MESOP REPORT : Professor Dr. Şebnem Korur Fincancı, Vorsitzende der Türkischen Menschenrechtsstiftung (TIHV) für neun Tage in Untersuchungshaft

Am Montag, 20. Juni 2016, folgte ein Istanbuler Gericht der Forderung des Staatsanwalts nach Untersuchungshaft für Şebnem Korur Fincancı, Ahmet Nesin, Journalist und Schriftsteller sowie Erol Önderoğlu, Journalist und Vertreter von Reporters sans Frontières in der Türkei. Die Anklage wirft ihnen Verbreitung terroristischer Propaganda vor. Korur Fincancı und Önderoğlu wurden am 30. Juni wieder freigelassen, Nesin am 1. Juli.

Die drei waren einem Aufruf der pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem gefolgt, die ständigen Repressalien der türkischen Regierung ausgesetzt ist. Zur Verteidigung der Pressefreiheit und als Zeichen der Solidarität übernimmt seit dem 3. Mai eine Person die Co-Redaktion der Zeitung so wie auch Fincancı, Önderoğlu und Nesin.

Diesen Inhaftierungen folgte weltweiter Protest von Reportern ohne Grenzen, der Europäischen Union, Amnesty International (ai), World Health Organization (WHO), Physicians for Human Rights (PHR), Human Rights Watch (HRW), International Rehabilitation Council for Torture Victims (IRCT), um nur einige zu nennen.

Als Professorin im Fachbereich Gerichtsmedizin an der Istanbul Universität, Gründungsmitglied der Menschenrechtsstiftung der Türkei und seit 2009 deren Vorsitzende, ist Professor Dr. Sebnem Korur Fincancı entscheidend an der Dokumentation und Investigation von Menschenrechtsverletzungen infolge von Folter national und international beteiligt.

Initiiert von der TIHV und dem IRCT, erarbeitete sie zwischen 1996 und 1999 zusammen mit türkischen und internationalen Vertreterinnen und Vertretern aus den Bereichen Medizin, Psychotherapie, Rechtswissenschaften und Menschenrechte das Istanbul Protokoll (der komplette Titel: Handbuch für die wirksame Untersuchung und Dokumentation von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder entwürdigender Behandlung oder Strafe).

Seit 2004 ist das Istanbul Protokoll Handbuch der Vereinten Nationen bei Untersuchung und Dokumentation von mutmaßlicher Folter.

Mit dem Istanbul Protokoll hat Professor Korur Fincancı in über 20 Ländern Trainings durchgeführt.

Für PHR war sie an der Exhumierung und gerichtsmedizinischen Untersuchung von Ermordeten in Massengräbern in Bosnien beteiligt. Für das IRCT hat sie als Mitglied einer unabhängigen Expertengruppe von Gerichtsmedizinern in den Philippinen in Gefängnissen medizinische Untersuchungen zum Nachweis von Folter durchgeführt.

 

Sie ist Ko-Autorin des Torture Atlas, der 2007 von der TIHV in englischer Sprache veröffentlicht wurde.

 

2008 und 2009 hat sie für das Ministerium für Justiz, das Ministerium für Gesundheit sowie die Türkische Ärztekammer in der Türkei Trainings für 3500 Ärztinnen und Ärzte sowie 1100 Richter und Richterinnen, Staatsanwälte und Staatsanwältinnen durchgeführt.

Für ihre Arbeit hat sie unzählige Preise und Würdigungen erhalten, darunter:

2014    von der Hrant Dink Stiftung den Internationalen Hrant Dink Preis

2011    von der deutschen Sektion der Ärzte zur Verhütung von Atomkriegen (IPPNW) den            Medizin-Friedenspreis

2000    von der Diyarbakır Ärztekammer den Friedenspreis für Demokratie und Freundschaft

In der Protestnote an die türkische Regierung schrieb PHR Programm Direktor, Widney Brown: „Dr. Fincancıs Verhaftung ist der offensichtliche Versuch eine Frau zum Schweigen zu bringen, die als Vorreiterin für die Menschenrechte in der Türkei und der ganzen Welt tätig ist. Wir sagen ganz klar, dass weder sie noch ihre Arbeit zum Schweigen gebracht werden können. Und wir als PHR werden auch nicht schweigen, während unsere Freundin für genau die Rechte inhaftiert wurde, die sie verteidigt.“

In der Presseerklärung von HRW sagte Hugh Williamson, HRW Direktor für Europa und Zentralasien: „Die Entscheidung für den Haftbefehl ist ein erneuter schockierender Beweis, dass die türkischen Autoritäten sich auf bekannte Menschenrechtsverteidiger und Journalisten eingeschossen haben, die eine Schlüsselrolle in der Dokumentation der Verschlechterung der Menschenrechte in der Türkei einnehmen.

Der nächste Gerichtstermin ist für November 2016 festgesetzt worden. Während der Untersuchungshaft hatte der Staatsanwalt bereits eine Haftstrafe von 14-15 Jahren gefordert.

Nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli steht zu befürchten, dass die türkische Regierung noch härter gegen jede Art der Opposition vorgehen wird. Laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu sind am 16. Juli nach dem Putschversuch 2745 Richter abgesetzt worden. Außerdem seien fünf Mitglieder des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte in Ankara vom Dienst entbunden worden. Aus lokalen Medien wurde in der Nacht zu Sonntag, 17. Juli, bekannt, dass gegen 140 Richter und Staatsanwälte in der Türkei Haftbefehle ergangen sind.

 

Das alles wird Korur Fincancı nicht davon abhalten, sich weiterhin mit vollem Engagement für die Menschenrechte und gegen die Folter einzusetzen.

 

In den neun Tagen der Inhaftierung schrieb sie an die Menschenrechtsfamilie weltweit zwei Briefe aus dem Gefängnis, die wir als Zeichen ihrer Stärke, ihres Muts und ihrer Zuversicht und Hoffnung mit Ihnen teilen möchten.

 

  1. Juni 2016

Meine Freundinnen und Freude, tief verankert in meinem Herz, Kameradinnen und Kameraden, meine Kinder, meine Schwestern und Brüder, meine riesige Menschenrechtsfamilie.

Wie reich habt Ihr mich gemacht, wie bunt mir mein Leben und alle Tage gestaltet, in so vielfältigen Farben habt Ihr mir auch die grauen Wände angemalt.

Die Stimme des Friedens und der Geist der Solidarität durchdringen alle Fugen. Ich lerne jeden Tag mehr und erfahre auf meinem innersten Lebensweg wichtige Informationen als Augenzeugin. Meine Entschlossenheit im Einsatz für die Menschenrechte wird dadurch nur noch verstärkt.  Weder Isolationshaft, noch das heiße Wetter, noch der auf uns ausgeübte Druck können uns einschüchtern – im Gegenteil – wir fangen jetzt erst an!

Für uns alle …..

Ich freue mich darauf, weiter dazuzulernen. Es ist für mich so wertvoll, Isolation vor Ort selbst zu erleben und dadurch als Augenzeugin den Kampf gegen Isolationshaft weiterzuführen.

Mir geht es gut, sehr gut. Das ist erst der Anfang. Kämpft weiter.

Sebnem

 

  1. Juni 2016

Meine Lieben, liebe Freundinnen und Freunde,

ich möchte meine tiefsten Gefühle der Solidarität mit Euch allen zum Ausdruck bringen. Ein Aspekt dieser Haft, der mich glücklich macht ist, dass dadurch so viele Farben und Meinungen zusammengekommen sind, vereint in gemeinsamer Solidarität und Widerstand.

So wie wir daran arbeiten, gemeinsam zusammenzustehen trotz unserer Unterschiede und Farben, wird unser Kampf absolut und unweigerlich zum Erfolg führen.

Ich möchte auch, dass Ihr wisst, dass Eure wunderbar bunte Unterstützung von Özgür Gündem mich tief in meiner Seele berührt.

In Freundschaft und Solidarität.

Der Kampf geht weiter.

Sebnem