MESOP „ZEITDIAGNOSE“ – European Guilt Reloaded-Plot (EGR — wahlweise natürlich auch AGR: American Guilt Reloaded-Plot)

ANTONELLA MESSERSCHMIDT – SYMBOLISCHE TÖTUNG DES SOUVERÄNS

Wer meint, dass durch die Schlachtorgien seit dem Bataclan Bewegung in die zähfließende Masse politischer Diskurse geraten sei, der irrt. Im Gefolge dieses ersten Großangriffs auf den europäischen Lebensstil scheinen sich die Strategien der Realitätsabwehr eher noch verfestigt zu haben. Je mehr Opfer Europa zu beklagen hat, desto schuldiger scheint es zu werden. Was man das European Guilt Reloaded-Plot (EGR — wahlweise natürlich auch AGR: American Guilt Reloaded-Plot) genannt hat, die Geschichte von der großen historischen Schuld, bildet nicht nur den Universalschlüssel für Herzen und Brieftaschen, sondern auch das Bollwerk einer Weltanschauung, die Christentum und klassisches linkes Denken gleichermaßen abgelöst hat.

Der EGR läuft als eine Art Hofstadter-Band in einer Endlosschleife und erzeugt dabei mitunter groteske Ornamente. So fühlte sich Georg Diez in seiner Spiegel online-Kolumne »Der Kritiker« bemüßigt, nichts Geringeres als eine journalistische Schuldtheologie auf antiker Basis zu kreieren.

»Was ist Schuld?-  Aischylos hat das alles schon einmal durchgespielt, in seiner  Orestie, vor 2500 Jahren: Am Beginn der Demokratie steht eine Schuld, die vom Einzelnen auf die Gemeinschaft übergeht. Nur so ist Gemeinschaft möglich. Das heißt nicht, daß diese Schuld verschwindet. Im Gegenteil. Die Schuld ist immer präsent, wo Menschen handeln. […] Und weil sie nicht verschwindet, kann die Schuld, die allgemein moralische und die direkt juristische, aus den Abläufen auch wieder auf den Einzelnen übergehen.«

Der ganz vor-Diezische, moralisch offenbar nicht hinreichend belehrte Altmeister der Gräzistik, Wolfgang Schadewaldt, meinte noch zu sehen, wie die Handlung »in jene gerichtliche Aktion [mündet], durch die alles, was die Tat und ihre Folgen aufgerührt hatte, nun beruhigt und zum Ausgleich gebracht wird«. Bei Diez dagegen muß die pazifizierende Verwandlung der Erinnyen in die Eumeniden unterbleiben. Seine aparte Interpretation ersetzt die Rechtssicherheit, die der Schluß der Orestie als zivilisatorische Errungenschaft beschwört, durch ein ewig schwebendes Damokles-Schwert, das niemand anders als »der Kritiker« höchstpersönlich über den Köpfen seiner Mitbürger fixiert hat.

Schöner könnte sich die — im Sinne Nietzsches — Genealogie des Hypermoralismus nicht entlarven. Verweigert demnach der „Spiegel“ als Höchstgericht das moralische Unbedenklichkeitsattest, so ist die Schuld flugs »wieder auf den Einzelnen [übergegangen]« — Kafka in Reinkultur!

Noch kafkaesker,  sofern der Leser die Steigerung gestattet, ist allerdings die kontrafaktische Beharrlichkeit, mit der Diez an dieser Konstruktion festhält und dabei jede Verhältnismäßigkeit aus den Augen verliert. Es handelt sich offenkundig um eine Rhetorik, die Elemente der Realität nach dem Muster des sogenannten »kritisch-paranoischen« Surrealismus ad libitum miteinander kombiniert, damit aber leider politische Aussagen treffen möchte.

»Die Barbaren sind wir!« verkündet seine Kolumne nicht etwa angesichts durchschnittener Kehlen, geköpfter oder von Kugeln durchsiebter Leiber, sondern angesichts einer Demonstration gegen ein Flüchtlingsheim, die unschöne Bilde; produzierte, aber ohne daß Menschen zu Schaden kamen. Nichtsdestoweniger artikuliert der Kolumnist seine »Zweifel daran, wer die Menschen in diesem Land sind, […] wie viel sie von der Aufklärung verstanden haben, wie sehr sie Hunnen[!] geblieben sind«. Es wäre interessant zu wissen, ob die Apostrophierung der Gesamtbevölkerung als »Hunnen«, die doch sehr nach »gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« klingt, von einem der bienenfleißigen »hate-speech«- Jagdteams zur Kenntnis genommen worden ist. Wenn überhaupt, dann wahrscheinlich mit Applaus.

Erwartungsgemäß eleganter geht der Soziologe Armin Nassehi zu Werke, dessen FAZ.net-Beitrag »Die Stunde der Konservativen« schon im Februar die Taktik »Trojanisches Pferd« verfolgte. Er bringt das bemerkenswerte Kunststück zustande, dem Leser einen Konservatismus ohne konservative Elemente anzudienen. Der hypnotisch-beruhigende Sound des Artikels, der empfiehlt, bei Migranten und Einheimischen gleichermaßen »Verlusterfahrungen ernst zu nehmen«, tut nichts weniger als das, wenn er Einwanderungskritik zurückführt auf »autochthone Lebenslagen, in denen man sich von Ängsten, Ressentiments und Überlastung in einer komplexen und unübersichtlichen Welt nicht so leicht befreien« könne. Das heißt im Klartext, Einwanderungskritik auf Bildungsmängel zu reduzieren. Dieses Argument dürfte schon empirisch kaum haltbar sein, offenbart dafür aber einen tiefsitzenden Unwillen, von der herrschenden Politik der Minorisierung der einheimischen Bevölkerung, der symbolischen Tötung des Souveräns der Verfassung, Abstand zu nehmen.

Nassehi kann das Problem souverän ignorieren, weil im Design der Systemtheorie der Kulturbegriff keine Rolle spielt. Deshalb unterscheidet er auch nicht zwischen inner- und außereuropäischer Zuwanderung. So muss er nicht thematisieren, daß beim aktuellen Abfluss der afrikanisch-asiatischen Überbevölkerung nach Europa Migranten aus Stammesgesellschaften (Afghanistan, Irak, Westafrika) oder aus allenfalls im Ansatz funktional differenzierten Gesellschaften auf unsere durch volle funktionale Differenzierung geprägte Gemeinwesen treffen. Der Unterschied zur europäischen Binnenmigration liegt auf der Hand: Einwanderer aus europäischen Ländern sind gewohnt, mit dem Selbstlauf von Politik, Moral, Recht, Religion, Wissenschaft und Kunst zurechtzukommen. Was für Zumutungen dieser abverlangt, weiß jeder, der in einer Gesellschaft wie der unseren etwa als Christ lebt. Was hingegen die Verweigerung dieser Zumutung mit sich bringt, lehrt unter anderem der Angriff auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hébdo.

Auf dieser Linie lag auch Nassehis Argumentation, die er in der FAZ-Lounge auf der Leipziger Buchmesse entrollte: Der Umgang mit interpersoneller Fremdheit müsse ja in jeder Gesellschaft gewissermaßen als Normalmodus ständig praktiziert werden, was unstrittig sein dürfte.

Nassehi folgerte daraus allerdings kühn, daß die Massenzuwanderung somit keinen substanziellen Unterschied mache. Es ist klar, daß die simple Tatsache, daß man in eine andere Person nicht hineinschauen kann, jeder also im Sinne Niklas Luhmanns eine black box ist, nicht mehr als ein basales Grundfaktum jeglicher Kommunikation und daher völlig ungeeignet ist, um damit Aussagen über interkulturelle Fremdheitserfahrungen zu begründen. Der Systemtheoretiker bringt alle auf kulturelle Differenzen rückführbaren Probleme mit einem theoretischen léger-de-main, dessen Beiläufigkeit einem Houdini alle Ehre gemacht hätte, zum Verschwinden. Seine Diagnose, die Flüchtlingskrise werde »überschätzt«, mutet nach nur fünf Monaten an wie aus einem anderen Zeitalter.

Die obengenannten Strategien der Realitätsabwehr erzwingen den Ausschluss dessen, der sie bedroht. Wer auch nur ein wenig ausschert, ist ehrabschneidenden Attacken ausgesetzt. Die Versuchung ist daher groß, den Druck weiterzugeben, wie die ZEIT-Kontroverse um den unter Nationalismus-Verdacht gesetzten Peter Sloterdijk lehrt, der »primitive Reflexe« im Lande am Werk sieht: »Eine in Gang gesetzte Enthemmung des Primitiven (auch wenn es ein >erworbenes Primitives< ist) läßt sich nur noch schwer zurückdrängen. Dies sollte man sich in Bezug auf ein Phänomen wie die >Alternative für Deutschland< vor Augen halten. Seit je ist das Schlimmere die Alternative zum Schlimmen.«

Nun könnte es in der Tat Anlaß geben, vor einer »Enthemmung des Primitiven« von verschiedenen Seiten her zu warnen. Es jedoch bei einer demokratischen Partei zu orten, deren Hauptvergehen in ihrer allzu erfolgreichen Konkurrenz zu den Etablierten liegt und die im europäischen Ausland mit ihrem Programm nicht einmal auffallen würde, zeigt, daß selbst Intellektuelle mit Diskursmacht fürchten, nicht ungestraft abweichen zu können, wenn es um die alleinseligmachende Haltung zur »Einwanderung« geht. Hastig gibt der als »rechts« Etikettierte darum den schwarzen Peter an vermeintlich noch »Rechtere« weiter.

Nun sind die bisher zitierten Exempla ausnahmslos der medialen Tagespolitik zuzurechnen, selbst dort wo sich prominente Mitglieder des Wissenschaftsbetriebes äußern.

Es fällt auf, dass auch Wissenschaftler die Probleme vor diesem Forum weit eher publizistisch verhandeln als in der Academia. Das liegt nicht nur an der sich mit unheimlicher Geschwindigkeit wandelnden Lage, die der für die Forschung nötigen Abstandnahme abträglich ist. Es ist auch der ideologisch weitgehend einsinnigen Ausrichtung der entsprechenden Fakultäten geschuldet.

Der notorische und alle anderen Positionen verdrängende Progressismus insbesondere der Humanities ist längst in Verknöcherung übergangen. Wie seit jeher herrscht dort unumschränkt ein sklerotisch gewordener »Linksliberalismus«, der amorphe Verpflichtungsgefühle gegenüber einer imaginären Weltgemeinschaft propagiert, von denen immer nur das eigene Volk und die eigene Kultur ausgenommen bleiben, und der beim geringsten Widerspruch gegen seine wolkigen Ideale auf aggressiven Kampfmodus umschaltet.

»Linksliberalismus« ist heute eine schwer nachvollziehbare Selbstbezeichnung geworden. Dieses Denken ist längst nicht mehr links, da es sich für die soziale Lage der eigenen Unterschichten nicht interessiert und diese zum Feind erklärt hat. Es war zudem niemals liberal, da es stets darauf abzielte, anderen auch unter Inkaufnahme von deren sozialer Ächtung und Vernichtung seine moralistischen Imperative aufzuzwingen.

All die in ihren vermeintlich fortschrittlichen Attitüden petrifizierten Intellektuellen sind in ihrer Ideologie gefangen wie ein Insekt im Bernstein. Fordert der Widerstand der Realität ihnen Reaktionen abseits des weltanschaulich Vertrauten ab, so halten sie an ihren Positionen mit gesteigerter Verbissenheit fest. Davon zeugt die seit Dekaden in den Geisteswissenschaften herrschende Stagnation der Theoriebildung. Repetiert und variiert wird hier von der Frankfurter Schule bis zu Foucault und Derrida alles, was vor Jahrzehnten neu war und nur aus einer diffusen, moralistisch grundierten Grundhaltung heraus immer noch als state of the art gelten darf. Die Parallelwelten der Postmoderne mögen noch so verstiegen, die postkolonialistischen Attitüden noch so widersprüchlich, Fukuyamas Geschichtsharmonismus mag noch so widerlegt sein — der akademische Chorus wird dem Publikum frei nach Hegel sein »Umso schlimmer für die Wirklichkeit!« entgegenrufen. Damit unterscheidet er sich von den Diezens des Landes nur mehr in der Raffinesse der Rhetorik.

Woher kommt dieses Verhalten, das politische, mediale und wissenschaftliche Funktionseliten auf breiter Front verbindet?

Sieht man von der in der Natur der Sache liegenden Inertia wissenschaftlicher Paradigmen einmal ab, bleibt eine ganze Reihe von Motiven übrig: Geht es um (berechtigte) Angst vor dem Ausschluss aus der eigenen peergroup, die nach Kriterien moralistischer Wohl­anständigkeit sortiert? Entschlossenes Festhalten an dis­kursiven Machtpositionen, pereat mundus?

Erfolgreiche Abschottung gegenüber der Realität, zur Meisterschaft getrieben von den Grünen als letzter historischer Gestalt eines idealistischen Bürgertums? Wunschdenken, das unterschwellig um den eigenen illusionären Charakter weiß? Hass auf die eigene Kultur oder vielleicht bloß die Unfähigkeit, nach Jahren des radikalen Konstruktivismus ein »Eigenes« überhaupt noch zu identifizieren?

Unwillen, die Wohlfühlzone pseudohumanitärer Gewissheiten und die Dampfschwaden im Hamam der Postmoderne zu verlassen und sich nackt in die Abkühlzone zu begeben? Abneigung, vorn Wellness-Modus universeller Sympathie umzuschalten auf die Konfrontation mit Massakern a la Nizza, Orlando und Bataclan? Und auf das Bewusstsein, dass diese sich jederzeit und überall wiederholen können?

In der »bunten« Moderne zieht es. Verhaltenslehren für die Kälte fehlen. Von kulturellen und religiösen Spannungen, von Interessenkonflikten ohne ideo­logische Verbrämung Kenntnis zu nehmen, »schadet Ihrer Gesundheit und der Ihrer Umgebung«. Die Zukunft ist wieder ganz ohne geschichtsphilosophische Krücken zu bestreiten, das Theaterstück vorn Triumph eines univer­salen und alle Lebensbereiche erfassenden Liberalismus ist vorläufig abgesetzt.

Daher lieber noch einen Text dekonstruieren, die existenzielle Frage erörtern, wer welche Toiletten benutzen darf, und vor allem schnell ein paar sprachpolizeiliche Ver­bote erlassen, solange es noch geht — la police est toujours dans les coulisses, in der Tat. Wer weiß, welcher Apparat sie ablösen wird.

Aus : Tumult Herbst 2016