MESOP : REFLEXIONEN ZUR ZEIT – LIFE »AS A SERVICE« – Herr & Knecht im 21. Jahrhundert / VON ANDREAS RAITHEL

Nach dem Krieg waren die Soziologen Helmut Schelsky und Arnold Gehlen überaus interessiert an der Wahrnehmung und Beschreibung von »Erstmaligkeiten«. Nun ist, zumal in Europa, Gesellschaft an jedem Punkt auf der Zeitachse ein „nicht mehr und noch nicht«. Aber seit der Wende zum 20. Jahrhundert verwandelt sich nicht alleine Europa, sondern der gesamte Planet in einen anderen Aggregatzustand. Die mit dem Neolithikum anhebende moderne Gesellschaft hat „ihren >archetypischen< Sinn“ erfüllt und ist somit in eine Phase der Sinnlosigkeit eingetreten; die Alternative wäre dann, biologisch gesehen, entweder Tod oder Mutation«, so sah es 1951 der Antwerpener Sozialpsychologe Hendrik de Man (Vermassung und Kulturverfall. Eine Diagnose unserer Zeit. Bern/München 1970, S. 125).

Die neben einigen Vertretern aus der Familie der Nager wohl erfolgreichste >höhere< Lebensform Homo LINNÈ, 1758 ist dank acht Milliarden Vertretern vom »Tod« nicht leicht zu beeindrucken — bliebe also die Mutation.

Die Neolithiker haben ihre Aufgabe übererfüllt, und nun  besteht eher die Gefahr, daß wir vom Vorrat erschlagen werden, während die Welt knapp wird. Hier täte >Mutation< wirklich not, weniger eine biologische als eine mentale. Folgerichtig wäre ein ordnender Rückbau des ganzen Projektes, insbesondere der schieren Zahl der Gattungsteilnehmer, am besten auf ein Zehntel der heutigen Erdbevölkerung. Dies würde der Gattung Homo, allen anderen Gattungen und dem Planeten insgesamt viele Greuel ersparen. Doch eben hier schlagen die Machtverhältnisse durch. Der »Tachometer der Geschichte« ist stehengeblieben »bei einer >liberalen< Gesellschaft, die von ihrem eigenen Auswuchs, von ihrer Exkreszenz, ergriffen ist«, schrieb Jean Baudrillard vor dreißig Jahren und prognostizierte: »Diejenige Strategie, die die Szene in dem Moment besetzt, wo die Tachos stehenbleiben, hat alle Chancen, sich dort zu behaupten.« (Jean Baudrillard: Die göttliche Linke. München 1986, S. 139)

Diejenigen, die am Drücker saßen, als der Sinn erfüllt war und die Tachometer stehenblieben, sind die Kaufmannsladen Tycoon und ihr technischer, naturwissenschaftlicher und verwaltender Anhang. Nach 8000 Erfolgsjahren sind sie wohl auch genetisch-konstitutionell nicht in der Lage in einer anderen Dimension zu operieren als der des >Wachstums<. Ein Zukunftsprojekt, welches nicht im Komplettverzehr des Planeten besteht, ist mit diesem Erfolgspersonal nicht denkbar. Erfolg und Scheitern liegen meist nahe beieinander, so auch hier: Den westlichen Führungsgesellschaften steht das Wasser bis zum Bauchnabel, dennoch können sie nicht aus ihrer Haut. Sie vollstrecken weiter das Gesetz, unter dem sie angetreten sind. Die clerks der Kaufmannsladen-Tycoone kommen nun auf den Gedanken, es sei eine >Strategie<, sich »Zeit zu kaufen« (ein entlarvendes Sprachspiel).

Ganz schlicht: In Anbetracht der demographischen Implosion Europas importieren sie Konsumenten, die es den Unternehmern erlauben, am »Wachstum« festzuhalten. Dieselben clerks behaupten, Bildung und Wohlstand würden die Reproduktionsrate senken. Man darf also erwarten, daß die nunmehr praktizierte »Strategie« alle paar Jahrzehnte um der »Wachstums«-Doktrin willen wiederkehren wird. Dies würde schließlich in fortgesetzten Völkerraub ausarten. Man denkt unwillkürlich an die in der Frühgeschichte gepflegte Praxis des Frauenraubs, heute nur industriell und organisatorisch perfektioniert. (Wie damals niemand die Frauen fragte, so auch heute niemand die Syrer: Stillschweigend wird unterstellt, daß ohnehin niemand mehr in sein Loch in Kobane und Umgebung zurück will.)

Auch das Ende zeugt von den Anfängen. Die Politik des Berliner Parlamentsregimes atmet buchstäblich noch den Geist der Neolithiker und besitzt europäische Dimension. Es kommen zum Einsatz »die beiden europäischen Gewalten das Titanische u. das Formale« (Gottfried Benn an F. W. Oelze, 2.8.1933).

Ethnologisch, kulturanthropologisch ist die Kopfzahlergänzung durch Orientalen ein Streich, mit dem man gleich mehrere Fliegen erlegt. Der Orientale ist seit ewigen Zeiten an die Despotie gewöhnt, mit ihm kann man die zeitgemäße Pyramide, nämlich den Aktienindex, viel problemloser bauen als mit dem ungezogenen Polis-Bürger europäischen Zuschnitts. Neue Produktions- und Konsumtionsverfahren ermöglichen es sicherlich, den Anteil der Analphabeten noch über jene Marke von 70% zu heben, die man dieser Tage bei österreichischen Grundschulabsolventen ermittelt hat. Um sich ein Handy, ein Auto und zweimal im Jahr Urlaub zu wünschen, braucht es nun wirklich keine »Bildung«. Auch den ökologischen Gedanken kann man mit diesem Personal bestens ausradieren. Für den Orientalen ist die Natur ohnehin der Feind an sich. Was der Biophysiker Eugene Rabinowitch (1901-1973) noch anmahnte, können die heutigen Planer der künftigen Gesellschaft im Archiv abheften. Es braucht in der Masse nur willige, dumme Hände. Je »niedriger das Niveau« (Rabinowitch), desto niedriger die Löhne. Und desto höher die Pyramide.

Im 19. Jahrhundert akkompagnierten eher Romantiker den Aufstieg der Kaufmannsladen-Tycoone. Im 20. Jahrhundert waren es eher »linke« Strömungen die »großen Progressionen begleiten; sie hindern sie aber nicht«2.

In den Weltkriegen sind beinahe alle sozialen Ideen verbrannt. Nun müssen die Kaufmannsladen-Tycoone selbst ran an die Ideenproduktion. Wer weiß, vielleicht erleben die Europäer — von den einen erhofft, von den befürchtet — ein titanisches 21. Jahrhundert. Der Protestantismus verbrüdert sich (seine orientalischen Wurzeln erkennend) mit den eingewanderten Moslems zu einer synkretistischen Konsum- und Freizeitreligion, angefeuert von linksliberalen Zivilreligiöslern. Der Katholizismus hadert ein wenig, trabt dann aber (weil er der Gesellschaft ähnelt) : die Konten bis zum Bersten voll, aber keine Kinder,  brav hintendrein. Dann braucht es nur noch das Tagwerk »öffentlicher Intellektueller«, und schon kam auf der Asche der verbrannten europäischen bürgerlichen Welt der Altar eines nie gesehenen ETRE SUPREME gemauert werden:  Acht, nein zehn Milliarden Konsumenten bauen den einen riesigen Kaufmannsladen.

1 »Damit die Menschheit insgesamt zivilisierteren Beziehungen zwischen den Gruppen, und das heißt zwischen den Nationen, zustreben kann, müssen alle Gesellschaften diese Entwicklung zur selben Zeit erfahren. Sonst werden die zurückgebliebenen Gruppen die weiter fortgeschrittenen auf ihr Niveau herunterziehen.« In: The Bulletin of Atomic Scientists, Nov. 1966

2 Max Bense: »Hegel und die kalifornische Emigration«, in: Merkur IV (1950), S. 125.