MESOP : REPORT – Erkenntnisse – Thesen – Zusammenfassung von dem Besuch in Erbil vom 14. – 15.11.2014 von Theresa Kalmer, Cem Özdemir und Tom Koenigs
Gemeinsam waren Cem Özdemir, Tom Koenigs und Theresa Kalmer vom 14.-15. November in Erbil, Nordirak bzw. Irak-Kurdistan. Ziel der Reise war es einen Einblick in die dortige Situation mit ISIS zu bekommen. Neben den Besuchen der jesidischen Gemeinde, der Turkmenen, Christen und von Flüchtlingscamps, standen auch Gespräche mit dem Parlamentspräsidenten der KRG, dem Außenbeauftragten Falah Mustafa, Vertretern dortiger Parteien und Organisationen (KNC und PYD) und der UNAMI (United Nations Assistance Mission for Iraq) auf der Tagesordnung. Die Eindrücke und Ergebnisse der verschiedenen Gespräche zur humanitären, politischen, aber auch militärischen Situation haben wir hier kurz zusammengefasst:
Zur humanitären Lage
- 1. Aktuell sind über eine Million Menschen nach Irak-Kurdistan geflohen. Ein Großteil stellt dabei Binnenflüchtlinge (Internally Displaced Persons – IDPs) dar. Dabei ist davon auszugehen, dass die Flüchtlingsströme noch lange nicht zu Ende sind.
- 2. Ein Großteil der Flüchtlinge ist in Flüchtlingslagern aufgenommen worden. Viele sind aber noch in Schulen, Rohbauten, o.ä. untergekommen. Viele der Unterkünfte sind dabei noch nicht winterfest. „Winterization“ ist die große Herausforderung für alle humanitären Organisationen.
- 3. Zudem müssen noch viele Lager gebaut werden, da zum 01.12.2014 (mit vier Monaten Verspätung) die Schulen in Irak-Kurdistan wieder aufgemacht werden sollen, und auch um die Hilfsbereitschaft der einheimischen Bevölkerung nicht zu überfordern.
- 4. Von den Flüchtlingen kann sich keiner vorstellen, in naher Zukunft in die Dörfer zurückzukehren, da sie oft von ihren sunnitisch-arabischen Nachbarn verraten worden sind. Jegliches Vertrauen in den Schutz von Minderheiten, wie z.B. von Jesiden, außerhalb der kurdischen Autonomiegebiete ist verloren gegangen, weshalb die Forderung auch nach Schutzzonen und Sicherheitsgarantien aufkam. KRG stellt sich für lange Zeit auf Flüchtlinge im Land ein.
- 5. Die Zusammenarbeit von Expertinnen und Experten der Vereinten Nationen und von NGOs mit der kurdischen Regionalregierung läuft nach eigenen Angaben sehr gut. Die Kooperationsbereitschaft und der Einsatz der Regionalregierung für die Minderheiten wird ausdrücklich gelobt.
- 6. Die Bevölkerung in Nordirak nimmt die Flüchtlinge auf, unabhängig von Religion oder Herkunft. Die Solidarität und Empathie der Bevölkerung ist spektakulär.
- 7. Durch ihre Erlebnisse (Völkermord, Vergewaltigung, Verkauf der Mädchen und Frauen usw.) sind viele Flüchtlinge schwer traumatisiert. Deren Behandlung übersteigt die Kräfte der KRG bei weitem. Die internationale Hilfe kann nicht nur vor Ort stattfinden. Dem Beispiel Baden-Württemberg folgend sollten auch andere Bundesländer Sonderkontingente für besonders traumatisierte Flüchtlinge, insbesondere Frauen, Mädchen und minderjährige Waisen, bereitstellen, damit sie jenseits des Asylverfahrens unbürokratisch nach Deutschland kommen können.
- 8. Die bisherige humanitäre Unterstützung reicht bei weitem nicht aus. Die Mittel reichen nicht, die hohe Zahl der Flüchtlinge übersteigt die Kräfte und Mittel der KRG. Ein Vergleich: Der Zustrom in Irak-Kurdistan entspräche in Deutschland ca. 20 Millionen Flüchtlingen.
- 9. Vorschläge für Bildungskooperation auf universitärer Ebene gibt es.
- 10. Zugang für humanitäre Hilfe in das ISIS Gebiet gibt es nur vereinzelt (Impfstoff) über VN- und IKRK–Mitarbeiter von früher.
- 11. An unsere humanitäre Verantwortung, auch wegen der Lieferung von Chemikalien zur Herstellung von Giftgas durch deutsche Unternehmen die nach dem ersten Golfkrieg im kurdischen Halabja 1988 zum Einsatz kamen, sollten wir uns erinnern. Diese Verbrechen sind bei den Kurdinnen und Kurden gegenwärtig, auch wenn man sie nur dezent erwähnt und Deutschland heute, nicht zuletzt wegen der Waffenhilfe als Freund sieht.
Zur politischen und militärischen Lage
- 1. Irak ist ein “failed state”; KRG nicht. “The only decent place in the Middle East”. Kurdinnen und Kurden sind die einzige Gruppierung im Nahen Osten, die offen Nähe zur EU und den USA sucht.
- 2. Es gibt kein Vertrauen der Regionalregierung in Erbil in die Zentralregierung in Bagdad. Die Frage der umstrittenen Gebiete zwischen der KRG und der irakischen Zentralregierung sowie die Verteilung der Öleinnahmen bleiben ungelöst. Drei Monate sind von Bagdad keine Gehälter gezahlt worden, weder für Beamtinnen und Beamte noch für Soldaten und Soldaten (Peshmerga). Jüngste Verhandlungen und die mageren Ergebnisse werden von der KRG nicht ernst genommen, da sie nicht einmal die in der Verfassung zustehenden Zahlungen erreichen. Man wartet auf Taten, das heißt Dollar.
- 3. Aufgrund der finanziell schwierigen Lage durch die fehlenden Zahlungen aus Bagdad, verkauft Erbil selbst Öl, um die Autonomieregion halbwegs zu finanzieren. Ein gutes Verhältnis zur Türkei ist für die KRG daher überlebenswichtig, da die Türkei nicht nur ein wichtiger Handelspartner ist, sondern auch einziger Exportweg, quasi das Tor zur Welt.
- 4. Auch wenn alle irakischen Kurden und wohl auch eine Mehrheit der aus den kurdischen und umstrittenen Gebieten im Norden des Iraks lebenden Minderheiten für eine Unabhängigkeit Irak-Kurdistans eintreten, steht dies kurzfristig nicht auf der Tagesordnung. Zwar gilt das Verhältnis zur irakischen Zentralregierung als dauerhaft zerrüttet, doch agiert das KRG, klug, indem es die erste Priorität auf die Bekämpfung von ISIS und die Rückeroberung der besetzten Gebiete setzt und das Thema Unabhängigkeit erst danach und möglichst mit Unterstützung der Türkei und des Westens angehen möchte.
- 5. Die an die ISIS verlorenen kurdischen Gebiete sollen wieder erobert werden, unabhängig davon, welche Kurden (Jesiden), Christen etc. dort wohnen. Traditionelle Widersprüche zwischen den verschiedenen bewaffneten kurdischen Gruppen und Parteien sowohl innerhalb Irak-Kurdistans als auch in Syrien (Peshmerga, PKK, JPG oder von der KNC) sind durch die gemeinsame Bedrohung geringer geworden oder werden zurückgestellt. Auch viele Frauen schließen sich in letzter Zeit der Peshmerga an.
- 6. Im Sindschar-Gebirge kämpfen die örtlichen Jesidenn, Peshmerga, PKK usw. gemeinsam, um einerseits die Bevölkerung dort (Jesiden zu befreien oder zu schützen, andererseits um die Kränkung durch den Teilsieg des ISIS über die Peshmerga im Juni wett zu machen.
- 7. Alle Gesprächspartner waren dankbar für die deutschen Waffen, vor allem die panzerbrechenden Milan-Raketen. Auch UNAMI, OCHA und UNICEF halten diese in diesem Fall für unabdingbar, um weiteren Völkermord und schwere Verbrechen an der Menschheit zu verhindern. Die KRG hat vor dem Internationalen Strafgerichtshof wegen des Völkermordes Klage erhoben.
- 8. Zur Zurückdrängung der ISIS werden, so die KRG, neben den Luftschlägen jedoch auch offensive Waffen benötigt. Ausländische Bodentruppen werden aktuell nicht gewünscht.
- 9. Barzani hat mehr Peshmerga-Kämpfer für die Rettung von Kobane angeboten, als die dortigen Kämpfer, die um das Gleichgewicht zwischen den Gruppen besorgt, akzeptieren wollten. Die Beschränkung der Anzahl lag also nicht an der Türkei.
- 10. Peshmerga haben eine lange Erfahrung als Guerilla-Kämpfer, sind aber als Infanterie gegen die modern ausgerüstete ISIS nicht ausgebildet. Minen und booby-traps in den rückeroberten Gebieten haben hohe Verluste verursacht. Minenräumer werden dringend gebraucht.
Schlussfolgerung aus der Reise:
- 1. Humanitäre Hilfe muss massiv aufgestockt werden. Es muss alles daran gesetzt werden, die Flüchtlingslager zu erweitern und winterfest zu machen.
- 2. Den hochtraumatisierten Menschen muss psychologische Hilfe in enger Zusammenarbeit mit der UN und den regionalen Kräften sowohl innerhalb als auch außerhalb Irak-Kurdistans beiseite gestellt werden.
- 3. Der Region-Irak-Kurdistan muss geholfen werden, die Bildungsangebote für die enorme Anzahl an Flüchtlingen bereit zu stellen.
- 4. Bildungskooperationen mit deutschen/europäischen Universitäten und Ausbildungsplätzen müssen gefördert werden.
- 5. Deutschland muss sich dafür einsetzen in großem Umfang Minensuchern in das Gebiet zu entsenden.
- 6. Nach den Waffenlieferungen, müssen die Peshmerga-Kämpfer an den Waffen in größerem Umfang ausgebildet und militärtaktisch geschult werden. Dafür ist mehr Bundeswehrpersonal von Nöten.
- 7. Deutschland muss sich für internationale Schutzzonen einsetzen, damit bedrohte Minderheiten, wie z.B. die Jesidinnen und Jesiden Schutz geboten werden kann.
- 8. Es braucht weiter Druck auf die Türkei, damit die Grenze für Flüchtlinge weiter offen und für kurdische Kämpfern durchgängig ist, für ISIS jedoch kategorisch geschlossen ist.
- 9. Druck auf die Zentralregierung in Bagdad, um einerseits den Zahlungsverpflichtungen nachzukommen und andererseits die Peshmerga als Kämpfer gegen ISIS stärker zu nutzen und auszurüsten.
- 10. Die Menschen im Sindschar-Gebirge müssen von der ISIS-Belagerung befreit werden. Dafür müssen die kurdischen Kämpfer in die Lage versetzt werden.