MESOP : THE YEZIDI REPORT – Vergewaltigt im Namen des Islams / VON MARKUS BICKEL FAZ

THE GERMAN KURDISH CHAPTER – Mit der Eroberung Mossuls durch den IS vor einem Jahr begann auch das Martyrium der Yeziden. Überlebende berichten von Mord, Versklavung und dem Verrat der Nachbarn.

An jede Sekunde der Flucht scheint sich Hussein Bargas noch zu erinnern. Und an jedes Wort des Emirs des „Islamischen Staats“ (IS), Abu Hamza, der dem Bürgermeister der nordirakischen Yeziden-Gemeinde Hatamijeh erklärte, dass ihm und seinem Dorf nur eine Überlebenschance bliebe: Sie müssten alle Muslime werden. 72 Stunden Zeit gab der Dschihadistenführer dem großen, aufrechten Mann für die Entscheidung zur Massenkonversion. Andernfalls sei das Schicksal seiner Gemeinde besiegelt: „Ihr seid ein Volk ohne Buch, deshalb müsst ihr sterben.“

Für Bargas und die anderen Dorfältesten stand sofort fest, dass sie die Flucht vor den sunnitischen Gotteskriegern wagen mussten, bevor diese in die Gemeinde im Sindschar-Gebirge einfielen. Schließlich blieb noch ein kleines Zeitfenster, bevor das von Abu Hamza gestellte Ultimatum, sich zum Islam zu bekehren, auslaufen würde. Denn das kam für die Angehörigen der yezidischen Minderheit, in deren Geschichte es schon viele Massaker gegeben hat, nicht in Frage.

Wie ein moderner Moses geleitete Bargas am Abend des 9. August vergangenen Jahres seine Dorfgemeinde hinaus aus Hatamijeh, die Hänge des Sindschar-Gebirges hinauf. Ein Beschluss, der Hunderten das Leben rettete – während nur ein paar Orte weiter unzählige Menschen dem Gemetzel der IS-Schergen zum Opfer fielen.In Kocho etwa, einer benachbarten Yeziden-Gemeinde in den Bergen im Grenzgebiet zu Syrien, verpassten die Bewohner die Chance zur Flucht: Nur eine Handvoll der 420 Männer überlebte dort. Sie wurden erschossen, nachdem sie von ihren Frauen und Kindern getrennt worden waren. Diese wurden verschleppt und versklavt, und viele Mädchen oft gleich mehrfach an unterschiedliche IS-Führer weiterverkauft.

Ermittlungen wegen Völkermords in Kocho

Das tragische Schicksal der Gemeinde Kocho ist so gut dokumentiert wie von kaum einem anderen Ort im Nordirak. Kocho wurde vor einem Jahr von den Kämpfern des „Islamischen Staates“ im Sturm erobert. Die Details des Grauens, die eine Handvoll überlebender Männer sowie Frauen, die Monate nach ihrer Entführung befreit werden konnten, schildern, decken sich. Auch der Generalbundesanwalt ermittelt dem Vernehmen nach wegen Völkermordes.

An eine Auslieferung der Täter freilich ist noch nicht zu denken. Dazu ist die Herrschaft der Dschihadisten in der Ninive-Ebene viel zu gefestigt: Vor genau einem Jahr, in der Nacht auf den 10. Juni, hatten die Männer des selbsternannten Kalifen Abu Bakr al Bagdadi dort die Millionenmetropole Mossul vollständig eingenommen, ohne dass die Soldaten der Regierungsarmee auch nur einen Schuss abgaben.

In den Wochen danach dehnte der IS seine Herrschaft Kilometer um Kilometer aus – weiter südlich den Tigris hinab, aber auch im Westen und Norden Mossuls, wo Dutzende Dörfer christlicher und yezidischer Minderheiten in ihre Hände fielen. Mit Massakern an den männlichen Bewohnern und der Verschleppung der Frauen und Kinder legten sie den Grundstein für eine Terrorherrschaft, die bis heute anhält.Zwar ist es den kurdischen Peschmerga gelungen, rund 20.000 Quadratkilometer des vergangenen Sommer vom IS eroberten Territoriums zurückzugewinnen. Doch zurück in die verwaisten und zerstörten Gemeinden wagen sich nicht einmal furchtlose Männer wie Hussein Bargas. „Wir vertrauen den Arabern nicht mehr“, sagt er. Dass viele der einstigen muslimischen Nachbarn im Zuge des IS-Vormarsches mit den Dschihadisten kollaborierten, hat das Vertrauen zwischen den Bewohnern im Grenzgebiet zu Syrien wohl für immer zerstört. „Um zurückzukommen, brauchen wir Schutz, aber den können uns die Iraker nicht gewähren.“

Auch Faiza Sharaf will nur noch weg aus dem Nordirak, eine Rückkehr nach Kocho ist für die 17 Jahre alte Frau undenkbar. Sie war dabei, als im vergangenen August ihr Vater auf dem Dorfplatz von der Familie getrennt wurde. Gemeinsam mit den anderen Männern der Gemeinde fuhren die Kämpfer um IS-Emir Abu Hamza ihn in Geländewagen fort, ehe Minuten später vom Ortsrand Schüsse hierüberhallten.

Faiza kann nur schwer über das Erlebte sprechen

Auch die Mutter und einer ihrer drei Brüder sind noch immer in der Gewalt der Gotteskrieger. Und über das zu sprechen, was ihr selbst in Monaten der Gefangenschaft widerfuhr, fällt Sharaf nach wie vor schwer. Nur im Beisein von zwei yezidischen Mitarbeiterinnen der deutschen Hilfsorganisation Wadi gelingt es der jungen Frau, ihre Leidensgeschichte in Worte zu fassen. Immer wieder wird sie dabei unterbrochen vom Wimmern eines Säuglings, das durch die hellhörigen Wände des kleinen Containers im Flüchtlingslager Gali Zakho im Nordwesten Irakisch-Kurdistans dringt. 13.000 Menschen haben hier Zuflucht gefunden, darunter etliche Missbrauchsopfer wie Faiza Sharaf und ihre älteste Schwester Basma, die erst vor wenigen Wochen von Verwandten freigekauft wurde – von einem tunesischen IS-Kämpfer in der syrischen Stadt Tabka. Andere der rund 1500 vor einem Jahr entführten Yezidinnen konnten mit Hilfe des kurdischen Geheimdienstes fliehen.

Das Leben im IS-Kalifat sei die Hölle gewesen, erzählt Faiza Sharaf, während sie nach den Händen einer der beiden Wadi-Mitarbeiterinnen greift. Sie sitzt auf einer Matratze auf dem Teppich der einfachen Flüchtlingsunterkunft. Noch am Abend der Eroberung Kochos seien sie und ihre beiden Schwestern zusammen mit den anderen Frauen nach Mossul gefahren worden, wo man ihnen die Ausweise weggenommen und sie immer wieder geschlagen habe.

Jede Nacht wartete die Hölle

Nach einer nicht enden wollenden Nacht sei dann der IS-Emir Abu Hamza persönlich aufgetaucht und habe sich gemeinsam mit zwei Wachmännern die 35 hübschesten Mädchen geschnappt und sie im Haus eines Bruders Saddam Husseins, Barzan Tikriti, interniert.

Nacht für Nacht seien die bärtigen Männer des „Islamischen Staats“ dort ein- und ausgegangen, hätten sich genommen, wen sie wollten. Nach fünf Tagen dann abermals ein Ortswechsel – in Tal Affar nahe der syrischen Grenze wurden die jungen Frauen wieder wie Ware angeboten.Ein hoher IS-Führer verschleppte Faiza Sharaf in sein Haus und verkündete, jetzt gehöre sie ihm persönlich. Der Tagesablauf danach sei immer der gleiche gewesen, sagt sie und zupft an ihrem Rock: „Schlafen, duschen, beten.“ Bis heute verfolgten sie die Bilder des Grauens. Die Erinnerung an das, „was sie mit uns gemacht haben“, sei unerträglich. An den täglichen Demütigungen beteiligten sich auch die Frau des IS-Mannes sowie dessen Töchter – Schläge waren an der Tagesordnung und Hausarrest nach der ersten gescheiterten Flucht.

Zweiter Fluchtversuch war erfolgreich

Heimlich hatte Sharaf sich das Telefon der Mutter des IS-Führers genommen, um ihren aus Mossul stammenden Lehrer anzurufen. Doch nachdem der sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zu einem Kontaktmann gelotst hatte, verriet er sie – und der Missbrauch in den Händen der Dschihadisten ging weiter.

Erst ein Vierteljahr später halfen ihr kurdische Schleuser, die mit arabischen Helfershelfern in Mossul in Kontakt standen. Die Nummer hatte sie von zwei anderen Frauen, die inzwischen ebenfalls bei ihr im Haus einquartiert worden waren. Verhüllt von schwarzen Abayas habe man sie in ein Taxi gesetzt, zusammen mit mehreren irakischen Kindern, um an den Kontrollposten auf dem Weg hinaus aus der Stadt keinen Verdacht zu wecken.

Ein halbes Jahr ist das nun her, und für Faiza Sharaf gibt es inzwischen einen kleinen Funken Hoffnung: Gemeinsam mit ihrer ältesten Schwester soll sie bald nach Baden-Württemberg kommen, wo die dritte Schwester Vian bereits an einem von der Landesregierung aufgelegten Therapieprogramm zur Behandlung sexuell missbrauchter Frauen teilnimmt. Die beiden Wadi-Mitarbeiterinnen, die angesichts immer neuer Fälle bei der Betreuung kaum hinterherkommen, sind erleichtert.

Bevölkerung half den geflüchteten Yezidinnen

Denn ein Jahr nach dem Siegeszug des IS ist ein Ende der humanitären Katastrophe, die den Irak erfasst hat, nicht in Sicht. Überall im kurdischen Teil des Landes stehen die weißen Zelte der Hilfsorganisationen. Und auch in den vielen unverputzten Gebäuden entlang der Hauptstraßen wohnen die Flüchtlinge: Allein in der Provinz Dohuk im Dreiländereck mit Syrien und der Türkei leben inzwischen 2,3 Millionen Menschen – fast doppelt so viele wie vor Beginn der Krise. Ohne die große Solidarität der Bevölkerung wäre der Ansturm kaum zu bewältigen gewesen, der bereits 2012 mit der Massenflucht Zehntausender syrischer Kurden begann. Wäscheleinen hängen vor den Rohbauten im Dorf Baadre, eine halbe Autostunde von Dohuk entfernt. Auf der Wiese neben der Hauptstraße picken ein paar Hühner nach Körnern, Kinder spielen im Tal Fußball. In der yezidischen Gemeinde wohnten noch vor einem Jahr 1300 Familien, heute sind es 2650, denen nach dem kalten Winter nun ein heißer Sommer bevorsteht. An Arbeit mangelt es allen, das Nötigste zum Überleben liefert die irakische Hilfsorganisation Reach, die von der Diakonie-Katastrophenhilfe finanziert wird.Völlig auf sich allein gestellt sei man hier, sagt ein lokaler Mitarbeiter, der Staat kümmere sich weder um Schulbildung für die neuen Kinder noch um die Gesundheitsversorgung der Flüchtlinge, von denen viele aus dem Sindschar-Gebirge geflohen waren.

Gefühl, von der Welt im Stich gelassen zu sein

Eido Derbo Kassem ist erst im vergangenen November zu seiner Familie gestoßen. Zu neunt wohnen sie nun auf beengtem Raum einer kleinen Garage, Wasserspender und ein Gasherd stehen in der Ecke. Vierzehn Jahre lang habe er Saddam Hussein als Soldat gedient, sagt der 61 Jahre alte Mann und zeigt auf eine Wunde am Bein.

Nie wieder kämpfen wollte er danach, doch dann kam der „Islamische Staat“, und die kurdischen Peschmerga ergriffen nach dem Fall Mossuls ebenso feige die Flucht aus den christlichen und yezidischen Dörfern des Nordiraks wie ihre arabischen Kameraden. „Hätten sie es ernst gemeint, wäre Sindschar nicht gefallen“, ist Kassem sich sicher. So griff er selbst wieder zur Waffe, schloss sich der mit Hilfe der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) aufgebauten Yeziden-Miliz HPS an.

Pure Verzweiflung habe ihn dazu getrieben und das Gefühl, von der Welt im Stich gelassen worden zu sein, sagt Kassem. Denn obwohl der amerikanische Präsident Barack Obama die Rettung der Yeziden im August 2014 zur Chefsache erklärt hatte, lieferte Amerika der Yeziden-Miliz keine weiteren Waffen zum Selbstschutz mehr. Erst Monate später sorgte die Anti-IS-Allianz mit Luftangriffen für etwas Erleichterung, so dass es gelang, die Dschihadisten aus einigen Orten im Sindschar-Gebirge zurückzudrängen. Zurückkehren dorthin kann Kassem bis heute nicht. Nicht nur, weil seine Heimatgemeinde Sinuni völlig zerstört ist. „Ohne internationale Truppen, die uns beschützen, würden wir Selbstmord begehen“, sagt er und rückt näher an seine Frau. http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/islamischer-staat-vergewaltigt-yeziden-im-namen-des-islams-13636357.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2