MESOP REPORT: Das Kalifat des Schreckens

Armn Siebert (Die Stimme Russlands) interviewt Thomas von der Osten Sacken (WADI e.V.)

19-8-2014- STIMME RUSSLANDS Der Vormarsch der brutalen Gotteskrieger der IS im Irak konnte am Wochenende vorerst gestoppt werden. Trotzdem stellen die gut ausgerüsteten und vernetzten Krieger nach wie vor eine große Gefahr für die gesamte Region da. Legitimiert das Leiden der Menschen im Irak internationale Waffenlieferungen? Das fragte Armin Siebert den Nahost-Experten Thomas von der Osten-Sacken, Geschäftsführer von Wadi, einem Verband für Krisenhilfe und Entwicklungszusammenarbeit.

Herr von der Osten-Sacken, die ISIS oder IS, wie sie sich inzwischen nennen, tauchten, zumindest in der internationalen Wahrnehmung, wie aus dem Nichts auf. Kam ihr rasanter Vormarsch in den letzten Monaten für Sie genauso überraschend?

Nein, weil diese Organisation, die sich ja aus den alten al Quaida im Irak entwickelt hat, seit 2012 vor allem in Syrien immer stärker geworden ist und dort ja im Nordosten des Landes große Teile unter ihre Kontrolle gebracht hat und vor allem im Kampf gegen andere Teile der syrischen Opposition sich schon durch ihre extreme Brutalität ausgezeichnet hat. Insofern war zu erwarten, dass, solange dieser Konflikt dort weitergeht, auch ISIS sich weiter ausbreitet. Allerdings is es dieser Organisation dann gelungen, im Juni gleich die zweitgrößte irakische Stadt, also Mosul im Nordwest-Irak, zu überrennen und unter ihre Kontrolle zu bringen. Das war schon ein Schock und auch überraschend, ja.

Jeder Mensch hat Familie, oft eine Arbeit, einen Freundeskreis. Was sind das für Menschen beim IS und warum sind sie so unglaublich brutal?

Nun, der IS oder Islamische Staat, setzt sich zusammen aus alten, kampfgestählten Dschihadisten der Al Quaida, die in unterschiedlichen Kampfherden bisher gekämpft haben, sei es in Afghanistan, in Mali, im Jemen oder eben auch im Irak nach dem Sturz von Sadam Husein. Und ihnen ist es auch geglückt, in diesen hauptsächlich sunitisch besiedelten Gebieten Nordost-Syriens und des West-Iraks innerhalb des konfessionalisierten Krieges zwischen Suniten und Schiiten, der da im Moment tobt, lokale Stämme und lokale Akteure zu kooptieren. Es ist also eine Mischung, einerseits, aus extrem brutalisierten, jungen, meist jungen, internationalen Dschihadisten, die aus aller Welt kommen, und lokalen Milizen und Kämpfern. Das macht deren Gefährlichkeit aus. Es ist eine, im wahrsten Sinne des Wortes, internationale Brigade, die da gerade kämpft.

Der IS hat ein Kalifat ausgerufen. Was heißt das? Wie würde man im Jahre 2014 in einem Kalifat nach Vorstellung des IS leben?

Nun ganz klar nach der striktesten Auslegung des islamischen Rechts, der Scharia. In der Vorstellung des politischen Islam hat Gott ja die Gesetze niedergelegt, sowohl im Koran, als auch in den Hadisen. Menschen obliegt es nicht, Gesetze zu machen. Menschen haben Gesetze einfach nur umzusetzen. Und die Art, wie der IS die Scharia nun auslegt, ist eine sehr, sehr radikale, die eben beinhaltet, dass etwa Frauen aus dem öffentlichen Leben verschwinden, sich völlig zu verschleiern haben, letzen Endes in der Öffentlichkeit überhaupt nicht mehr auftauchen. Alle nicht-muslimischen Minderheiten, seien es Christen und wie jetzt im Falle der Jesiden, entweder umgehend zu konvertieren haben oder aber vertrieben oder umgebracht werden. Und ansonsten jede Art von Dissidenz gegenüber dieser islamischen Scharia mit drakonischen Strafen, also Auspeitschen, Kreuzigen, Exekutionen, etc. bestraft werden. Dazu muss man sagen, dass es sich beim Islamischen Staat um eine sunitische Strömung des Islam handelt. Das heißt, diese Kämpfer sehen in den Schiiten ebenfalls mehr oder weniger Ungläubige und haben eine ganz, ganz starke anti-schiitische Ausrichtung, was sich etwa darin ausdrückte, dass, als Mosul überrannt worden ist, sie 1500 gefangene Soldaten der irakischen Armee umgehens und öffentlichkeitswirksam massenexekutiert haben.

Was unterscheidet den IS von Terrororganisationen wie al Quaida?

Nun es ist einerseits wirklich der Versuch einer territorialen Kontrolle, also der Aufbau eines zusammenhängenden Territoriums, über das man Macht ausübt, was natürlich auch ökonomische Auswirkungen hat. Der IS kontrolliert jetzt in Syrien wichtige Ölvorräte, kontrolliert Grenzen zur Türkei, das heißt, ist finanziell wessentlich unabhängiger etwa auch von Transferzahlungen von reichen Stiftungen aus dem Golf, als es Al Quaida je war. Al Quaida hat nie versucht, wirklich diese Art von zusammenhängender Territorialkontrolle auszuüben. Und inzwischen gibt es zwischen der alten Al Quaida und dem Islamischen Staat auch größere Differenzen über diese ausgesprochene Brutalität, mit der eben der islamische Staat gegen Andersgläubige vorgeht. Allerdings zeigt sich auch im Moment, dass Teile von Al Quaida, etwa im Jemen oder in Lybien, jetzt doch sehr angetan sind von den momentanen Erfolgen des Islamischen Staates und dass es offensichtlich auch innerhalb von Al Quaida Gruppen gibt, die gern mit dem Islamischen Staat amalgamieren würden.

Der IS scheint nicht in Höhlen zu hausen und auf Steintafeln zu schreiben. Wie kann eine auf der einen Seite scheinbar mittelalterliche Gruppe auf der anderen Seite über moderne Waffen verfügen und sogar social media für ihren Kampf nutzen?

Da ähnelt der Islamische Staat ganz stark etwa auch faschistischen Bewegungen in den 20er, 30er Jahren. Man lehnt ja nicht Moderne ab, sondern man lehnt Teile von Moderne ab, also Demokratie, Pluralismus, etc. Gegen moderne Technologie haben sie so wenig etwas einzuwenden, wie das Faschisten in den 20er Jahren hatten. In den Bürgerkriegen in Syrien und jetzt auch im Irak sind den ISIS-Kämpfern sehr sehr viele moderne Waffen in die Hände gefallen. Sie verfügen über sehr viel Geld, um Waffen auch zu kaufen. Und schon Al Quaida hatte ja begonnen mit dieser sehr ausgeprägten Werbekampagne für sich selbst. Inzwischen verfügt der IS über eigene Hochglanz-Broschüren in verschiedenen Sprachen und über Twitter und facebook. Und versucht darüber auch ganz gezielt Leute in Europa oder in anderen Ländern zu rekrutieren. Sie brauchen ja auf der einen Seite durchaus Ingenieure, Ärzte, technische Intelligenz, und andererseits neue Kämpfer. Man sieht, dass etwa auch in Deutschland oder Frankreich in einem gewissen Segment der migrantischen Bevölkerung, unter unzufriedenen, weitgehend gescheiterten, jungen Männern diese IS eine unglaubliche Ausstrahlungskraft hat. Sie können da jetzt nach Syrien oder in den Irak reisen und sich da im wahrsten Sinne des Wortes als Herrenmenschen aufführen.

Der IS machte zuerst im syrischen Bürgerkrieg durch seine Brutalität auf sich aufmerksam. Was unterscheidet die Situation in Syrien von der im Irak? Plump gefragt, wo hat es der IS einfacher Fuß zu fassen?

Diese beiden Konflikte greifen natürlich ineinander. Der IS kommt aus Syrien und solange der syrische Bürgerkrieg weitergeht und solange vor allem das Regime von Assad enorm von dem Islamischen Staat profitiert, aus zwei Gründen, erstens, weil der Islamische Staat weniger die Regierung bekämpft, als die anderen Oppositionsgruppen, die eine weniger radikale und weniger islamistische Agenda haben, und auf der anderen Seite natürlich sich das Regime immer als Vorkämpfer gegen den Terrorismus präsentieren kann, wird es schwierig sein, den Islamischen Staat ganz zu schlagen. Im Irak, das hat man gesehen, stößt jetzt, in dem Augenblick, wo es zu einem Konflikt mit den irakischen Kurden kommt, der IS zum ersten Mal auf eine Gruppierung, die willens und in der Lage ist, wirklich zu kämpfen und eine weitgehende internationale Unterstützung hat, was eben bei der sehr fragmentierten syrischen Opposition bisher nicht der Fall gewesen ist. Das heißt, bis dieser Konflikt mit den irakischen Kurden virulent geworden ist vor zwei Wochen hat sich keine wirklich effiziente militärische Organisation dem IS in den Weg gestellt. Und jetzt zum ersten Mal ist dieser Vormarsch zumindest einmal gestoppt und an einigen Stellen sogar ein wenig zurückgedrängt worden.

Die USA führen nun zumindest wieder Zitat: begrenzten Einsätze, also Einsätze aus der Luft durch. Reicht das? Oder sollten die USA nicht aktiver werden, da sie ja wohl auch eine gewisse Mitschuld an der Situation tragen?

Ich denke, die USA tragen aus zwei Gründen eine gewisse Mitschuld. Der Abzug aus dem Irak, der ja eines der Ziele von Obama gewesen ist, war viel zu früh. Ich kenn den Irak seit zwanzig Jahren. Ich arbeite seit Anfang der Neunziger Jahre im Irak und die Lage hatte sich dort 2009/10 wirklich stabilisiert und in allen Teilen des Iraks haben die Leute wirklich relativ optimistisch in ihre Zukunft geschaut. Dieser verfrühte Abzug der USA, die ja auch ein Regulator waren gegenüber anderen Regionalmächten, die dort versuchen, ihre Interessen durchzusetzen, geparrt mit den Ereignissen des sogenannten Arabischen Frühlings, die später eben zu dem Bürgerkrieg in Syrien geführt haben, haben diese Situation verschärft und zu dem Backlash geführt, den man jetzt sieht. Ohne die Luftunterstützung durch die USA hätten die irakischen Kurden es vermutlich nicht geschafft, jetzt dieses Vormarsch von ISIS aufzuhalten, weil sie einfach keine Luftwaffe haben. Insofern war das begrüßenswert, müßte aber eingebettet sein in eine viel langfristigere politische und auch militärische Strategie, wie man den ganzen Nahen Osten davor bewahren kann, sich nicht nur in einen failed state sondern in eine failed region zu transformieren, die dann in etwa so aussehen könnte wie Europa zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges.

Auch in Europa wird heftig diskutiert, ob man Waffen in den Irak liefern sollte. Hilfslieferungen ja, Waffen nein?

Also im Augenblick rufen und bräuchten die irakischen Kurden, die ja in den letzten zwanzig Jahren bewiesen haben, dass bei ihnen der Wille vorherrscht, in ihren Gebieten wirklich etwas anderes als eine islamistische Terrorherrschaft aufzubauen, die auch immer als der andere Irak galten, als der Teil, der prosperiert und friedlich ist – im Augenblick rufen die irakischen Kurden gezielt nach Waffensystemen, die zumindest mal denen der ISIS equivalent sind. Die Kurden verfügen über keine Luftwaffe und wirklich über keine Hightechwaffen. Das heißt, die Unterstützung der Kurden jetzt aktuell in ihrem Kampf halte ich für völlig richtig. Gegenüber der irakischen Zentralregierung, die ja vor zwei Monaten bewiesen hat, dass die irakische Armee in ihrem momentanen Zustand nicht in der Lage ist, ISIS wirklich zu bekämpfen, müssten Waffenlieferungen und militärische Unterstützung auch an gezielte Forderungen gebunden werden, was eine Regierung der nationalen Einheit anbetrifft und vor allem, was die Einmischung der Nachbarstaaten anbelangt. Aber im Augenblick, eine Unterstützung der irakischen Kurden halte ich für absolut sinnvoll.

Herr von der Osten-Sacken, Sie sind Geschäftsführer einer humanitären Organisation. Inzwischen ist auch endlich die humanitäre Hilfe für den Irak angelaufen. Was gilt es, hier noch zu verbessern?

Die läuft gerade an. Aber in den letzten drei Tagen war eine fact-finding mission von uns in den Flüchtlingslagern an der syrischen Grenze und auch in Dohuk, wo ja ein Großteil der Jesiden vor der ISIS hingeflohen sind, und dort ist die Lage momentan absolut katastrophal. Die Leute haben keine Nahrung, haben kaum Zelte, keine Matrazen. es fehlt selbst an Trinkwasser. Also im Augenblick ist die Situation für diese Flüchtlinge immer noch katastrophal. Man muss wissen, bis so eine UN-Maschinerie anläuft, dauert das etwas. Und das ist natürlich alles auch keine langfristige Perspektive. Sämtliche Länder der Region haben inzwischen Millionen Flüchtlinge aufgenommen und sind völlig an der Grenze ihrer Kapazitäten. Allein in Irakisch-Kurdistan mit dreieinhalb Millionen Einwohnern gehen wir davon aus, dass inzwischen über eine Million Flüchtlinge dort untergebracht worden sind. Also noch ist auch die humanitäre Lage katastrophal. Und wir als Organisation, die sehr viel mit Frauenrechten zu tun hat und zur Unterstützung von Frauen arbeitet, erleben wir eben auch, dass sehr viele Menschen extrem traumatisiert sind, weil sie diesen Terror von ISIS miterleben mussten, die gezielt Frauen vergewaltigt haben, Übergriffe getätigt haben, halbe Familien ausgerottet haben. Und für diese Menschen, die da geflohen sind, sind das natürlich Erlebnisse und es wird Jahre dauern bis sie diese überhaupt verarbeiten können.
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