MESOPOTAMIA KULTUR : WALTER BENJAMIN REVISITED II – „Fabelhaft! Genial! Großartig! Herrlich!“

Carl Schmitt als Leser von Walter Benjamins “Ursprung des deutschen Trauerspiels”: Ein Streifzug durch die Annotationen  und Marginalien.

Kaum ein Brief hat in der weitverzweigten internationalen Walter-Benjamin-Gemeinde mehr Aufsehen erregt als jener, den Benjamin am 9. Dezember 1930 an Carl Schmitt richtete. Anlass von Benjamins Schreiben war die Übersendung eines Exemplars seiner als Habilitationsschrift gescheiterten, 1928 bei Rowohlt in Berlin erschienenen Abhandlung über den “Ursprung des deutschen Trauerspiels”. Benjamin schreibt an Schmitt, dass in den nächsten Tagen ein Exemplar dieses Buches an ihn verschickt werde, und bringt zum Ausdruck, wie viel seine Darstellung der Souveränitätsideen des Barock den Schriften:  von Schmitt verdanke und auch, dass er seine kunstphilosophischen Überlegungen durch Schmitts staatsphilosophische generell bestätigt sehe. Die Absicht Benjamins ist insofern schwer nachvollziehbar, als sein Buch zum Zeitpunkt der Übersendung an den Staatsrechtler Schmitt, der damals in Berlin als rechtsnationaler Gegner der Weimarer Republik an der Handelshochschule lehrte, schon beinahe zwei Jahre vorlag. Der Brief war zudem in einem sehr respektvollen Ton gehalten. Es lässt sich mithin nicht sagen, warum Benjamin Carl Schmitt sein Buch hat schicken lassen. Es lässt sich aber sagen, dass die Rezeption des Werkes von Walter Benjamin nach 1970 doch etwas anders verlaufen wäre, wenn er diesen Brief nicht geschrieben hätte.

Carl Schmitt hat den Brief wohl nicht beantwortet, ihn aber seinem Archiv einverleibt. Als Schmitt nämlich 1956 seine Schrift “Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel” veröffentlichte, setzte er sich nicht nur kritisch in einem Exkurs mit den tragödientheoretischen Thesen Benjamins auseinander, sondern wies ausdrücklich darauf hin, dass Walter Benjamin ihm unter dem Datum des 9. Dezembers 1930 den genannten Brief geschrieben habe.

Die Schmitt-Biographen sind sich einig, dass Carl Schmitt diesen Bezug zu Benjamin zu nützen trachtete, um seine eigene Isolation zu durchbrechen. Er lebte nach 1945 ohne Anschluss an das akademische Leben in Plettenberg im Sauerland. Von seinem Vorstoß, auf die Verbindung zwischen ihm und Benjamin hinzuweisen, nahm 1956 allerdings niemand Kenntnis. Man muss wissen, dass ein Jahr zuvor Benjamins Schriften in einer zweibändigen Ausgabe erschienen waren, die Theodor W. Adorno verantwortete, darin auch das Trauerspielbuch. Adorno tilgte Fußnoten in dieser Ausgabe, um das Verhältnis Benjamins zu Schmitt zu verschleiern, der ja im “Ursprung des deutschen Trauerspiels” häufig aus den Schriften des Staatsrechtlers zitiert hatte. In der ersten Ausgabe der Briefe Benjamins aus dem Jahr 1966 findet man den Brief von Benjamin an Schmitt, auf den Schmitt ja schon längst selbst hingewiesen hatte, nicht.

Erst nachdem Hans-Dietrich Sander in seiner Dissertation “Marxistische Ideologie und allgemeine Kunsttheorie” von 1970 den Brief erstmals publik machte und später dann auch Jacob Taubes ihn in einem Seminar der Freien Universität Berlin präsentierte, indem er ihn als “Mine, die unsere Vorstellung von der Geistesgeschichte der Weimarer Periode schlechthin explodieren lässt”, bezeichnete, machte das Schreiben in der Benjamin-Philologie Karriere. Unter den Stichworten “Gefährliche Beziehung” und “Unheimliche Nähe” wurde über die Beziehung von Walter Benjamin und Carl Schmitt im Zeichen dieses Briefes geschrieben.

Aber niemand kümmerte sich ernsthaft darum, was mit dem Buch passierte, das Walter Benjamin Carl Schmitt schicken ließ. Der Schmitt-Biograph Reinhard Mehring erwähnt es nur in einer Fußnote. Das Exemplar hat sich mit reichhaltigen Annotationen und anderen Spuren intensiver und mehrmaliger Lektüre in der Nachlassbibliothek von Carl Schmitt erhalten (Landesarchiv Nordrhein Westfalen RW 265-29012), wie übrigens auch eine spätere Ausgabe von Benjamins Buch.

Es wäre wohl zu kurz gegriffen, würde man die zahlreichen Notate und Bemerkungen Schmitts als von einer Strategie geleitet verstehen. Vielmehr zeigt er sich als ungemein genauer Leser, der versucht, noch jeder vertrackten syntaktischen Konstruktion Benjamins zu folgen, wenn ein Satz seine Aufmerksamkeit erregte. Mehrmals notiert er sich das Substantiv zum Pronomen, um dem Gang von Benjamins Gedanken zu folgen. Zahlreich sind die Wertungen, die Carl Schmitt an den Rand des Buches setzt. Sie sind durchwegs positiv: Es ist oftmals zu lesen von “wahrhaftig”, “fabelhaft”, “genial”, “sehr schön”, “großartig”, “herrlich” oder “richtig”, wenn er auf Sätze Benjamins wie den folgenden stößt: “Wie ein Kranker, der im Fieber liegt, alle Worte, die ihm vernehmbar werden, in den jagenden Vorstellungen des Deliriums verarbeitet, so greift der Zeitgeist die Zeugnisse von früheren oder von entlegenen Geisteswelten auf, um sie an sich zu reißen und lieblos insein selbstbefangenes Phantasieren einzuschließen.” Schmitt bemerkt dazu: “sehr schön”. Es sind hier aber nicht nur die stilistisch geschliffenen Beobachtungen Benjamins, die Schmitt animieren, seine Reflexionen bei der Lektüre dem Buch einzuschreiben. Bei Benjamin heißt es: “Durchgehend fühlte der barocke Literat ans Ideal einer absolutistischen Verfassung sich gebunden, wie die Kirche beider Konfessionen sie stützte. Die Haltung ihrer gegenwärtigen Erben ist, wenn nicht staatsfeindlich, revolutionär, so durch den Mangel jeder Staatsidee bestimmt.” Schmitt fragt am linken Rand “1928 oder 1923?” und notiert am rechten Rand gelassen “abwarten”. Damit ist die erste Lektüre Schmitts in die Zeit unmittelbar nach Erhalt des Buches anzusetzen. Es sollten weitere folgen.

Schmitt tendierte allgemein dazu, sich als Leser stark ins Spiel zu bringen. Nicht nur, dass er sehr genau jene Stellen annotiert und anstreicht, wo von seinen eigenen Thesen die Rede ist; auch dort, wo er Platz für eigene Aufsätze sieht, notiert er sie dazu. An der Stelle, wo Benjamin auf die Tragödientheorie von Georg Lukács zu sprechen kommt und daraus den folgenden Satz zitiert: “Vergebens wollte unsere demokratische Zeit eine Gleichberechtigung zum Tragischen durchsetzen; vergeblich war jeder Versuch, den geistig Armen dieses Himmelsreich zu eröffnen” – an dieser Stelle verwies Schmitt auf seinen Aufsatz “Don Quijote und das Publikum”, der 1912 in der Zeitschrift “Die Rheinlande” erschienen war; und auch, überraschend, auf sein “Hamlet”-Buch des Jahres 1956, das er nicht nur dem Titel nach nennt, sondern auch gleich den Verweis auf dessen Seite 70 setzt, wo sein eigenes Zitat aus dem Essay von Lukács zu lesen ist.

Damit ist auch klar, dass Carl Schmitt den “Ursprung des deutschen Trauerspiels” zumindest dreimal gelesen hat. Während die Annotationen der ersten Lektüre eher kurz sind, sind die Notizen der Lektüre für sein “Hamlet”-Buch ausführlich. Man hat den Eindruck, als wolle er Benjamins Buch regelrecht erobern. Es muss aber noch eine dritte Lektüre gegeben haben. Darauf verweist nicht nur der Hinweis auf eine Passage des Hamlet-Buches, sondern auch die Bemerkung, die Schmitt machte, als er folgende Stelle gelesen hatte: “Wissen um Gut und Böse ist also Gegensatz zu allem sachlichen Wissen. Bezogen auf die Tiefe des Subjektiven, ist es im Grunde nur Wissen vom Bösen. Es ist ,Geschwätz’ in dem tiefen Sinne, in welchem Kierkegaard dies Wort gefasst hat.” Die Anmerkung von Schmitt lautet sarkastisch: “H. Arendt: Banalität des Bösen ,Geschwätz'”.

Damit ist nicht nur angezeigt, dass Schmitt Benjamins Buch noch nach 1964 (dem Erscheinungsjahr von Hannah Arendts Eichmann-Buch) wieder gelesen hat, sondern auch deutlich, wie die vermeintliche Allmacht des einsamen Lesers sich in den Signaturen, die er seinem Exemplar des Buches einprägt, zum Ausdruck kommt. Interessant auch die Notizen auf den letzten Seiten. Hier notierte Schmitt, mit wem er über Benjamin gesprochen, mit wem er über dieses Thema korrespondiert hat, und wohl dazu dieses Buchexemplar wiederholt bereitlegte. Mit Hans-Dietrich Sander hatte er zweimal gesprochen – im Januar und Februar 1968 – und zwar jeweils genau zweieinhalb Stunden. In Sanders erwähntem Buch “Marxistische Ideologie und allgemeine Kunsttheorie” fand sich der Brief mit dem Vermerk, dass die Tilgung der Fußnoten, die auf Schmitt verweisen, in Adornos Benjamin-Ausgabe zum “geistigen Bürgerkrieg dieser Zeit gehört”.

Am 28. August 1968 kam der Historiker Dieter Groh nach Plettenberg. Er erinnert sich heute nicht mehr genau an diese Gespräche. Er teilt aber mit, dass Walter Benjamin zwischen ihm und Carl Schmitt wohl nur bei dieser Gelegenheit, also ein einziges Mal, zum Thema wurde. Schließlich ist die Besprechung von Sanders Buch durch Martin Puder in den “Neuen Deutschen Heften” vermerkt mit dem ausdrücklichen Hinweis der “Unterdrückung meines Namens”. Ein stenographierter, nicht lesbarer Briefentwurf an Walter Boehlich findet sich ebenso in diesem Buch.

Schmitts erneutes Interesse an Walter Benjamin um 1968 hatte zu tun mit der vehementen Kritik an der Editions- und Interpretationspraxis von Adorno und dessen Schülern, die in dieser Zeit aufkam. Im Windschatten der öffentlichen Kritik (manifestiert vor allem im entsprechenden Heft der “Alternative”, 1967, 56/57) kam es zu einer Solidarisierung von Schmitt mit den jungen Kritikern Adornos (vgl. Helmuth Lethen, Unheimliche Nähe: Carl Schmitt liest Walter Benjamin, F.A.Z. vom 16. September 1999). Dass der Brief von Benjamin an Schmitt in dieser Auseinandersetzung keine Rolle spielte, sei hier nur am Rande erwähnt. Henning Ritter schreibt in seinen “Notizen”, dass das Unterstreichen eigentlich ein Aufschieben für eine spätere Lektüre sei, der man mit den Lesenotizen den Weg bereiten will. Im Falle des Buches von Carl Schmitt, das nicht nur auf den Vorsatzblättern Leseeindrücke festhält, sondern auf beinahe jeder Seite etwas Merkwürdiges anstreicht und durch Anmerkungen produktiv machen möchte für eigene Überlegungen, trifft dies freilich auf augenscheinliche Weise zu. Eine genaue Analyse könnte zeigen, wie unterschiedlich Schmitt Stellen im Werk von Benjamin im Laufe seines Lebens wahrgenommen hat.

Mehr noch: Dieses Exemplar von Walter Benjamins “Ursprung des deutschen Trauerspiels” macht deutlich, dass Carl Schmitt nicht nur strategisch dachte, als er den Brief von Benjamin kursieren ließ, sondern auch sehr ernsthaft versuchte, den Platz seines Denkens und seiner Thesen im Buch von Benjamin zu markieren. Es ist in der Tat eine nachträgliche, einseitige, aber sehr dichte Korrespondenz, die sich hier zeigt. Deutlich wird dies, wenn er gleich im Inhaltsverzeichnis vermerkt “kein Wort vom Leviathan” und auch noch auf den mit vielen Notizen flächendeckend beschriebenen Vorsatzblättern festhält “Leviathan fehlt! er fehlt übrigens auch auf der deutschen Bühne!!”. Mit Carl Schmitt hat Walter Benjamins Buch über das barocke Trauerspiel nicht nur einen genauen und peniblen, sondern auch einen ausdruckfreudigen Leser gefunden. Mit diesem eminenten Dokument erweitert sich die Diskussionsgrundlage des schwierigen Verhältnisses von Schmitt und Benjamin. Schmitts Lesenotizen und Lesespuren fixieren auf eindrückliche Art den Rahmen, in dem es die “jüdisch-deutsche Spiegelung”, von der Jacques Derrida gesprochen hat, heute zu sehen und zu diskutieren gilt.

Jürgen Thaler Text: F.A.Z., 17.08.2011, Nr. 190 / Seite N4

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