MESOP WATCH NEWS : NICHT ERWÄHNT IN DEUTSCHEN MEDIEN !390 Milliarden Euro neue Schulden – doch die EU verhindert den Eingang der Riesensumme in die nationalen Statistiken

Durch den Wiederaufbaufonds wird die EU einer der grössten Schuldner in Europa. Die Mitgliedsländer garantieren zwar für die Summe, doch einige Verpflichtungen tauchen in den nationalen Statistiken nicht auf.Michael Rasch, Frankfurt 10.06.2021, NEUE ZÜRCHER ZEITUNG

Die Bundesbank sieht die Gefahr, dass die Schuldenaufnahme weiter von der nationalen auf die europäische Ebene verschoben wird. Das könnte in der EU die Verschuldungsneigung noch stärker erhöhen.

Man kennt das Phänomen aus der Arbeitslosenanalyse: Wenn die Zahlen zu düster werden, schrauben viele Länder an der Statistik. Dieses unheilvolle Vorgehen hat die Europäische Union (EU) nun für die Staatsschulden der Mitgliedsländer entdeckt. Die für den neuen EU-Wiederaufbaufonds aufzunehmenden Kredite werden teilweise nicht den EU-Mitgliedstaaten zugerechnet, obwohl genau diese für die neuen Schulden garantieren. So eliminiert die EU neue Schulden einfach aus der nationalen Statistik. Das erleichtert es vielen Ländern, die vereinbarten Defizitquoten – die wegen der Corona-Pandemie derzeit jedoch ausgesetzt sind – einzuhalten. Worum geht es genau?

Ausgabe der Anleihen beginnt in Kürze

Ende Mai hat mit Polen das letzte EU-Land die rechtlichen Grundlagen für den Wiederaufbaufonds geschaffen, der für die Abfederung der Folgen der Corona-Krise initiiert wurde und ein Volumen von rund 800 Mrd. € haben soll. Von den Brüsseler PR-Strategen wird der Fonds als «Next Generation EU» (NGEU) bezeichnet, obwohl voraussichtlich vor allem die nächste Generation unter den hohen Schulden ächzen wird. In Deutschland sind mehrere Verfassungsbeschwerden gegen die Beteiligung der Bundesrepublik an dem Fonds eingegangen, darunter eine Klage von sieben CDU-Bundestagsabgeordneten.

Noch in diesem Monat will die EU mit der Ausgabe von Anleihen beginnen, um den Fonds zu äufnen. Insgesamt möchte die EU im Jahr 2021 Anleihen im Wert von etwa 80 Mrd. € auf den Markt bringen. In den nächsten fünf Jahren sind dann Schuldpapiere von jährlich bis zu 150 Mrd. € geplant. Die EU-Kommission wird dadurch zu einem der grössten Schuldner in Europa. Dabei darf Brüssel erstmals in grossem Stil selbst seine Verschuldung ausweiten. In Ausnahmefällen war das zwar bisher schon möglich, doch mit deutlich geringeren Summen. So ist laut der Deutschen Bundesbank die EU mit gut 50 Mrd. € und der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) mit knapp 120 Mrd. € verschuldet.

Das Volumen des neuen Wiederaufbaufonds beträgt 750 Mrd. € in Preisen von 2018, wobei die Hilfen in Form von nicht rückzahlbaren Geschenken (Transfers) über 390 Mrd. und zinsgünstigen Krediten über 360 Mrd. € fliessen sollen. Die 390 Mrd. € gehen nicht in die nationalen Schuldenstatistiken ein. Dies hat das – formell unabhängige – Statistikamt der EU entschieden. Dabei bedeutet die Angabe «in Preisen von 2018», dass sich der Ermächtigungsrahmen für Kredite und Transfers jährlich um eine feste Rate von 2% erhöht. So hat das NGEU-Programm in diesem Jahr einen Umfang von 795 Mrd. €, was in Preisen von 2018 den eingangs genannten 750 Mrd. € entspricht.

Entlastung der nationalen Schuldenstände

Im Rahmen des Wiederaufbaufonds nimmt die EU-Kommission also Kredite auf und macht daraus Transfers (und Kredite) an die Mitgliedstaaten. Durch die Transfers werden die nationalen Defizite und Schuldenstände entlastet, denn sie gehen nicht in die nationalen Statistiken ein. Dies ist vor allem deshalb erstaunlich, weil die neuen Schulden gleichwohl anteilig von den Mitgliedstaaten garantiert werden und somit aus ihren Steueraufkommen bedient werden müssen. In einigen Jahren lasten die Schulden durch höhere Beiträge zum EU-Haushalt dann doch auf den Mitgliedsstaaten. Zwar würde Brüssel gerne eigene Steuern erheben, um so zu «eigenem» Geld zu kommen. Doch die Zustimmung der Mitgliedsstaaten zu diesem Schritt ist mehr als fraglich. Sollte übrigens dereinst ein Land nicht in der Lage sein, seinen Hilfskredit zu bedienen, werden die verbleibenden Nationen zur Begleichung der Forderungen herangezogen.

Das Vorgehen ist in vielerlei Hinsicht sehr problematisch. Die europäischen Statistiken sollten vollständig, verlässlich und transparent sein. Dieses Prinzip wird durch die neue statistische Behandlung der EU-Schulden ausgehöhlt. Zugleich gibt es Verzerrungen im integrierten System der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung in der EU. Die Bundesbank hat deshalb bereits im Dezember gefordert, die neuen Schulden nicht aus den nationalen Statistiken herauszurechnen. Aufgrund der neuen Dimension der europäischen Schulden und Defizite seien diese bei Fiskalanalysen zu berücksichtigen.

Wäre dies nicht der Fall, würden bestehende nationale Kennzahlen (etwa die Maastricht-Kriterien eines maximalen jährlichen Defizits von 3% und von 60% für die öffentliche Verschuldung, jeweils gemessen am Bruttoinlandprodukt) nicht mehr sachgerecht abgebildet und zu kurz greifen. Die Bundesbank sieht die Gefahr, dass die hieraus erwachsenden Lasten aus dem Blick geraten und der Anreiz steigen würde, die Schuldenaufnahme noch mehr von der nationalen auf die europäische Ebene zu verschieben. Das könnte in der EU die Verschuldungsneigung noch weiter erhöhen. Laut der Notenbank dürfte Deutschland rund ein Viertel der europäischen Verschuldung zuzuordnen sein. Bis 2026 könnte sich so eine Summe von 280 Mrd. € ergeben, was rund 8% des deutschen Bruttoinlandprodukts (BIP) des Jahres 2019 entsprechen würde.

Gefahr von weiteren Fehlanreizen

Darüber hinaus wird auch das 2020 beschlossene Hilfsprogramm Sure (Support to mitigate Unemployment Risks in an Emergency) mit EU-Schulden finanziert. Dieses Programm erlaubt es der EU, den Mitgliedsstaaten schuldenfinanzierte Kredite bereitzustellen, um Arbeitslosigkeitsrisiken durch Kurzarbeitergeld zu mindern. Schon 19 europäische Länder wollen diese Möglichkeit nutzen, rund 90 Mrd. € sind bereits ausgezahlt worden. Diese Beträge gehen jedoch in die nationalen Statistiken ein. Auch über den Stabilitätsmechanismus ESM könnten EU-Staaten gemeinschaftlich abgesicherte Kredite beziehen. Das ist bisher aber noch nicht geschehen, da dem ESM aus Sicht vieler Mitgliedsländer ein Makel anhaftet, da man früher nur Gelder bei ihm beziehen durfte, wenn man vorgegebene Wirtschaftsreformen erfüllte.

Scharfe Kritik am Vorgehen der EU gibt es in Deutschland auch vom Bundesrechnungshof. Der neue Fonds eröffne den Mitgliedsstaaten einen Weg, sich auf EU-Ebene – theoretisch unbegrenzt – zu verschulden und sich diese Mittel als Zuschüsse zuzuweisen. Auch die Rechnungsprüfer befürchten die endgültige Aushöhlung der Maastricht-Kriterien. Die Bonner Behörde kritisiert zudem, dass zur Absicherung des Wiederaufbaufonds die Eigenmittelobergrenze des EU-Haushalts um 0,6 Prozentpunkte auf 2% des Bruttonationaleinkommens (quasi eine Variante des BIP) der EU erhöht werden soll. Daraus ergebe sich bereits in einem konservativen Szenario bis zum Jahr 2058 ein Garantievolumen von 4000 Mrd. €.

Gemessen am Gesamtvolumen des NGEU-Programms errechnet sich laut Bundesrechnungshof so eine Überdeckung von 430%. Da nur die als Zuschüsse vergebenen Mittel getilgt werden sollten, liege die Überdeckung tatsächlich sogar bei 930%. Die sehr hohe Überdeckung des NGEU-Programms könne ferner dazu verleiten, den Tilgungsbeginn hinauszuzögern. Zum Vergleich zieht die Behörde die Überdeckung des Stabilitätsmechanismus ESM heran, die nur 40% betrage. Dies reiche beim ESM aus, um ihm eine hohe Bonität zu sichern. Um also beim NGEU-Programm in den Jahren 2028 bis 2058 den Transferbetrag von 390 Mrd. € decken zu können, bekomme die EU einen Tilgungsspielraum mit dem zehnfachen Volumen. Ein solcher Umfang ist aus Sicht des Rechnungshofes nicht erforderlich und könnte Begehrlichkeiten wecken, ihn für andere Zwecke einzusetzen. Daher dürfe der Fonds keine Dauereinrichtung werden.