MESOP PORTRAIT : Salih Mirzabeyoğlu, islamischer Denker oder Terrorist?
Demokratisches Türkeiforum, 03.08.2014 – Am 22. Juli 2014 wurde Salih İzzet Erdiş – bekannt als Salih Mirzabeyoğlu – (geboren am 10. Mai 1950), der vermeintliche Führer der militant-islamistischen Organisation İBDA-C (türk. İslami Büyük Doğu Akıncılar Cephesi, deutsch „Front der Vorkämpfer für den Islamischen Großen Osten“) aus der Haft entlassen.[1] Mehr als 10 Jahre seiner 15,5 Jahre dauernden Haft verbrachte er als Gefangener, der zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilt wurde, in Einzelhaft. Er wird auf der einen Seite als Denker und Dichter mit islamischem Hintergrund verehrt, auf der anderen Seite aber als Führer einer sehr gewalttätigen Organisation in die Nähe von al-Qaida gerückt.
Lebenslauf
Der aus einer kurdischen Familie mit dem Titel eines Sayyid stammende Salih Mirzabeyoğlu wurde in Erzincan geboren. Grundschule, Mittelschule und Gymnasium besuchte er in Eskişehir. Im Alter von 15 Jahren lernte er den Dichter Necip Fazıl Kısakürek kennen und kam über ihn in den Sufi-Orden der Naqschbandi.
Mitte der 70er Jahre schloss sich Mirzabeyoğlu der Jugendorganisation “Akıncılar Derneği” (Verein der Vorkämpfer) der Nationalen Heilspartei (MSP) an. Laut der deutschen Wikipedia traten die ehemaligen Akıncı-Güç Kader um Mirzabeyoğlu ab 1984 unter dem namen İBDA auf. Dabei konzentrierte sich Mirzabeyoğlu verstärkt auf seine schriftstellerische Tätigkeit, während sich Sympathisanten, teilweise illegal, als İBDA-Cepheleri (İBDA-Fronten) organisierten. Im Februar 1991 wurde Mirzabeyoğlu ein erstes Mal verhaftet. Nach mehrmonatiger Untersuchungshaft kam Mirzabeyoğlu jedoch wieder frei.
Auf der Internetseite “Freiheit für Salih Mirzabeyoğlu” gibt es eigene Anmerkungen zum Lebenslauf.[2] Demnach wurde Salih Mirzabeyoğlu in der Nacht vom 9. auf den 10. Mai geboren. Am 24. Mai 1950 erhielt er seinen Namen. Im Jahre 1975 begann er mit der Herausgabe der Zeitschrift Gölge (Schatten) und gab sich einen neuen Nachnamen. Dabei berief er sich auf seine Vorfahren, von denen er folgendes erfahren haben will: “Am 25. März 1926 wurde im Verlauf des Scheich-Said-Aufstands sein Großvater İzzet Bey getötet. Dieser hatte Leute aufgenommen, die sich mit der Regierung überworfen hatten. Der Vater von İzzet Bey war Mirza Bey, d.h. İzzet Bey war Mirzabeyoğlu.” Am 4. Februar 1990 heiratete er seine Frau Hayran.
Die Werke von Salih Mirzabeyoğlu
Sowohl die deutsche, als auch die englische und türkische Wikipedia enthält eine Liste mit über 40 Werken von Salih Mirzabeyoğlu, jedoch nur wenig über die in diesen Werken vertretenen Ansichten. Der undatierte Eintrag bei biyografi.net enthält sowohl in Englisch als auch in Türkisch folgende Angaben dazu: “Die Arbeiten von Salih Mirzabeyoğlu beschäftigen sich mit Philosophie, Politik, Recht, Literatur, Mathematik und Physik. Er spricht dabei von einem Staat der “oberen Erhabenheit” (tr: Başyücelik Devleti), geleitet von einer Aristokratie der Intellektuellen. Er lehnt sowohl die Vereinten Nationen als auch einen Beitritt zur EU ab. In seinen Werken ist von den Zielen seiner Ideen, aber weniger von Aktionen zur Erreichung seiner Ziele die Rede.”
- Auf den Seiten des Verlages IBDA (Türkisch) waren im August 2014 57 Werke von Salih Mirzabeyoğlu aufgeführt.
Die İBDA/C
Siehe hierzu auch den Absatz “Anklageschrift”
Die deutsche Wikipedia führt eine Reihe von Aktionen auf, die der İBDA/C zur Last gelegt werden, erwähnt aber nur beiläufig, dass für den Anschlag vom 30. Dezember 1994 auf ein Café in Istanbul, dem der Filmkritiker Onat Kutlar und die Archäologin Yasemin Cebenoyan zum Opfer fielen, später Militante der PKK verurteilt wurden.[3] Der Spiegel vom 1. Oktober 2001 machte in einem Artikel unter dem Titel Kulturell beschmutzt (von Voigt, Wilfried) vor allem auf Aktionen der Organisation in Deutschland aufmerksam und behauptete, das die İBDA/C sich von von den faschistischen “Grauen Wölfen” abgespalten habe. Der Artikel machte die “IBDA-C-Terroristen” für den Mord an der Anthropologin Ayse Cebenyan verantwortlich.
Diesen Mord führt auch amnesty international in einem Bericht aus dem Jahre 1996 als Beispiel für Morde bewaffneter Organisationen an Zivilisten auf.[4] Des Weiteren wird hier der Anschlag vom September 1995 auf die Armenierin Matild Manukyan, Besitzerin mehrerer Bordelle, als Gewaltakt der İBDA-C aufgeführt.[5] Ein Artikel von Ely Karmon vom 2. Dezember 1997 mit dem Titel Radical Islamic Political Groups in Turkey macht folgende Angaben zu İBDA-C: “The Great Eastern Islamic Fighters Front (IBDA-C) active since the middle of the 1970s but more extremist and aggressive since the beginning of the 1990s… struggles for the constitution of an Islamic state, but uses leftist slogans in its publications and accepts ex-Marxists in its ranks. It is also extremely antisemitic and anti-Christian in its propaganda and terrorist activity as well… In 1990 IBDA-C was responsible for 90 terrorist incidents, including five bombings in various cities (according to Turkish Daily News of 19 January 1995).”
Im Bericht des Verfassungsschutzes Baden-Württemberg aus dem Jahre 2006 steht u.a: “Die IBDA-C) wurde im Jahr 1985 gegründet und gilt als die militanteste islamistische Gruppierung in der Türkei. Ziele der IBDA-C sind die Zerstörung der laizistischen Grundordnung der Türkei und letztendlich die Errichtung eines „Weltstaats der Sunniten“…[6] Necip Fazil KISAKÜREK legte mit seinem Werk „Büyük Dogu“ (Großer Osten) die theoretischen Grundlagen für die IBDA-C. MIRZABEYOGLU fügte der Vision seines Vorbilds ein gewaltsames Konzept zu… Im Herbst 1998 wurde MIRZABEYOGLU von türkischen Sicherheitskräften gefasst. Er agierte innerhalb der Justizvollzugsanstalten weiter und nutzte die Sammelzellen und Massenbelegungen zur Rekrutierung neuer Anhänger sowie zur technischen und ideologischen Schulung. Mehrfach stiftete er zu blutigen Gefängnisrevolten an.”
Ideologie
Die deutsche Wikipedia hat nur einen kurzen Absatz zur Ideologie der Organisation, der einige der oben gemachten Angaben stützt. Die türkische Wikipedia hat im Artikel zur İBDA-C keinen eigenen Absatz und schreibt ohne Beleg u.a.: “Die Organisation ist nach der in eigenen Worten ‘spontan auftretenden Dialektik’ in unabhängige Gruppen aufgeteilt, die keinen hierarchischen Kontakt zueinander haben.” In der englischen Wikipedia stehen im Absatz Doctrine viele Dinge, für die kein Beleg angeführt ist und zum Teil auch wenig Sinn machen, wie “IBDA-C wishes to destroy the secular state and constitutional system and replace it with religious rule and law, first in Turkey, and then throughout the world. Necip Fazıl Kısakürek’s system of thought, Büyük Doğu, wsa an absolutist ideology promising to bring Muslims closer to success and salvation, with the central idea that truth is only accessible through the practice of Islam… In addition to committing terrorist attacks, the organization also produces propagandist literature put out in bookstores and on the Internet… IBDA-C is not an organization to be taken lightly, but it can perhaps be said to have a dubious future.”
Etwas informativer ist ein Artikel in der Zeitschrift Kurtuluş aus dem Jahre 2000 mit dem Titel İSLAMCI ÖRGÜTLER TARİHLERİ BOYUNCA DÜZENE KARŞI MÜCADELE YÜRÜTMEMİŞLERDİR (Islamische Organisationen haben keinen Kampf gegen das System geführt). Hier steht u.a.:
Beeinflusst von den Ideen von Necip Fazıl Kısakürek begann eine Gruppe unter den Akıncılar 1975 eine Zeitschrift mit dem Titel “Gölge” (Schatten) herauszugeben. Die vor dem Militärputsch von 1980 als AK-DOĞUŞ’çular (siehe Absatz Publikationen) bekannte Gruppe hatten einen Staat als Ziel, den sie als “Obere Erhabenheit” (Baş Yücelik) bezeichneten. Die Klasse der Intellektuellen sollte das System verändern (Seite 187 des gleichnamigen Buches von S.Mirzabeyoğlu). Das Programm, mit dem sie das Ziel erreichen wollten, hatte drei Punkte:
- 1. Den Feind schockieren, damit sein wahres Gesicht zum Vorschein kommt
- 2. Islamische Einrichtungen “bombardieren”, damit die moslemischen Massen aus ihrer Behäbigkeit aufwachen
- 3. Parallel dazu Arbeit unter den Massen und Kaderschulung (zitiert nach dem Werk: Ayet ve Slogan von Ruşen Çakır)
Die Ak-Doğuşçular distanzierten sich von der MHP. Für sie waren die Revolutionäre nicht das Ziel. Nach dem Putsch von 1980 wurde es still um die Gruppe. Einige Mitglieder wurden verhaftet. In dieser Zeit wurden viele Werke von N.Fazıl Kısakürek und S.Mirzabeyoğlu heraus gebracht. Mit dem Erscheinen der Zeitschrift Tavır im Jahr 1986 tauchte die Gruppe wieder auf… Die İBDA-C besitzt keine zentrale Struktur und kann daher leicht vom Staat unterwandert werden.
Ähnliche Angaben werden auch in einem Blog bei Tripod (ohne Datum, vermutlich aus dem Jahr 1998) gemacht. Zusätzlich heißt es hier: “Die Organisation zeigte sich vor dem 12. September (1980) bei einigen Demonstrationen und verlor einige Militante bei Auseinandersetzungen. Sie benutzten Parolen wie “Gewalt ist die Lösung. Bewaffneter Kampf für das Scheriat”. Seit 1979 gab sie die Zeitschrift “Akıncı Güç” heraus. In Anatolien hatten sie einige Lager zur Schulung an Waffen. Nach ihrer Lehre von der “spontanen Bildung” (tr: Kendinden Zuhur) kommen einige Personen zusammen und bilden eine Front… Die Theorie nennen sie “NBKK” (Nizam bozucu Kitle Kıyamı = Ordnungsstörender Massenaufstand).”
Publikationen
In einer Art Selbstdarstellung beschreibt die Zeitschrift Akademya, welche Publikationen im Umfeld der IBDA-C standen und stehen.[7] Hier heißt es u.a.:
Es begann mit einer Sondernummer der Zeitschrift Haberci vor 11 Jahren mit dem Titel “Zur Akademya”. Wir sind vielleicht die Grundschule oder Mittelschule der “Akademie der Hohen Erhabenheit” (tr: Başyücelik Akademyası), die den Rahmen der Ideologie des Großen Ostens webt. Unsere Mission ist es, einen Beitrag zum Gedanken Großer Osten-İBDA zu leisten.
Unsere Geschichte geht auf die Zeitschrift Ak-Doğuş im Jahre 1989 zurück. Es gab viele Verfahren gegen die Verantwortlichen und alle Ausgaben wurden beschlagnahmt, so dass die Zeitschrift 1990 ihr Erscheinen einstellen musste. Zwischen 1990 und 1996 wurden die Zeitschriften Ak-Zuhur, Tahkim und Siyahbayrak heraus gegeben, bis die 3-monatliche Zeitschrift Akademya im Jahre 1996 das erste Mal erschien. Durch die Inhaftierung eines großen Teils der Redaktion zwischen 1999 und 2001 wurden weitere Ausgaben verhindert. Danach wurde eine Internet-Plattform mit dem Titel “Akademya’ya Doğru” aufgebaut. Es gab mehrere Verfahren gegen die Verantwortlichen und gerichtliche Verbote der Plattform. Daher brachten die Autoren ihre Ansichten den Lesern über Zeitschriften wie İkideniz (erschien bis 2007) oder Ilma nahe.
Die türkische Wikipedia führt auf der Seite İslami Büyük Doğu Akıncıları Cephesi folgende Publikationen als aktuell auf: Beklenen Yeni Nizam, Baran und Furkan.
Die Verhaftung 1998 und der Prozess
Am 29. Dezember 1998 wurde Salih Mirzabeyoğlu in Istanbul festgenommen, als er sein Kind zur Schule bringen wollte.[8] Die Presse berichtete entsprechend der Information, die sie von der Polizei erhielt, dass er in einer Organisationswohnung (“Zelle”) festgenommen wurde. In seiner Vernehmung gab er an, dass er die Ideen der İBDA verfasst habe, nicht aber der Anführer der İBDA/C sein. Am 4. Januar 1999 kam er wegen des Versuchs. einen gewaltsamen Umsturz versucht zu haben (Artikel 146 des alten Strafgesetzes), in Untersuchungshaft. Bei ihm und zwei Mitangeklagten sollen zwei Pistolen und eine Schrotflinte gefunden worden sein.
Am 14. April 1999 begann sein Verfahren vor dem Staatssicherheitsgericht (SSG) 6 in Istanbul.[9] Das SSG Istanbul verurteilte ihn am 2. April 2001 zum Tode.[10] Die Angeklagten Sadettin Ustaosmanoglu und Mehmet Fazil Aslantürk erhielten wegen Mitgliedschaft in der İBDA/C Strafen von je 18 Jahren Haft. Noch vier Monate vor seiner Festnahme hatte die Oberstaatsanwaltschaft in Istanbul auf eine Anfrage des SSG Adana geantwortet, dass von Salih Mirzabeyoğlu nicht bekannt sei, dass er sich an organisatorischen Aktionen beteiligt habe oder Befehle zu Aktionen gegeben habe. Im Urteil aber hieß es, dass man sich keine Organisation ohne Führer vorstellen könne und es undenkbar sei, dass dieser nicht die Aktionen angeordnet habe.
Das Urteil wurde vom Kassationshof bestätigt und gelangte schon bald ins Parlament zu den Akten von Personen, deren Hinrichtung bevorstand.[11] Mit der Abschaffung der Todesstrafe[12] wurde 2004 die Strafe von Salih Mirzabeyoğlu in erschwerte lebenslange Haft umgewandelt. Nach dem Strafvollzugsrecht in der Türkei bedeutete dies Inhaftierung in Einzelzelle (Isolation) bis zum physischen Tod.
Die Anklageschrift
Die 18-seitige Anklageschrift vom 12.01.1999 stammt vom Staatsanwalt (StA) am Staatssicherheitsgericht (SSG) in Istanbul, Ali Yorulmaz und hat die Vorbereitungsnummer 1998/2956, Grundnummer 1999/34 und die Anklage-Nr.: 1999/34.[13] Mit Salih İzzet Erdiş (alias Salih Mirzabeyoğlu) sind drei weitere Personen angeklagt, von denen einer noch nicht gefasst wurde. Salih İzzet Erdiş war zwischen dem 29.12.1998 und dem 04.01.1999 in Polizeihaft.[14]
Als Zitat aus der Ermittlungsakte (der Polizei) wird behauptet, dass Salih İzzet Erdiş mit dem Decknamen “Kumandan” aktiv war, um die bestehende verfassungsmäßige Ordnung zu zerstören und an seine Stelle den auf religiösen Prinzipien beruhenden islamischen Staat des Großen Ostens mit Zentrum in der Türkei und den Ländern des Nahen Ostens zu errichten. Im Jahre 1985 habe er die illegale Organisation İBDA/C gegründet. Von 1990 bis zur Festnahme am 29.12.1998 habe die Organisation sowohl in Istanbul als auch in der Türkei Sprengstoffattentate, bewaffnete Überfälle und Morde verübt, sowie Gelder erpresst und illegale Demonstrationen durchgeführt. Am 29. Dezember 1998 sei er dann gegen 14.15 Uhr in seinem Auto der Marke Volvo festgenommen worden. In einer Tasche seien 25.000 Mark, 10.000 Dollar und 800 französische Franken beschlagnahmt worden. Bei der Hausdurchsuchung wurden u.a. 2 Pistolen, ein Gewehr und eine Schrotflinte mit entsprechender Munition gefunden. Daneben wurde eine Kamera, ein Handy, eine Schreibmaschine und “organisatorische” Publikationen gefunden.
Bei der Durchsuchung der Wohnung von 2 Mitangeklagten wurden Spruchbänder und Propagandamaterial der İBDA/C gefunden. Es wurden auch weitere Pistolen und Jagdgewehre gefunden.
Aus der Aussage von Salih İzzet Erdiş bei der Sicherheitsbehörde (Anti-Terror Abteilung der Polizei) zitiert die Anklageschrift folgendes: Er habe die Idee des Großen Ostens in jungen Jahren kennengelernt. Bis 1980 habe er sich mit Freunden an Aktionen für die İBDA/C wie Parolen schreiben, Spruchbänder aufhängen und Molotow Cocktails werfen beteiligt. Im Sinne der Idee der İBDA habe er Verlage gegründet. Im Jahr 1991 sei er mit Freunden von der İBDA/C festgenommen worden. Nach 4 Monaten im Gefängnis habe er begonnen, Bücher zu schreiben.
Er sei der Gründer der Gedankenwelt von İBDA/C. Organisationsthemen habe er in den Büchern wie “Üç Işık“ (drei Lichter) oder “Adımlar“ (Schritte) behandelt. İBDA bedeute “einzigartiges Sein”, der Name habe sich ab 1984 als “Vorkämpfer für den islamischen großen Osten” (tr: İslâmî Büyük Doğu Akıncıları) eingebürgert. Der Gedankenwelt von İBDA liege das Verständnis der sich spontan bildenden Dialektik (tr: kendinden zuhur diyalektiği) zugrunde, was bedeute, dass man am erforderlichen Platz das Notwendige mache. Im Rahmen dieses Verständnisses hätten sich Fronten auf legaler und illegaler Ebene gebildet. Ihre Aktivitäten würden zu Lücken in der Staatsautorität führen und diese Lücken würden genutzt, um den islamischen Staat zu gründen…
Nach 1991 habe er keine Befehle oder Anweisungen zur legalen und illegalen Frontbildung gegeben. Seine Leser hätten das gemacht, was sie unter dem, was in seinen Büchern stand, verstanden. Sie würden den Staat der hohen Erhabenheit gründen. Dieser Staat werden aus Personen gebildet, die auf ihrem Gebiet Experten seien und sie würden aus ihren Reihen den hohen Erhabenen wählen… Die Organisation habe mit Verlagen wie Tavır, Öfke, Karar, Akdoğuş, Taraf, Tahkim, Ak Zuhur, Akıncı Yol, Siyah Bayrak und Akademya legale Fronten gebildet… Das Geld, das bei ihm gefunden wurde, gehöre ihm. Die Waffen gehörten ihm ebenfalls. Er habe sie erworben, da im Jahre 1999 die türkische Republik in ein Chaos geraten werde und er sie in dem daraus resultierenden Krieg einsetzen wollte… Er lehne das laizistische System ab und habe daher (beleidigende) Schriften gegen führende Staatsmänner verfasst.
Sowohl in der Aussage vor der Staatsanwaltschaft als auch vor dem Haftrichter sagte Salih İzzet Erdiş, dass seine Aussage bei der Polizei teilweise richtig sei. Er habe bei der Polizei nicht unter Druck gestanden, sei der Gründer der Gedankenwelt von İBDA, habe aber mit der Organisation İBDA/C nichts zu tun. Er habe den Angehörigen der Organisation keine Anweisungen erteilt.
Der Angeklagte Saadettin Ustaosmanoğlu hatte bei der Polizei angegeben, dass er die “Front des Verlages Furkan” gegründet habe. Er wolle, dass ein Staat der Hohen Erhabenheit gegründet werde. Der Hohe Erhabene sei Salih İzzet Erdiş. Die im Verlagsbüro beschlagnahmten Fahnen und Embleme der Organisation gehörten nicht ihm. Ein Şükrü Sak habe sie dort deponiert. Bei der Staatsanwaltschaft und vor dem Haftrichter sagte er, dass er kein Mitglied der İBDA/C sei, aber die Gedankenwelt von İBDA teile. Ähnliche Angaben machte auch der Angeklagte Hüsnü Göktaş, der den flüchtigen Fazıl Aslantürk als Besitzer der bei ihm gefundenen Waffen nannte.
Ab Seite 7 der Anklageschrift werden Informationen des Generaldirektorats für Sicherheit (oberste Polizeibehörde) zu Aktionen der İBDA/C zwischen Januar 1994 und Dezember 1998 aufgelistet. Es sind 98 Aktionen, zu denen das Schreiben von Parolen und Widerstand im Gefängnis gehören. Die Mehrzahl der Aktionen sind Sprengstoffattentate auf Kioske und andere (meist nicht-islamische) Einrichtungen, bei denen es nur selten zu Personenschaden kam. Ausnahme ist eine Aktion im März 1994, wo durch ein Feuer in einer Bierstube nach dem Werfen von Molotow-Cocktails 4 Personen starben und 1 verletzt wurden. Bei einer Aktion im Februar 1995 wurde ein Militanter der İBDA getötet. Fast alle Aktionen fanden in verschiedenen Stadtteilen von Istanbul statt. Einzelne Aktionen wurden auch aus Gaziantep (6), Ankara (3), Konya (4), Izmir (5) und 6 weitere Aktionen aus anderen Orten gemeldet.
Auf der Seite 13 werden Angaben zu den gefundenen Waffen gemacht, die zum Teil unter das Gesetz 6136 (unerlaubter Besitz von Waffen) fallen, aber von denen nicht festgestellt werden konnte, dass sie bei bestimmten Aktionen eingesetzt wurden. Bis auf Seite 14 werden die beschlagnahmten Dokumente, in denen führende Staatsmänner beleidigt worden sein sollen, aufgelistet. Gegen ein Buch von Salih İzzet Erdiş habe ein Gericht in Istanbul eine Anordnung auf Verbot (Vernichtung) erlassen.
Es folgt eine Liste von ca. 30 Personen, die seit 1991 bei Operationen gegen die Organisation (in Istanbul) festgenommen wurden und Salih İzzet Erdiş mit dem Decknamen “Kumandan” als Führer der Organisation bezeichnet haben sollen. Die Anklageschrift betont auch, dass ärztliche Atteste belegten, dass Salih İzzet Erdiş und Saadettin Ustaosmanoğlu bei der Polizei keinem Druck (gleich bedeutend mit Folter, DTF) ausgesetzt waren.
Es sei nicht gelungen, eine direkte Beteiligung von Salih İzzet Erdiş an den Aktionen der Mitglieder der Organisation nachzuweisen. Er habe sie aber mit seinen Schriften beeinflusst. Da keine Organisation ohne einen Führer denkbar sei, müsse er für die Aktionen der Mitglieder verantwortlich gemacht werden. Saadettin Ustaosmanoğlu und Mehmet Fazıl Aslantürk seien Mitglieder und Hüsnü Göktaş habe ihnen geholfen.
Beim SSG Adana sei ein Verfahren gegen Salih İzzet Erdiş wegen führender Mitgliedschaft einer bewaffneten Bande anhängig. Dies solle mit dem Verfahren in Istanbul verbunden werden. Der Rest der Anklage bezieht sich auf die anzuwendenden Strafvorschriften und Anträge dazu, wie mit dem beschlagnahmten Dingen zu verfahren sei.
Die Verteidigung von Salih İzzet Erdiş
Die Internetseiten der Zeitschrift Baran enthält ein Schreiben, dass Salih İzzet Erdiş (alias Salih Mirzabeyoğlu) zu seiner Verteidigung mit Datum vom 21. April 2000 verfasst haben soll.[15] Konkret wird dabei zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen gesagt:
- Zuerst möchte ich einmal auf die Ereignisse vom 25. Januar 2000 (und die Tage danach) eingehen. Die Operation wurde angeblich gemacht, um mich dem Gericht vorzuführen. Nachdem einige Freunde aus dem Raum geführt waren, wurde ich von maskierten Soldaten durch einen Korridor von Soldaten geführt, die blind auf mich einschlugen, bis ich das Bewusstsein verlor. Bei dieser Operation wurde ein Gefangener getötet und fünf Gefangene verletzt. Ich war 9 Tage im Beobachtungstrakt des Gefängnisses nicht bei vollem Bewusstsein.
- Erst am 6. Februar konnte ich bei einem 15-minütigen Gespräch mit meinem Anwalt die Anklageschrift erhalten. In der Isolation des F-Typ Gefängnisses versuche ich seit dem 10. Februar ohne Kontakt zu einem Verwandten eine Entgegnung auf die Anklage zu schreiben.
- Dort wird auf einen Artikel hingewiesen, der im Februar 1999 in der Zeitschrift Furkan erschien. Ich werde als Führer der Organisation İBDA-C mit dem Decknamen “Kumandan” beschuldigt, den Versuch gemacht zu haben, die verfassungsmäßig Ordnung mit Waffengewalt zu ändern. Die Angeklagten Saadettin Ustaosmanoğlu und Mehmet Fazıl Aslantürk sollen Mitglieder der Organisation İBDA-C sein… Mein Vorschlag ist klar: das “Großer Osten – İBDA System.” Es geht nicht um die Interessen von einer Schicht von 3000 Familien, wobei 20 Millionen hungrig sind und die anderen Sklaven, Diener und Schützer. Der Staatsanwalt verwechselt nicht nur İBDA und İBDA-C, er bringt auch noch die Angehörigen von İBDA-C durcheinander… Ich schreibe seit 1975 in Zeitschriften und veröffentliche Bücher, was ich seit 1984 unter dem Markenzeichen İBDA tue. Den Unterschied kann man auch so ausdrücken: ich stelle Messer her, wer will, schneidet damit Brot andere erstechen Menschen.
- Bei der Vernehmung durch die Polizei sollte ich aussagen, dass das Rechtsbüro Kıvam, der Verlag İBDA, die Zeitschrift Ak Doğuş zur Front des bewaffneten Kampfes der İBDA, nämlich İBDA-C gehören. Mit den Worten “wir werden dich schon zum Reden bringen” musste ich Liegestütze machen und da ich wusste, dass ich danach geschlagen werde, habe ich nach zwei Liegenstützen gesagt, dass ich nicht mehr kann. Also wurde ich getreten, gegen die Wand geworfen und mir wurde der Rücken, die Beine und meine Hände gequetscht.
- In der Zeitung Milliyet war zu lesen, dass in Istanbul 17 Personen festgenommen wurden, die Demos gegen den Krieg (im Irak) und das Kopftuchverbot organisiert haben sollten und Militante von İBDA-Front sein sollen. Die Zeitung berief sich auf den Geheimdienst, der meinte, dass diese und andere Personen in Konya und Kahramanmaraş den Geheimdienst im Irak Informationen gegeben haben sollen… Zum Mord an Uğur Mumcu hieß es in Hürriyet (wieder unter Berufung auf Informationen von der Polizei), dass ich und 15 Freunde festgenommen wurden und verhört würden.
- Zu Saadettin Ustaosmanoğlu weiß ich nur, dass Artikel vom ihm irgendwann zwischen 1987 und 1989 in der Zeitschrift “Öfke” erschienen. Eines Tages zwischen 1992 und 1994 kam er in einem Teegarten in Bursa zu mir und wir haben uns unterhalten. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen. Wie kann er mein Leibwächter sein, wenn er in Fatih und ich in Tuzla wohne? Mehmed Fazıl Aslantürk ist seit den 1980er Jahren ein Freund der Familie.
- Unter teilweiser Wiederholung dessen, was ich schon sagte: es gibt keine singuläre Organisation mit dem Namen İBDA-C mit klaren Organen und einer organischen Einheit. Es gibt sehr viele legale und illegale Formationen. Lassen Sie mich aus einer Reportage der Zeitschrift Taraf vom 1. Oktober 1991 zitieren. Man wollte mir (wenn das nicht ging meinen Freunden) die Morde an Professor Muammer Aksoy und dem Journalisten Çetin Emeç anhängen. Ich habe gesagt, dass ich nicht für das verantwortlich bin, was Personen, die die Ideen von İBDA teilen, machen. Es ist sehr einfach, jemand umzubringen und einen Zettel mit “er gehört zur İBDA-C” zu hinterlassen.
- 1991 wurde ich verhaftet und nach 4 Monaten im Gefängnis Bayrampaşa aufgrund der Abschaffung von Artikel 163 des Strafgesetzes zusammen mit 6 Freunden wieder entlassen.
- In der Anklageschrift heißt es, dass die Organisation ihre erste Aktion (Parolen an Wände schreiben) in Bolu – Düzce am 3. Januar 1994 durchführte. Ich habe damit nichts zu tun. An anderer Stelle heißt es, dass es schon Aktionen vor 1980 gab. Dann heißt es wieder, dass die Organisation 1985 gegründet wurde. Das sind gleich mehrere Widersprüche. Es soll 98 Aktionen in der Türkei gegeben haben und alle seien auf Anleitung durch meine Bücher gemacht worden. Auf der einen Seite heißt es in der Anklage “er war bei dem Spiel nicht dabei” und dann wieder “er hat das Spiel geleitet”.
- Der Verlag İBDA besteht nach wie vor und hat 150.000 Bücher verkauft, die wohl von einem Vielfachen davon gelesen wurden. Hätte die Polizei durch Druck von oben keine organische Verbindung gesehen, wäre ein solcher Vorwurf auch nicht vom Staatsanwalt erhoben worden. Dass ich das bestehende Regime nicht gutheiße, habe ich wiederholt gesagt. Auch der Vorsitzende des Kassationshofs hat Kritik am System geäußert. Ich habe nur einen Vorschlag hinzu gesetzt. Selbst wenn ich sagen würde, mir ist egal, wie das bestehende System geändert wird und sei es mit Waffengewalt, so wäre das nicht der Versuch, es mit Waffengewalt zu ändern.
- Der Anklage liegen Schemata zugrunde. Das ist auf der einen Seite eine Liste meiner im Verlag İBDA zwischen 1979 und 1998 erschienenen Bücher. Dann folgt ein Schema der Zeitschriften von Anhängern der İBDA, mit denen ich nichts zu tun habe. Sodann werden Verbindungen zwischen Vereinen, Parteien und Zeitschriften gezogen wie 1966-1967 der “Milliyetçiler Derneği ve Komünizmle Mücadele Derneği”, 1969-1971 in Eskişehir die Jugendabteilung der “Milli Nizam Partisi“, oder 1972-1973 in Eskişehir die Jugendabteilung der “Milli Selâmet Partisi“. Selbst wenn ich als Jugendlicher diese Orte besucht haben sollte, wie hätte ich sie an mich binden können, wo doch so viele berühmte Leute darin waren?
- Zu den gefundenen zwei Pistolen und zu der Schrotflinte sagt die Ballistik, dass sie bei keiner Aktion benutzt wurden. Die gefundenen Gelder sind Einnahmen aus dem Verkauf der Bücher, weil ich kein Geld zur Bank bringe. Wie sollte sich auch eine Organisation mit 25.000 Mark, 10.000 Dollar und 800 Franken finanzieren? Was sollen überdies eine Kamera, ein Aufnahmegerät und eine Schreibmaschine mit der mir zur Last gelegten Straftat zu tun haben? Ihre Beschlagnahme und Antrag auf Vernichtung sind nur schmückende Motive.
Das Urteil vom 2. April 2001
Von dem begründeten Urteil des SSG 6 in Istanbul, haben nur die ersten drei Seiten als Scan (auf der Seite mit der Anklageschrift) vorgelegen. Die Initiative “Freiheit für Salih Mirzabeyoğlu” hat jedoch eine Abschrift der wichtigsten Teile angefertigt. Die folgenden Zitate sind dieser Abschrift entnommen.
Das Urteil mit der Nummer 2001/105 zum Verfahren mit dem Aktenzeichen (Grundnummer) 1999/19 wurde von den Richtern Metin Çetinbaş (Vorsitz), Raşit Ergin und Ali Tamer Targan gefällt. Es wird darauf hingewiesen, dass ein Verfahren vor dem SSG Adana aus dem Jahre 1998 mit diesem Verfahren verbunden wurde. Hier wurde gegen eine Organisation mit der Bezeichnung İBDA/C ULTRA FORCE unter dem Vorwurf “führende Mitgliedschaft in einer bewaffneten Bande” (Artikel 168/1 des Strafgesetzes) verhandelt. Im Plädoyer beantragte der Staatsanwalt jedoch die Zurückweisung dieses Verfahrens, dafür aber eine Bestrafung nach Artikel 146 des Strafgesetzes. Das Auto, das Geld, die Kamera, das Handy und die Schreibmaschine könnten jedoch wieder ausgehändigt werden, da sie nicht zur Begehung einer Straftat genutzt wurden. Die Waffen und Fahnen der Organisation sollten aber als Beweise für die Straftat eingezogen werden. Das Urteil geht sodann auf die Aussage von Salih İzzet Erdiş bei der Polizei ein und zitiert mehr daraus als in der Anklageschrift aufgeführt war. Zu den anders formulierten, bzw. zusätzlichen Informationen gehört:
“İbda bedeutet Erfindung, einzigartiges oder neues Sein.[16] Mit Beginn der Aktionen im Jahr 1988 habe die Presse daraus İslâmî Büyük Doğu Akıncılar gemacht… Seinen Ideen zufolge hätten sich (auf Publikationsebene) legale und an die 80 (unterschiedlich benannte) illegale Fronten gebildet… Sowohl auf gesetzliche, und wenn das nicht möglich ist, auf ungesetzliche Weise, d.h. durch eine Revolution sollte der als Staat der oberen Erhabenheit bezeichnete islamische Staat entstehen. Er habe seit 1978 betont, dass es nur durch eine Revolution möglich sei. Dazu müsse er niemandem Anweisungen erteilen.
“Der Staat der Oberen Erhabenheit sei ein islamischer Staat mit Istanbul als Hauptstadt. Es werde ein Rat der Erhabenen (tr: Yüceler Kurultayı) mit einer symbolischen Anzahl von 101 Experten gebildet. Daraus würden symbolisch 11 Personen vergleichbar mit dem Ministerrat den Oberen Erhabenen wählen, der in Kriegszeiten auch die Armee befehligt. Der Obere Erhabene müssen über 40 Jahre alt sein und werde auf 5 Jahre gewählt…
“Auf die Fronten, die sich zwischen 1994 und 1999 bildeten, habe er keinen Einfluss gehabt. Dazu gehörten die legalen Fronten wie die Zeitschrift Tavır, Öfke, Karar und Ak Doğuş. Auf die Fronten, die sich nach 1991 bildeten, wie die Zeitschrift Taraf, Tahkim, Ak Zuhur, Akıncı Yolu, Akademya und Siyah Bayrak habe er keinen Einfluss gehabt. Mit den ungefähr 80 illegalen Fronten (er nennt dabei 6 Namen, teilweise mit Gründern und Mitgliedern), die sich nach 1991 bildeten, habe er nichts zu tun…
“Salih İzzet Erdiş wiederholte bei der Staatsanwaltschaft seine polizeiliche Aussage bis auf die Namen von Personen, die als Mitglieder der Organisation bezeichnet wurden. Er habe bei der Polizei keine physische Folter erlitten.”
Auf die Einlassungen des Angeklagten in der Hauptverhandlung geht das Urteil mit 2,5 Zeilen ein: er habe die Gedankenwelt İBDA verfochten. Eine Organisation İBDA/C gebe es nicht. Er beantragte Freispruch.
Unter den Beweisen geht das Urteil auf Aussagen anderweitig angeklagter Personen in den jeweiligen Ermittlungen (d.h. Aussagen bei der Polizei) ein. Es wird auf Aussagen von knapp 30 Personen verwiesen. Dann folgen Hinweise auf Dinge, die bei den Hausdurchsuchungen der Angeklagten gefunden wurden (parallel zur Anklageschrift). Es folgen weitere Aussagen von Personen bei der Polizei (3) und ballistische Berichte. Sodann wird auf Aussagen von Personen hingewiesen, die in Verfahren vor dem SSG 6 in Istanbul angeklagt waren (10 Personen zum Aktenzeichen 1999/213, 15 Personen zum Aktenzeichen 2000/114)
Zu den “Papieren der Verbrechen” sollen 3 Akten existieren. Unter den teilweise ohne Datum aufgeführten Aktionen gibt es im Vergleich zur Anklageschrift mehr Aktionen, die mit Personenschaden endeten, aber keine tödlich ausgehende Aktionen.
Die Schlussfolgerungen folgen im Wesentlichen der Anklageschrift. Dabei heißt es u.a.: “der Gedanke der Frontenbildung ist auf Empfehlungen des Angeklagten entstanden. Der Angeklagte akzeptiert, dass er auf gedanklicher Ebene der Führer der Organisation İBDA/C ist, aber nicht der Anführer auf dem Gebiet der Aktionen ist… Aus den Aussagen der ihm am Nächsten stehenden Organisationsmitlieder, anderer Mitglieder und Unterstützer geht zweifelsfrei hervor, dass der Führer der Organisation Salih İzzet Erdiş mit dem Decknamen Kumandan Salih Mirzabeyoğlu ist. Seinen anders lautenden Einlassungen konnte nicht gefolgt werden. Da er keine Reue zeigte, konnte Artikel 59 des Strafgesetzes (“gute Führung”, DTF) nicht angewendet werden. Die Vorwürfe vor dem SSG Adana sind dabei mit zu berücksichtigen und der Angeklagte ist nach Artikel 146/1 des Strafgesetzes mit dem Tode zu bestrafen.
Kritik am Urteil
Von Beginn an wurde das Verfahren gegen Salih Mirzabeyoğlu vor allem aus islamisch-konservativen Kreisen kritisiert, weil dem Angeklagten keine Beteiligung an oder Anordnung zu einer gewaltsamen Aktion nachgewiesen wurde, die für eine Verurteilung nach Artikel 146 altes Strafgesetz erforderlich gewesen wäre. In einem Interview mit haber5com listete der Anwalt Ali Rıza Yaman am 6. April 2012 weitere Schwächen des Verfahrens auf.[17] Er verwies darauf, dass bei der Befragung seines Mandanten bei der Polizei ein Beamter ihm sagte, dass sie Anweisungen hätten, dass er gestehen müsse, dass er der Leiter einer Organisation sei. Die Befragung durch die Polizei sei direkt in die
Anklageschrift eingeflossen. Einer der ersten Richter im Verfahren gegen Salih Mirzabeyoğlu, Sedat Karagül sagte später, dass es kein Verfahren, einschließlich des Verfahrens gegen İBDA-C gegeben habe, in dem er nicht von oben unter Druck gesetzt worden sei. Der Richter Metin Çetinbaş, der später zu dem Verfahren kam, habe als Verteidiger Kemal Alemdaroğlu vertreten, der in der Periode des 28. Februar 1997 (siehe Militärische Intervention von 1997) eine führende Rolle spielte.
Mehmet Metiner, AKP Abgeordneter aus Adıyaman und Mitglied der Menschenrechtskommission hat sich in der Tageszeitung Yenişafak vom 24. Juli 2012 zu dem Verfahren geäußert, nachdem er die der Kommission vorliegende Akte studiert hatte.[18] Er sagte darin u.a.:
Ich hatte schon erwartet, in der Akte Beispiele für eine Verletzung der Rechtsprechung zu finden. Es gibt in der Anklageschrift nur Behauptungen, keine konkreten Dokumente und Beweise, nur Notizen des Geheimdienstes, dass Mirzabeyoğlu der Führer der Organisation sei. Dass der Kassationshof das härtestes Urteil, das ein Gericht verhängen kann, einfach bestätigt hat, hat mein Vertrauen in die Gerichtsbarkeit erschüttert. Wie kann es sein, dass der Führer einer Terrororganisation mit seiner Frau Kinder zur Schule bringt und dabei festgenommen wird? Wenn diese Ungerechtigkeiten in der Periode des 28. Februar geschehen konnten, wie steht es dann erst um die Ungerechtigkeiten nach dem 12. September 1980? Mit diesen Eingriffen muss abgerechnet werden.
Mit dem Vorsitzenden der Untersuchungskommission Menschenrechte habe ich am 2. Juli 2012 Mirzabeyoğlu im F-Typ Gefängnis von Bolu besucht. Ich habe seine Einzelzelle gesehen und wünsche niemandem, dass er dort gefangen gehalten wird. Ich möchte den Justizminister bitten, dass er die Türen dieser Zellen zum Hof offen halten möge.
Der Aufstand im Gefängnis
In den Tagesberichten der Stiftung für Menschenrechte in der Türkei für Januar 2000[19] steht unter Berufung auf die Tageszeitung Cumhuriyet vom 8. Januar 2000 u..: As the result of the tension that has been continuing in İstanbul Metris and Balıkesir Bandırma Prisons, incidents broke out on 7 January. In the morning of 7 January, security officers attacked İBDA/C prisoners who started a hunger strike on 5 January with the demand of transfer of four İBDA/C prisoners (Ali Acar, İsmail Uysal, Bayram Taştan, İbrahim Taştan) in Bandırma Prison to Metris Prison. Allegedly the prisoners started a fire in the wings. In the clash between the soldiers, guardians and prisoners, a prisoner named Ayhan Sönmez was shot dead. Eleven prisoners, one officer and three enlisted men were wounded. Minister of Justice Hikmet Sami Türk stated that 26 prisoners among them those who protested in Bandırma Prison, were transferred to Eskişehir Special Type Prison.
Aktionen im Militärgefängnis Metris (Istanbul), in dem sich auch Salih Mirzabeyoğlu befand, sollen es schon davor gegeben haben. So berichte Özgür Bakış vom 13. Januar 2000, dass 66 Gefangene wegen Vorfällen in Metris vom 5. Dezember 1999 angeklagt sind. Sie sollen einen Major und mehrere Soldaten als Geiseln genommen haben. Hürriyet und Sabah vom 26. Januar 2000 berichteten, dass bei Auseinandersetzungen zwischen Gefangenen der İBDA/C und Sicherheitskräften der Gefangene Sancar Kartal getötet wurde. Gegen 5.30 Uhr begann am 25. Januar 2000 die Operation mit dem Ziele, einige Gefangene zu verlegen und Salih Mirzabeyoğlu vor Gericht zu bringen. Gefangene sollen Feuer gelegt haben und die Gendarmerie setzte Gasbomben ein. Am Ende wurden 15 Gefangene, darunter Salih Mirzabeyoğlu in das F-Typ Gefängnis von Kartal verlegt. Am 26. Januar 2000 wurde er das erste Mal dem SSG Istanbul vorgeführt. Ihm waren seine Haare und sein Bart geschnitten worden und er hatte Wunden im Gesicht. Sein Anwalt Hasan Ölçer sprach von unmenschlicher Behandlung, die eine Verteidigung unmöglich mache. Die Anwälte Hasan Ölçer, Güven Yılmaz, Mehmet Akman und Harun Yüksel verließen daraufhin den Gerichtssaal. Salih Mirzabeyoğlu verlangte Zeit, da seine Notizen zur Verteidigung bei den Vorfällen verloren gegangen seien.
Entwicklungen, die zur Freilassung führten
Schon vor dem Abgeordneten Mehmet Metiner (siehe oben) hatten sich andere Abgeordnete zum Schicksal von Salih Mirzabeyoğlu geäußert, darunter auch Mitglieder der Opposition im Parlament, von denen man es nicht erwartet hätte. So ist bei Youtube ein Video zu finden, das am 19. September 2010 hochgeladen wurde und in dem der Abgeordnete Sırrı Süreyya Önder von der HDP forderte, dass der Hass, die Feindschaft und die Folter des Staates an Salih Mirzabeyoğlu ein Ende habe ( Link zum Video in türkischer Sprache). Hüseyin Aygün Anwalt und alewitischer Abgeordneter der CHP für Tunceli hat sich ebenfalls für Salih Mirzabeyoğlu eingesetzt.[20] In einer Pressekonferenz beschuldigte Aygün die Regierung, bei der Abrechnung mit den Militärs, die für den 28. Februar 1997 verantwortlich waren, nicht ehrlich zu sein und forderte, dass die Opfer dieser Phase entschädigt werden müssen. Er machte auf die jahrelange Isolationshaft von Mirzabeyoğlu aufmerksam.
Am 28. Dezember 2012 erschien im Portal haberdesin.com ein Artikel mit den Titel Mirzabeyoğlu’nu Ne Yapmalı? (de: Was soll mit Mirzabeyoğlu geschehen?). In diesem langen Artikel wurde der Fall ausführlich beschrieben. Es hieß u.a.: “Seit einiger Zeit führt der Menschenrechtsverein Mazlum-Der eine Kampagne zur Wiederaufnahme von Verfahren aus der Periode des 28. Februar. Die CHP hat sich dem teilweise angeschlossen. Immerhin hatte der CHP Abgeordnete für Malatya, Veli Ağbaba Mirzabeyoğlu im F-Typ Gefängnis von Bolu besucht und dann einen Antrag im Parlament gestellt… Ein Vorschlag war, dass Staatspräsident Gül Mirzabeyoğlu aus Gesundheitsgründen begnadigen könne. Der Journalist Orhan Turan (von Yeni Şafak) verwies darauf, das er von den 14 Jahren in Haft 9 Jahre in Isolation verbracht hat…”
In der Tageszeitung Radikal vom 27. Juni 2014 erschien eine Artikel mit dem Titel Mirzabeyoğlu yeniden yargılama talebinde bulundu (de: Mirzabeyoğlu hat die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt). Darin meldeten sich seine Anwälte zu Wort. Der Anwalt Hasan Ölçer sagte, dass sie einen entsprechenden Antrag bei der 14. Kammer für schwere Straftaten in Istanbul stellen würden. Ihre Hoffnung werde durch Äußerungen des Staatspräsidenten, des Premierministers, des Justizministers und Abgeordneten der AKP, sowie des Vorsitzenden der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu und Abgeordnete wie Hüseyin Aygün und Veli Ağababa sowie Abgeordnete der BDP wie Altan Tan und Sırrı Süreyya Önder und der MHP wie Tuğrul Türkeş, Akademiker, Schriftsteller wie Orhan Pamuk gestützt. Dem Antrag wurde stattgegeben und die 14. Kammer für schwere Straftaten in Istanbul ordnete die Haftentlassung an.
Schlussbemerkungen
- 1. In der Zeit seiner langen Inhaftierung ist Salih Mirzabeyoğlu im Sinne von amnesty international wohl kaum als “gewaltfreier politischer Gefangener” zu betrachten gewesen. Er hat sich mehr oder weniger deutlich für die Anwendung von Gewalt zur Erreichung seiner Ziele (ein auf der Scharia fußender undemokratischer Staat) ausgesprochen.[21]
- 2. Gleichwohl hätte sich amnesty international in seinem Fall wegen der “nach einem unfairen Gerichtsverfahren verhängten Todesstrafe” einsetzen können.
- 3. Nach türkischem Recht kann gefolgert werden, dass Salih Mirzabeyoğlu ohne konkrete Beweise verurteilt wurde. Die Anwendung anderer Strafvorschriften wäre denkbar gewesen, hätten aber nicht zu einer solch drastischen Strafe mit jahrelanger Isolationshaft geführt.
- 4. In den der IBDA nahestehenden Zeitschriften wurden Artikel veröffentlicht, die Gewalt verherrlichen. Ein drastisches Beispiel ist ein Artikel von Faruk AKINCI in der Zeitschrift Taraf vom 1. August 1993. Hier wird vom “Şanlı Sivas Kıyamı” (Glorreichen Aufstand in Sivas) in Bezug auf den Brandanschlag von Sivas vom 2. Juli 1993 gesprochen, bei dem ein religiös angeheizter Mob 37 Personen zumeist alevitischen Glaubens tötete.[22]
- 5. An verschiedenen Stellen wird auf eine neue Form von Folter an Salih Mirzabeyoğlu während seiner Haft unter dem Stichwort “Telegramm” verwiesen. Dazu hat er ein Buch mit dem Titel “Telegramm – Gedankenkontrolle” verfasst.
a) In deutscher Sprache sind dazu Informationen unter den Stichworten “elektromagnetische Strahlen” oder “Mikrowellen” zu finden, die alle darauf hindeuten, dass eine solche Foltermethode nicht nachzuweisen ist.
b) Salih Mirzabeyoğlu hat in seinem Werk eine Person mit Initialen genannt, die er als “Erfinder und Anwender” dieser Folter an ihm bezeichnet.[23] Sieben Monate nach Veröffentlichung des Buches wurde der pensionierte Major ermordet. Für den Mord wurden fünf vermeintliche Anhänger der IBDA-C verurteilt.[24]
c) Dennoch bleibt die Möglichkeit bestehen, dass die Halluzinationen, die Salih Mirzabeyoğlu beschreibt, ein Ergebnis der Isolationshaft sind. Dies müsste gesondert untersucht werden.
[1]Siehe einen Bericht mit Foto in Yeni Şafak vom 23. Juli 2014 Turkey releases jailed IBDA-C leader, Zugriff am 3. August 2014
[2]Die Seite war im August 2014 unter der unter der Rubrik “Kimlik” (Personalien) zu erreichen.
[3]Siehe die entsprechende Meldung des DTF im Wochenbericht 09/2003
[4]Siehe den Bericht No security without human rights (AI Index: EUR/44/84/96)
[5]Bei diesem Bombenattentat wurde Metild Manukyan leicht verletzt. Ihr Leibwächter Mehmet Urhan und ihr Fahrer Mehmet Akça wurden getötet. Wie Sabah vom 17. Juni 2010 meldete, wurden die Täter nicht gefasst.
[6]Leider sind die bei Wikipedia zu Berichten des Verfassungsschutzes angeführten Links “tot”. Der hier zitierte Bericht vom April 2006 war am 3. August 2014 unter dem Titel Islamistischer Extremismus und Terrorismus zu erreichen.
[8]Die Angaben hier sind vor allem dem Portal habername vom 21. Mai 2012 entnommen Salih Mirzabeyoğlu portresi. Zugriff am 3. August 2014
[9]Diese Information und andere Angaben stammen aus einem Video bei Youtube unter dem Titel Salih Mirzabeyoğlu Kimdir?. Zugriff am 3. August 2014
[10]Siehe den Wochenbericht 14/2001
[11]Siehe eine Meldung in Sabah vom 20. Juni 2002 aus dem Wochenbericht 25/2002
[12]Mit dem Gesetz Nr. 4771 vom 3. August 2002 wurde die Todesstrafe in Friedenszeiten und mit dem Gesetz Nr. 5218 vom 14. Juli 2004, komplett abgeschafft.
[13]Eine teilweise Abschrift sowie Kopien der Seiten als Bilder waren im August 1914 auf den Seiten der Initiative Freiheit für Salih Mirzabeyoğlu zu finden.
[14]Zu diesem Zeitpunkt galt eine Höchstdauer von 7 Tagen Polizeihaft (siehe Folter in der Türkei).
[15]Dieses Schreiben war im August 2014 unter dem Titel Kumandan Salih Mirzabeyoğlu’nun Tarihi Savunması (de: Historische Verteidigung des Kommandanten Salih Mirzabeyoğlu) zu finden.
[16]Das Türkisch-Deutsche Wörterbuch von Karl Steuerwald, Wiesbaden 1974 gibt als Übersetzung an: (künstlerisches) Schaffen, Entstehenlassen, Hervorbringen, Neuschöpfung.
[17]Der Artikel ist unter Salih Mirzabeyoğlu ‘devlet kurbanı’ zu finden.
[18]Der Artikel ist unter Salih Mirzabeyoğlu, Mehmet Metiner Yazdı zu finden.
[19]Diese Berichte können auf der Seite nach Jahren getrennt Archive of daily reports from the HRFT in komprimierter Form herunter geladen werden
[20]Siehe einen Artikel in gercekgündem vom 11. Mai 2012 unter Aygün’den Mirzabeyoğlu çıkışı
[21]Das belegen Zitate aus seinem Verfahren ebenso wie ein Interview mit S.Mirzabeyoğlu in der Zeitschrift Nokta vom 1. April 1990, das mit der Überschrift “Şeriat için Silahlı Mücadele” (Bewaffneter Kampf für die Scheria) erschien (siehe hierzu die Zeitschrift Baran vom 27. Februar 2012 “1999 İBDA Kıyamı Atlanarak 28 Şubat Anlaşılmaz”).
[22]Siehe hierzu eine Meldung in haberlink.com vom 5. Juni 2011: Sivas Katliamı öncesi ve sonrasına dair iki belge
[23]Siehe hierzu einen ausführlichen Bericht in yeniakademya.com vom 20. März 2013 Bir Telegramcı Portresi: İhsan Güven
[24]Hierzu gibt es mehrere Berichte, u.a. in haberler.com vom 26. Februar 2013 Binbaşı İhsan Güven ve Eşini Öldüren 5 İBDA/C’linin Cezası Onandı