MESOP : ZUR ENTWICKLUNGSGESCHICHTE EINES IDEOLOGISCHEN GEBRAUCHS-NARRATIVS

FERDINAND KNAUSS  – DIE THESE VOM FACHKRÄFTEMANGEL

… und das Narrativ des Einwanderers als Wachstumsretter

Ibrahim Demir hat es geschafft, finden Ralph Bollmarin und Lena Schipper. Der aramäische Christ aus der Türkei hatte, so berichten die beiden Wirtschaftsredakteure der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, »nur fünf Jahre lang die Grundschule besucht, als er Mitte der neunziger Jahre mit 16 Jahren nach Deutschland flüchtete, weil sein Vater in der Heimat verfolgt wurde». Doch er machte eine Ausbildung und rackerte sich nach oben: »Zweieinhalb Jahre lang nur arbeiten, Sport machen, lernen, schlafen, und dann das Gleiche wieder von vorne … Heute betreibt der Schuhmachermeister ein Atelier für Maßschuhe in Wiesbaden.«1

Über Einwanderer wie Demir schreiben tonangebende Wirtschaftsjournalisten in den letzten Jahren immer wieder in den höchsten Tönen. Denn sie verheißen Wirtschaftswachstum für eine ermüdete und alternde Gesellschaft. Und Wachstum muss sein, das glauben in Redaktionen, Ministerien und Parteien fast alle. Die Produktivität hat absolute Priorität gegenüber der Reproduktivität. »Ohne Wachstum ist alles nichts«, sagt die Kanzlerin.’ Wenn zu wenige Kinder geboren werden, und diese wenigen offenbar immer weniger Lust verspüren, für weiteres Wachstum zu sorgen, dann müssen die Wachstumsbringer eben woanders herkommen.

Im September 2015, als der oben zitierte Artikel erschien, geht der Wunsch anscheinend in Erfüllung. Es offenbart sich in den Wirtschaftsressorts eine erstaunliche Verbundenheit von ökonomischen mit moralischen Motiven der »Willkommenskultur«. Nicht nur die Theologin Katrin Göring-Eckardt freute sich, dass wir »Menschen geschenkt« bekommen. Wirtschaftsredakteure waren kaum weniger begeistert als die Fraktionsvorsitzende der Grünen. Die Erzählung von der Einwanderung als Frischzellenkur für eine müde gewordene Wirtschaft ist der Tenor zahlreicher Artikel anlässlich der so genannten Flüchtlingskrise.

Die Erwartung, die sich in diesem Narrativ vom Einwanderer als Retter der Wirtschaft ausdrückt, erinnert an Werner Sombarts Hauptwerk Der moderne Kapitalismus. Für ihn stand fest, dass »die Fremden« besonders gut als Unternehmer geeignet seien.3 Die »Wanderung entwickelt den kapitalistischen Geist«, schreibt Sombart, »durch Abbruch aller alten Lebensgewohnheiten und Lebens-beziehungen«. Die Fremden seien also zum wirtschaftlichen Erfolg »verdammt«, denn: »die Fremde ist öde. […] Sie bedeutet ihm nichts. Höchstens kann er sie als Mittel zum Zweck — des Erwerbes nutzen.«4 Der Fremde ist weniger abgelenkt als der Einheimische. Für den Eingewanderten gibt es, so Sombart: »Keine Tradition! Kein altes Geschäft! Alles muss neu geschaffen werden, gleichsam aus dem Nichts: keine Bindung an einen Ort: in der Fremde ist jeder Ort gleich.« Aus diesen Voraussetzungen erwachse »die Entschlossenheit zur vollendeten Ausbildung des ökonomisch-technischen Rationalismus.«5

Sombart selbst wird von Wirtschaftsjournalisten und Ökonomen heute zwar kaum noch zitiert. Er ist für ökonomisch geschulte Redakteure vermutlich entweder schlicht unbekannt, da die gesamte »Historische Schule« der Nationalökonomie nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Lehrkanon der Wirtschaftswissenschaften entfernt wurde. Oder er gilt als nicht zitierwürdig: Sombarts Distanz zum Kapitalismus war erst sozialistisch und dann vor allem konservativ-kulturpessimistisch motiviert. Dazu kommt sein Buch Die Juden und das Wirtschaftsleben (1911), das zumindest aus heutiger Perspektive als antisemitisch gilt.

Dennoch hat sich Sombarts These des »Fremden« als Ideales Unternehmers offenbar von seinem Autor gelöst und ist — befreit von dessen kritischer Distanz zum Kapitalismus und stattdessen mit reichlich Affirmation versehen — zum ökonomischen Common Sense geworden. In der ZEIT liest sich das im Herbst 2015 so: »Einwanderer haben ihre Gesellschaften immer bereichert und Innovation, Dynamik und wirtschaftlichen Erfolg gebracht. Schon deshalb, weil diejenigen, die das existenzielle Risiko einer Flucht auf sich nehmen und alles hinter sich lassen, Außergewöhnliches zu leisten bereit sind.«6

Die sozialwissenschaftliche These ist alt, doch das wirtschaftsjournalistische Phänomen ist jung. Vor der Jahrtausendwende ist noch kaum von Elektroingenieuren aus Syrien zu lesen, die der deutschen Wirtschaft zu mehr Schwung verhelfen wollen. Der Glaube an die Einwanderer als unternehmerische Dynamiker wird erst gepredigt, als die Bundesrepublik bereits auf eine längere Migrationsgeschichte zurückblickt.

Die erste Phase der Masseneinwanderung, die mit dem Begriff des »Gastarbeiters« verbunden ist, beginnt ohne eine nennenswerte PR-Offensive. Gastarbeiter kommen in der Berichterstattung der frühen 1960er Jahre kaum vor. Die erste SPIEGEL Titelgeschichte über »Gastarbeiter in Deutschland« vom Herbst 1964 beschreibt vor allem Anwerbebüros und Massenunterkünfte.7 Die ökonomischen Motive und Hintergründe der ersten nachkriegsdeutschen Massenzuwanderungwerden kaum erwähnt. Im SPIEGEL wurden Einwanderer bis Ende der 1980er Jahre eher ein soziales Phänomen denn als ein ökonomischer Faktor betrachtet.

Jürgen Eick, der für Wirtschaft zuständige FAZ-Herausgeber, war sogar ein offener Kritiker der Gast-arbeiterpolitik. 1966 fragt er mit rassistisch anmutendem Unterton: »Werden wir schließlich auf der verzweifelten Suche nach neuen Arbeitern auch vor andersfarbigen Völkern nicht haltmachen?«8 1973 sorgte sich Eick um die »Stabilität der Sozial- und Lebensordnung«: »Der Zustrom  von immer weiteren Gastarbeitern muss gebremst werden: wir müssen es hinnehmen, wenn damit unser Sozialprodukt langsamer wächst, als es andernfalls möglich wäre. Wirtschaftswachstum ist kein Selbstzweck, es muss immer im Zusammenhang mit allen Facetten des Lebens gesehen werden.« Die Bundesrepublik sei »eben kein ideales Einwanderungsland« mit »weiten, unbesiedelten Flächen«, sondern »jeder Neuankömmling« treffe »auf dichtbesiedelte Industrieregionen, die bereits in jeder Beziehung aus den Nähten platzen«.9

Eicks Forderung, auf Wirtschaftswachstum durch Einwanderung zu verzichten, weil dies die gesellschaftliche und ökologische Stabilität gefährde, entsprach den Vorstellungen der ordoliberal-konservativen Vordenker der sozialen Marktwirtschaft. Für diese war Wachstum kein unbedingter Zweck, sondern nach Erreichen des Zieles »Wohlstand für alle« durchaus verzichtbar. Doch das war in den 1970er Jahren bereits eine Randposition des Wirtschaftsjournalismus geworden.

Für die meisten Kommentatoren waren schon damals Wachstum und damit Gastarbeiter unverzichtbar. Theo Sommer, damals Politik-Chef und später Herausgeber der ZEIT, schrieb 1973 über die Hypothese einer Bundesrepublik ohne Gastarbeiter: »Wir alle wären schlechter dran, unser Wohlstand minder satt, unsere Wachstumsrate weniger hoch.«10 Es sei, so Sommer, »schon hier und da die Rede davon, dass wir bald auch Afrikaner und Asiaten werden holen müssen, um das Perpetuum Mobile des fortdauernden Wirtschaftswachstums in Schwung zu halten.«

Das war aber schon kurz darauf kein großes Thema mehr. Nach der Ölkrise stiegen bald die Arbeitslosenzahlen deutlich an. Die Bundesregierung reagierte im November 1973 mit dem Anwerbestopp für Nicht-EG-Arbeitnehmer. Nun rückten für einige Jahre soziale Probleme durch die Zuwanderung ins Zentrum. ZEIT-Redakteur Eduard Neumaier fürchtete, dass bei anhaltendem Zuzug und

1 »Roter Teppich für Migranten“. in: FAS. 06.09.2015.

2 Rede auf dem 17. Parteitag der CDU ans 1. Dezember 2003 in Leipzig: www. kas.de,upload fACDP ‘CDU/Protokolle_Parteitage.’2003-12-01+02_Protokoll_17.Parteitag_Leipzig.pdf  (abgerufen am 15.04.2015)

3 Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus, Band 1. Leipzig/München 1928, S. 883-895.

4 Ebenda. S. 886.

5 Ebenda.

6 -Jetzt erst recht!-, in: DIE ZEIT, 19.11.2015.

7 »Per Moneta- (Titelgeschichte), in: DER SPIEGEL. 07.10.1964.

8 »Der rare Mensch., in: FAZ, 16.04.1966.

9 »Die Schallmauer ist erreicht., in: FAZ, 23.05.1973.

10 •Unser Sozialproblem Nr. 1: die Gastarbeiter., in: DIE ZEIT, 06.04.1973.

 

mangelnder Integration »aus Städten wie Berlin, München, Frankfurt, Köln, Stuttgart und Solingen-Remscheid Super-Marseilles« würden. »Soziale Spannungen« seien »in jedem Falle unvermeidbar — Spätfolgen des deutschen Wirtschaftswunders«.11Bis Ende der 1980erJahre blieb der ökonomisch begründete Ruf nach Zuwanderung verstummt.

Ab den 1990er Jahren wird die demografische Schrumpfung der deutschen Bevölkerung, bislang trotz unmissverständlicher Geburtenstatistiken von Journalisten weitgehend ignoriert, ein großes Thema. Dabei problematisiert der SPIEGEL vorrangig nicht die Bevölkerungsschrumpfung selbst, sondern die durch sie drohenden Einbußen an weiterem Wirtschaftswachstum. Nun werden Einwanderer wieder zu Rettern der Wachstumswirtschaft erklärt. 1998 machen sich die SPIEGEL-Autoren erstmals zu eigen, was »unter Experten […)  unstreitig« sei: »Die Bundesrepublik wird wegen fortschreitender Vergreisung künftig dringend Neubürger brauchen — nur eben die richtigen.«2 Der SPIEGEL zitiert dann einige der Experten: Der wirtschaftliche Erfolg der Bundesrepublik sei, so der Ökonom Klaus Zimmermann13, »mit dem Aufstieg zum ersten Einwanderungsland Europas verbunden«. Und schließlich taucht auch ein Sombartscher Fremder auf in Gestalt des Bauunternehmers Senol Akkaya auf : »Inzwischen, meint er selbstbewusst, könne Deutschland auf die Türken nicht mehr verzichten: >Wir sind Ziegelsteine in der Mauer. Wenn man die Steine rauszieht, fällt die Mauer zusammen.<«14

In den Jahren nach der Jahrtausendwende etablieren Wirtschaftsjournalisten dieses Motiv des Einwanderers als Träger neuen unternehmerischen Geistes in der deutschen Presse. Seither ist es ein journalistischer Dauerbrenner. »Mit ihren Ideen, mit Gründergeist oder ihrer Ausbildung treiben die Zuwanderer das Wirtschaftswachstum häufig mit an«, schreibt ZEIT-Redakteur Axel Hansen 2014. 15 Unter der Zwischenüberschrift »Wie die Einwanderung hilft« stützt Hansen seine These mit einer Behauptung von Stephan Sievert vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung: »Es waren immer schon die Guten, die ausgewandert sind.« Belege dafür werden nicht geliefert.

Einer der eifrigsten Werber für mehr Einwanderung zum Zwecke des Wirtschaftswachstums ist SPIEGELOnline-Kolumnist Henrik Müller. »Deutschland braucht alle fähigen Ausländer, die kommen wollen«, postulierte er 2004.16 Er wiederholt diese Forderung seither immer wieder in seiner Kolumne.

Die Bundesrepublik werde »nur prosperieren können, wenn sie […] die heimische Basis durch großzügige Zuwanderung […] stärkt.«17 Müller erzählt dazu auch die Geschichte vom Sombartschen Fremden, der den Alteingesessenen den kapitalistischen Schneid abkauft: »Wachstum beginnt mit dem Willen, ein besseres Leben führen zu wollen. Migranten beweisen eindrucksvoll, dass sie ebendies wollen: Sie verlassen ihre Heimat, um in der Fremde ein besseres Leben zu führen. […] Leistungsfähige und Leistungswillige werden gebraucht: Akademiker, Fachleute mit Biss, Unternehmertypen, die in Deutschland Firmen gründen wollen.«18

Die Erwägung, dass Migranten auch durch weniger willkommene Aktivitäten ihren Wunsch nach einem besseren Leben belegen können, spielt für Müller offensichtlich keine Rolle.

Die negative, nämlich Angst erzeugende Variante des Narrativs ist das Klagelied über den »Fachkräftemangel«, der das Wachstum gefährde und durch Zuwanderung behoben werden müsse. Der »massive Fachkräftemangel«, schreibt Yasmin El-Sharif, Ressortleiterin Wirtschaft bei SPIEGEL-Online, werde einen »fatalen Teufelskreis in Gang setzen: Weniger Wachstum gleich geringerer Arbeitskräftebedarf, weniger Arbeitskräfte gleich geringeres Wachstum«.19 Der Begriff Fachkräftemangel erlebt eine gigantische Medienkarriere: Er taucht zwischen 2000 und 2005 in 125 Texten der FAZ (inklusive Sonntagszeitung) auf, zwischen 2006 und 2010 sind es 427, und von 2011 bis Ende 2015 sind es 524 Artikel — mit stark abnehmender Tendenz seit der Grenzöffnung im September 2015.

Skeptische oder gar ablehnende Stimmen im Zuwanderung-für-Wachstum-Diskurs sind in der Presse selten geworden.

11 »Aus Kulis Bürger machen«, in: DIE ZEIT, 21.09.1973.

12 »Jenseits von Schuld und Sühne«, in: DER SPIEGEL. 23.11.1998.

13 Zimmermann wird bald zum Hauptvertreter dieser These. Allein die FAZ zitiert

ihn zwischen 2002 und 2015 in 13 Artikeln zum Thema Zuwanderung.

14 »Jenseits von Schuld und Sühne« (Titelgeschichte). in: DER SPIEGEL, 23.11.1998. Akkayas Bauunternehmen wurde übrigens 2010 aus dem Berliner Handelsregister gestrichen — »wegen Vermögensiosigkeit«.

15 »Zuwanderung:DieAuslandshilfe«.in: ZE1T-Online.07.08.2014,www.zeit.de/ wirtschaft/2014-08 ‘zuwanderung-fachkraeftemangel-arbeitsmarkt-folgen

16 »Grenzen auf«, in: Manager Magar.n. 01.03.2004.

17 »Osteuropas vertane Chance-. in: SPIEGEL Online. 06.09.2015, www.spiegel.de/wirtschaft, soziales ‘fluechtiinge-osteuropa-braucht-dringend-zuwanderer-a-1051598.htrni

18 »Grenzen auf“ in: Manager Magazin,. 01.03.2004.

19 »Warum Deutschland sofort mehr Zuwanderer braucht«, in: SPIEGEL-Online, 02.08.2010. www.spiegel.de  wirtschaft/soziales/arbeitskraeftezuzug-warum-deutschland-sofort-mehr-zuwanderer-braucht-a-709704.html

 

Und wenn sie doch zu finden sind, handelt es sich meist nicht um Beiträge von Redakteuren, sondern von Nicht-Mainstream-Ökonomen.

So macht sich Gunnar Heinsohn (»Söhne und Weltmacht«) in der FAZ über die Erwartung lustig, dass »Flüchtlinge die deutsche Wirtschaft retten« würden: »Groß sind die Erwartungen an Syrer, die in der Hauptstadt endlich einen Flughafen bauen, weil die Berliner das nicht schaffen. Auch die Aussicht auf pakistanische Dieselmotoren, die das Land der Autofürsten nicht mehr blamieren, hebt die Stimmung in Medien und Politik. Nigerianer, die den Ostasiaten die einstmals deutschen Domänen der Kamera-, Computer- und Telefonproduktion wieder abjagen, verbreiten Optimismus von Flensburg bis Rosenheim.«20

Die Vervielfachung des Einwandererzustroms nach der faktischen Öffnung der Grenzen im Spätsommer 2015 wird in den Wirtschaftsressorts begrüßt. In der Österreich-Ausgabe der ZEIT schreibt Walter Osztovich, die positiven Folgen der Massenzuwanderung beträfen »nicht nur die oft zitierten zusätzlichen Beiträge zur Pensionsversicherung: Zuwanderer bringen insgesamt einen Wachstumsschub: denn sie sind ja genau deshalb nach Österreich gekommen, weil sie sich eine bessere Zukunft erarbeiten wollen.«21 Wieder ist es also die Erzählung vom Sombartschen Fremden, die die Erwartung neuer wirtschaftlicher Dynamik begründet.

Henrik Müller betrachtet in seiner SPIEGEL-Online-Kolumne die abweisende Politik der osteuropäischen Länder als »vertane Chance«.22  Ganz Europa »könnte seine demographischen Strukturen verbessern, sein Wachstumspotenzial erhöhen, seinen Platz in der Welt sichern.« Im gleichen Tenor des Ideals der ökonomischen Theorie von einer Welt ohne Grenzen schreibt der Chef-Ökonom der Deutschen Bank, David Folkerts-Landau, in einem Gastbeitrag in der ZEIT: »Die Öffnung der Grenzen ist eine Chance für Deutschland und festigt seine wirtschaftliche Vorreiterrolle in Europa.«23  Sombartsche Fremde auch hier: »Immigranten stellen eine Bereicherung dar: Sie suchen etwas Besseres, sehnen sich nach Freiheit und wissen, dass sie sich all das erst erarbeiten müssen.«

Die Milliardenlasten für den deutschen Sozialstaat und die Arbeitsmarktnachteile für einheimische Gering-qualifizierte durch die ungebremste Massenzuwanderung, die für Hans-Werner Sinn der Anlass sind, in einem ZEIT Interview 24 eine deutliche Begrenzung des Zustroms zu fordern, spielen für Folkerts-Landau keine Rolle.  „ Wenn sich nichts ändert, erwartet uns eine Zukunft mit weniger Arbeitskräften und mickrigen Wachstumsraten.« Deutschland werde dann »zu einem statischen, risikoscheuen und in sich gekehrten Land. […] Als alternde Gesellschaft läuft Deutschland Gefahr, den Anschluss zu verpassen. Wer wird dafür sorgen, dass neue Branchen entstehen?«25

Dafür sollen junge Menschen wie die iranische Ingenieurin Sahar Asad Amraji sorgen, die sich in »kurzer Zeit … eine neue Existenz in Deutschland aufgebaut« hat, wie Bollmann und Schipper in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung berichten: »Die junge Frau hat eine Erfahrung gemacht, die so alt ist wie die Menschheit. Schon immer haben Menschen auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen ihre Heimat verlassen. […] Und in aller Regel gelingt es nach Anfangsschwierigkeiten dann auch, sich eine neue Existenz aufzubauen. Historisch gesehen, haben Einwanderer ihre Gesellschaften stets bereichert: Sie brachten Innovation, Dynamik, wirtschaftlichen Erfolg. Sie sind oft ambitioniert, ihre Beweglichkeit haben sie durch den Abschied vom angestammten Ort unter Beweis gestellt. Wenn man ihnen Raum gibt, ihre Pläne zu verwirklichen, und ihnen nicht mit fehlgeleiteter Politik im Weg steht —dann sind sie für das Gastland ein großer Gewinn.«26

Migration sei also, so der Schluss von Bollmann und Schipper, »eine Win-win-win-Situation«, ein Gewinn für den Einwanderer wie auch für sein Herkunftsland und das Einwanderungsland. Nur kurzfristig mache die Immigration Angst und verursache Kosten. Aber langfristig sei »alles prima«.27

Eine argumentative Innovation des jüngeren Wirtschaftsjournalismus ist die Verbindung von Ökonomie und Moral. Die erste Welle der deutschen Einwanderungsgeschichte, diejenige der Gastarbeiter, war als ökonomisch unumgänglich bewertet und meist nüchtern bis fatalistisch betrachtet worden. Eine Entsprechung zu der »Willkommenskultur« der Gegenwart findet sich in der Presse der 1960er und 1970er Jahre noch nicht.

Seit einigen Jahren kommt nun zum zweckrationalen Nutzenkalkül ein moralischer Imperativ hinzu: Es sei, so SPIEGEL-Online-Kolumnist Müller, »möglich, eine humanitäre Katastrophe zu lindern und sich gleichzeitig langfristige Entwicklungsmöglichkeiten zu eröffnen«.28  Bollmann und Schipper fordern nach Öffnung der deutschen Grenzen Anfang September: »Deutschland sollte seine Einwanderer mit offenen Armen willkommen heißen. Das ist nicht nur moralisch geboten. Es nützt auch uns allen «29

In der Verbindung von Moral und Ökonomie, die der gegenwärtige Journalismus vertritt, zeigt sich das Versprechen der Win-win-Situation, das seit der Nachkriegszeit das zentrale Motiv des Wachstumsparadigmas ist: Die Wachstumswirtschaft war als pazifizierendes Wundermittel gedacht, das alle Beteiligten zu Gewinnern macht, indem alle mehr bekommen, und Klassenkonflikte, die zuvor ohne Gewalt unauflösbar erschienen, dadurch entschärft.

Nun soll das Win-win-Wunder des Wirtschaftswachstums auch die drohenden Verteilungskonflikte zwischen reichen Ureinwohnern und armen Zuwanderern entschärfen, während es zugleich durch die Ungleichheit, also den Wohlstandshunger der letzteren, neuen Treibstoff erhält. Dazu kommt, und das macht den Ruf nach Einwanderung für Wachstum so unschlagbar attraktiv gerade in Deutschland: Das schlechte Gewissen angesichts der ökologischen Schäden durch weiteres Wachstum wird vom Gefühl besänftigt, durch die Einladung zur Einwanderung den Armen der Welt etwas Gutes zu tun. Helfen und dadurch noch reicher werden: Diese magische Vereinigung von Habgier und Moral ist die Verheißung, die der Wirtschaftsjournalismus im Einklang mit der Wirtschaftspolitik und der Mehrheit der Ökonomen verbreitet.

Der Autor wird im Laufe dieses Jahres eine Untersuchung über die Geschichte des Wachstumsparadigmas im Wirtschaftsjournalismus im Oekom-Verlag veröffentlichen.

20 „Das Fiasko der Migrantenkinder«, in: FAZ-Online, 05.10.2015. www.faz.net/akruell/wirtschaft/menschen-wirtschaft/gastbeitrag-werden-fluechtlinge-die-deutsche-wirtschaft-retten-13838509.html

21 «Flüchtlinge: Osterreichs Zukunft«, in: DIE ZEIT (Österreich-Ausgabe). 17.09.2015.

22 »Zuwanderung:Osteuropas vertane Chance«, in: SPIEGEL-Online, 06.09. 2015, www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/fluechtlinge-osteuropa-brauchtdringend-zuwanderer-a-1051598.html

23 »Lasst sie kommen!«, in: DIE ZEIT, 15.10.2015.

24 »Wir werden leichter an eine Putzkraft kommen«, in: DIE ZEIT, 08.10.2015.

25 »Lasst sie kommen!«, in: DIE ZEIT, 15.10.2015.

26 »Roter Teppich für Migranten!«, in: FAS, 06.09.2015.

27 Ebenda.

28 »Zuwanderung Osteuropas vertane Chance«, in: SPIEGEL-Online. 06.09. 2015, www.spiegeLde/wirtschaft/soziales/fluechtlinge-osteuropa-braucht-dringend-zuwanderer-a-1051598.html

29 »Roter Teppich für Migranten!«, in: FAS, 06.09.2015.

Aus: Tumult, Sommer 2016