwicklungsprojekt für den Südosten

Der Ilisu-Staudamm ist Teil des in den achtziger Jahren konzipierten Südostanatolien-Projekts (Güneydogu Anadolu Projesi, kurz GAP). Das grösste Programm zur regionalen Entwicklung des Landes sieht gut zwei Dutzend Staudämme an Euphrat und Tigris vor. Allein der Atatürk-Staudamm am Euphrat, der grösste Bau des GAP, hat eine Kapazität von 2400 Megawatt. Das Ilisu-Kraftwerk wird auf 1200 Megawatt kommen.

Neben der Energiegewinnung erhoffte man sich vom Projekt einen Entwicklungsschub für die rückständige Region, der sich auch positiv auf den Kurdenkonflikt auswirken sollte. Kritiker sahen das GAP aber eher als Mittel, um durch Umsiedlung und Entwurzelung die kulturelle Identität der Minderheiten Südostanatoliens zu schwächen. Neben Kurden leben in der Region Araber und christliche Assyrer.

Bald wird der Tigris bei Hasankeyf über seine Ufer treten und die Jahrtausende alte Siedlung im Südosten der Türkei verschlingen. Auch auf ein anderes machtpolitisches Element wird oft hingewiesen. Die Dämme geben der Türkei die Kontrolle über die Wassermenge, die in den Irak fliesst – das ist eine potente Waffe, die in Zeiten des Klimawandels nur an Bedeutung gewinnen kann. Zwar verhandeln die Nachbarstaaten über eine gütliche Verteilung des Wassers, doch noch ist unbekannt, welche Mengen zur Bewässerung abgezweigt werden sollen. In Cizre weiter flussabwärts, unweit der türkisch-syrischen Grenze, ist eine nächste Talsperre geplant, die ausschliesslich der Landwirtschaft dienen soll.

Auswirkungen bis in den Südirak

Dass der Euphrat wegen der vielen Dämme in der Türkei und in Syrien – und der ineffizienten Bewässerungstechniken im Irak – heute im Südirak nur noch einen Bruchteil der früheren Wassermengen führt, ist unbestritten. Sollte auch der Tigris flussabwärts zum Rinnsal verkommen, wären die Mesopotamischen Sümpfe im Südirak, eine einzigartige Natur- und Kulturlandschaft und laut vielen der biblische Garten Eden, wahrscheinlich nicht mehr zu retten.

Die ökologischen Folgen seien ohnehin verheerend, erklärt der Landschaftsbiologe Eichelmann. Aus dem Speicherkraftwerk von Ilisu wird das Wasser nicht kontinuierlich abfliessen, sondern in sporadischen Flutwellen abgelassen. Das Argument, dass dadurch der Wasserfluss kontrolliert und Trockenperioden überbrückt werden können, lässt er nicht gelten. «Die regelmässige Flutung der Uferlandschaft bringt das Ökosystem völlig aus dem Gleichgewicht und trägt zur Versalzung der Böden bei.»

Hinzu kommen die Auswirkungen auf den einst so üppigen Fischbestand, weil der Damm die Wanderung zu den Laichplätzen im Oberlauf verunmöglicht. «Wir haben bereits den Bau des Mossul-Damms im Irak stark gespürt hier», sagt Abudllah Kandemir, dessen Familie seit Generation vom Fischfang in Hasankeyf lebt. Wegen der Arbeiten in Ilisu gibt es nun seit zwei Jahren praktisch gar keinen Fisch mehr. «Ich habe seit vier Monaten keinen Fisch gegessen, und ich bin Fischer!», ruft der kräftige Mann empört aus. Sein Sohn werde einen anderen Beruf erlernen müssen.

Obwohl der Fokus der heutigen Klimadiskussion auf dem CO2-Ausstoss liegt, sieht Eichelmann in der eigentlich als erneuerbar geltenden Hydroenergie keine nachhaltige Lösung: «Wasserkraft ist per se nicht grün», erklärt der Aktivist, der sich heute vor allem für die Erhaltung von Flusslandschaften im Balkan einsetzt. «Keine andere Energieform zerstört in diesem Ausmass Natur.»

Warum eine historische Kleinstadt in der Türkei in einem Stausee versinken soll

Trotz den verheerenden Auswirkungen des Ilisu-Projekts drängt sich die Frage nach den Alternativen auf. Zumindest bis zur Wirtschaftskrise im vergangenen Jahr stieg der Energiebedarf der Türkei jährlich um 6 bis 8 Prozent. Das Land erzeugt 20 bis 30 Prozent seines Strombedarfs mit Wasserkraft, der Rest kommt vornehmlich aus Kohle. Zudem baut das russische Staatsunternehmen Rosatom an der südlichen Mittelmeerküste ein Kernkraftwerk. «Natürlich ist das nicht besser», sagt Eichelmann. «Aber bei den Sonnentagen und dem Wind hier in der Region hätte es zumindest für Ilisu sanftere Möglichkeiten zur Stromerzeugung gegeben.»

Verpflanzte Monumente

«Wir haben zahlreiche Alternativen vorgeschlagen», sagt Ömer Güzel, der Ladenbesitzer und lange Mitstreiter Eichelmanns. «Eine weniger hohe Staumauer hätte ein Kompromiss sein können. Doch man hielt immer am ursprünglichen Projekt fest.» Trotzdem sei nicht alles umsonst gewesen. Auch Abdulvahap Kusen, der Bürgermeister von Hasankeyf, betont, dass man durchaus etwas erreicht habe. Kusen hat ebenfalls lange an vorderster Front gegen den Staudamm gekämpft und war aus Protest sogar kurz in eine der verlassenen Wohnhöhlen gezogen. «Ohne den öffentlichen Druck hätte man wahrscheinlich nicht einen solchen Aufwand betrieben, um die wichtigsten Monumente zu retten», erklärt er an seinem Schreibtisch in Neu-Hasankeyf, die Porträts von Atatürk und Erdogan im Nacken.

Zur Neubausiedlung, wo neben Kusens Bürgermeisteramt und 700 Wohnhäusern für die Bewohner der historischen Stadt auch ein Spital und eine Hochschule errichtet wurden, gehört auch ein Museumskomplex, in dem die jahrtausendealte Besiedlungsgeschichte der Region ausgestellt wird. Daneben entsteht ein Architektur-Park mit historischen Bauwerken. Das aus dem 15. Jahrhundert stammende Mausoleum des Prinzen Zeynel Bey, das mit seiner einst blauen Kuppe an zentralasiatische Sakralbauten erinnert, wurde als Ganzes auf einen fahrbaren Untersatz gehievt und vom ursprünglichen Standort am linken Flussufer auf die geschützte Ebene hoch über dem Tal verfrachtet. Andere Bauten werden Stein für Stein abgetragen und neu aufgebaut.

«Für mich ist das wie eine Organtransplantation», sagt Güzel. «Das Alte ist tot und wird nicht zurückkehren. Vielleicht aber können diese Bauwerke, die wir der alten Stadt entnommen haben, hier etwas Neuem Leben schenken.» Tatsächlich wirken die Monumente auch an der neuen Stelle imposant, wenn auch wenig authentisch. Mit dem Geld, das er als Entschädigung für seinen Laden erhält, will Güzel ein Tourismus-Geschäft aufbauen. Die neue Infrastruktur und der See böten schliesslich ganz andere Möglichkeiten für den Fremdenverkehr.

Zweckoptimismus

Laut Plänen der Regierung wird man dereinst per Schiff zu den Überresten des alten Palasts, der nicht im Wasser untergehen wird, übersetzen können. Seit Jahrhunderten thront die Festung auf einem Felsen über der Stadt. Auch wenn vom verträumten Charme des alten Hasankeyf nichts übrig bleibt, könnte das Konzept kommerziell durchaus aufgehen. Tourismus funktioniert auch ohne Authentizität. «Und für unsere Bewohner gibt es zum ersten Mal in der Geschichte dieser Stadt eine vernünftige Krankenversorgung», sagt Bürgermeister Kusen.

Was ehrliche Überzeugung ist, was alternativloser Zweckoptimismus, lässt sich schwer sagen. Dass, wer in Hasankeyf bleiben will, die neue Realität akzeptieren muss, steht ausser Frage. Bürgermeister Kusen und der Ladenbesitzer Güzel sind mittlerweile Mitglieder von Erdogans Regierungspartei AKP, deren Politik sie so lange bekämpft haben. «Ich habe immer gesagt, dass man keine Zukunft bauen kann, wenn man die Vergangenheit zerstört», sagt Bürgermeister Kusen. «Nun müssen wir aber genau das tun.»