MESOP OPINION : Sadik al-Azm: “Syrien verblutet”
Der Krieg wird ohne den Westen nicht enden, mahnte der kürzlich verstorbene Philosoph Sadik al-Azm. Dass Syrien je wieder vom Assad-Clan regiert werde, sei undenkbar.
Interview: Elisabeth Knoblauch und Jörg Lau – 17. Dezember 2016, DIE ZEIT
Der syrische Philosoph Sadik al-Azm war ein mutiger und konsequenter Vorkämpfer für säkulare und liberale Werte. Am Sonntag ist er im Alter von 82 Jahren im Exil in Berlin gestorben. Die ZEIT traf ihn diesem Sommer zu einem Gespräch. Es sollte noch ein zweites Treffen geben, indem man über Aleppo sprechen wollte. Dazu ist es nun nicht mehr gekommen.
ZEIT ONLINE: Herr Professor al-Azm, es ist nicht das erste Mal, dass Sie in Deutschland und in Berlin sind. Aber es ist das erste Mal, dass Sie nicht aus freien Stücken hier sind, sondern gezwungen waren zu kommen und zu bleiben.
Sadik al-Azm: Sie haben Recht, ich befinde mich im Exil. Ich bin ein Flüchtling. Wenn auch ein sehr privilegierter Flüchtling. Ich musste nicht über das Meer fliehen und übers Land reisen.
ZEIT ONLINE: Schon 1955 waren sie zum ersten Mal in Deutschland.
Al-Azm: Ich studierte an der American University von Beirut und kam nach Mannheim im Rahmen eines Freiwilligenprogramms. Es war Arbeit zur Unterstützung des Wiederaufbaus von Europa. Ich war am Bau einer Schule beteiligt.
ZEIT ONLINE: Was ist der auffälligste Unterschied zwischen 1955 und 2016?
Al-Azm: Damals brauchte man als Syrer kein Visum. Kein Araber brauchte ein Visum, um nach Deutschland zu kommen.
ZEIT ONLINE: Sie sind in Berlin und in Deutschland in Ihrem Status als Exilant nicht alleine. Es gibt viele Flüchtlinge aus Syrien. Deutschland wird multikultureller, multiethnischer, multireligiöser. Einigen Menschen macht diese neue Dimension Angst.
Al-Azm: Das ist nachvollziehbar, wenn eine große Gruppe in eine Gesellschaft kommt. Aber ich würde mir nicht allzu viele Sorgen machen. Die erste Beobachtung der Flüchtlinge in Deutschland ist, dass alles sehr gut organisiert ist. Man erfährt, wohin man wofür gehen muss, man wird über seine Rechte aufgeklärt und seine Pflichten. Dies hinterlässt einen sehr starken Eindruck von Anfang an. Im Arabischen sagt man mit Bewunderung: “Die Deutschen haben alles studiert, alles durchdacht.”
ZEIT ONLINE: Welche Ereignisse haben zur Situation in Syrien geführt? Als Bashar al-Assad im Jahr 2000 die Amtsgeschäfte von seinem Vater übernahm, gab es Hoffnung auf eine Öffnung und Demokratisierung des Landes. War der Damaszener Frühling eine Art Funke für all das, was danach kam?
Al-Azm: Nein, der Damaszener Frühling war nicht wirklich ein Funke. Es war vielmehr der letzte Hoffnungsschimmer. Die jüngere Generation fragt mich heute, und nicht nur mich, sondern alle, die damals in den Damaszener Frühling 2000/2001 involviert waren, ob wir naiv oder dumm waren in der Annahme, dieses Regime würde auch nur eine der Reformen umsetzen, die wir gefordert hatten.
ZEIT ONLINE: Und waren Sie naiv?
Al-Azm: Im Rückblick waren wir das vielleicht, ich weiß es nicht. Aber zu dem Zeitpunkt hofften wir noch, dass sich etwas ändern würde, bevor die Katastrophe eintreffen würde. Wir wollten diese letzte Chance ergreifen, auch um uns später nicht vorwerfen lassen zu müssen, wir hätten es nicht wenigstens versucht.
ZEIT ONLINE: Mit Katastrophe meinen Sie, Sie konnten in der Zeit des Damaszener Frühlings schon voraussehen, dass sich etwas fundamental ändern musste?
Al-Azm: Dass sich Syrien am Abgrund befand, fühlten wir alle – wenn auch eher unterbewusst. Gleichzeitig hofften wir, dass es nicht passieren würde. Wir fühlten es und leugneten es zugleich. Offensichtlich wurde es aber 2005, mit der Ermordung des ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafiq al-Hariri und dem damit verbundenen erniedrigenden Rückzug der syrischen Armee aus dem Libanon. Zu diesem Zeitpunkt konnte man in den Straßen von Damaskus hören, dass es nur noch ein Streichholz bräuchte, um die Situation eskalieren zu lassen. Ich fand, es war vergleichbar mit einem Dampfkochtopf, bei dem die Ventile zerstört worden waren. Der Druck war immens. Die Unterschiede zwischen Sunniten und Alawiten wurden deutlicher. Früher konnten wir Witze übereinander machen, das war plötzlich nicht mehr möglich. Der Funke für die Aufstände, die in Syrien 2011 begannen, stammte dann aber aus Tunesien, von Bouazizi.
Die drei Phasen des Krieges
ZEIT ONLINE: Im Gegensatz zu den Aufständen in Tunesien oder auch in Ägypten wurden die Demonstrationen in Syrien sehr schnell gewalttätig. Warum?
Al-Azm: Zunächst einmal war die Regierung davon überzeugt, sie habe mit ihrem Geheimdienst ein System, das unzerstörbar wäre. Alles, was dagegen stoße, würde zerfallen. Insbesondere nach dem Massaker von Hama 1982 war die Führung davon überzeugt, genug Angst in der Gesellschaft verbreitet zu haben. Nichts würde mehr geschehen für die nächsten 100 Jahre. Deswegen war es eine automatische Reaktion des Systems, die Kinder von Dara’a zu verhaften und zu foltern. Business as usual. So hat alles angefangen. Womit die Regierung nicht gerechnet hatte, war, dass die Barriere der Angst zerbrechen würde. Warum sie genau zu diesem Zeitpunkt zerbrach, weiß ich nicht. Wichtig ist der Hinweis, dass dies keine Brotaufstände waren. Die Menschen gingen nicht aus Hunger auf die Straße.
ZEIT ONLINE: Wie hat sich aus Ihrer Sicht aus diesen Aufständen der Krieg entwickelt, den wir heute in Syrien verfolgen müssen?
Al-Azm: Die Krise durchlief drei verschiedene Phasen. Zuerst versuchte es das Regime mit shock and awe – Schockieren und Furcht einflößen. Diese Phase erreichte ihren Höhepunkt in dem Massaker von Homs im Februar 2012, bei dem bei Demonstrationen mehr als 400 Menschen ermordet wurden. Die Idee eines Tahrir-Platzes in Syrien war damit gestorben. Die nächste Phase könnte man die Pinochet-Phase nennen. Viele Menschen kamen ins Gefängnis, sogar Schulen wurden zu Gefangenenlagern umgebaut, und trotzdem gingen die Menschen auf die Straßen. Viele, vor allem junge Menschen, wurden gefoltert und ermordet. Das hat dazu geführt, dass sich die Bewegung beschleunigt, vertieft und ausgeweitet hat. Und dann wurde es offensichtlich, dass das System nicht über genügend Truppeneinheiten verfügte, um sie überall in Syrien gleichzeitig einzusetzen. Die Soldaten begannen zu türmen – insbesondere sunnitische Soldaten und Offiziere. Und dann startete etwas, das ich Samson-Phase nennen würde. Es war so, als würden sie sagen: Wenn das so ist, dann werden wir den Tempel über Euren Köpfen zerstören und wenn es sein muss auch über unseren eigenen. In dieser Phase brannten Weizen- und Gerstenfelder. Sie brachten Ärzte, Krankenschwestern und Lehrer um.
ZEIT ONLINE: Das passiert heute noch.
Al-Azm: Das ist richtig, aber die Hochphase war damals. Und es hat auch nicht funktioniert. Die Armee hat weiter Soldaten verloren. Am Ende waren eigentlich nur noch die Sturmtruppen übrig, die hauptsächlich aus Alawiten bestehen. Dies führte dazu, dass die Hisbollah zur Hilfe gerufen wurde, die irakischen Schia-Milizen und der Iran natürlich; und schließlich musste auch Russland mit seiner Luftwaffe kommen. Ich denke, das sagt etwas über die Kraft dieses Aufstandes aus.
ZEIT ONLINE: Zur gleichen Zeit geschah aber noch etwas anderes. Es war nicht länger ein vereintes Volk, das gegen Assad kämpfte, sondern viele sich auch untereinander bekämpfende Truppen.
Al-Azm: Ja, das Phänomen der Warlords begann. Kriegsherren bekämpfen sich bisweilen gegenseitig. Und sie benötigen Geld für ihre Kämpfer und Waffen. Aus diesem Grund haben sie Kontakt mit der Türkei, Katar und Saudi-Arabien aufgenommen. Infolgedessen gab es keine gemeinsame Strategie und Führerschaft mehr. Auf eine Art haben die Syrer auch so viel durch ihre Regenten erleiden müssen, dass sie sich erleichtert fühlten ohne Führung.
ZEIT ONLINE: Wie würden sie den Krieg jetzt benennen: als Stellvertreterkrieg? Als Stellvertreterkrieg plus einen Krieg des Regimes gegen das eigene Volk?
Al-Azm: Wenn Sie solch eine Revolte gegen ein Minderheitenregime haben, würde man immer erwarten, dass die Nachbarn dieses Landes ihre Finger im Spiel haben und sich einmischen. Es hat sich also zu einem Stellvertreterkrieg entwickelt. Das Wichtigste ist aber vielleicht die amerikanische und europäische Realpolitik mit der Einstellung “Lasst Syrien bluten”. Dies sind die Worte von Barack Obama. Syrien verblutet an der Hisbollah, am Iran, an sich selbst und schließlich auch an Russland. Und all diese Mächte waren traditionell antiwestlich eingestellt. Das Bluten geht einfach weiter. Nach der Farce von Genf III zu Beginn dieses Jahres mache ich mir keine Illusionen mehr.
ZEIT ONLINE: War und ist es für den Westen aufgrund der Fragmentierung der syrischen Seite nicht sehr schwierig, einen Ansprechpartner zu finden, mit dem man arbeiten könnte?
Al-Azm: Für Organisationen wie die CIA gilt doch: Wenn sie jemanden finden wollen, dann finden sie ihn. Und sie können diese Person auch erschaffen und sie ins Land bringen. Wenn sie wollen, dann wissen sie, wie man ein Land destabilisiert. Und wenn sie ein Land unterstützen wollen, dann finden sie auch Wege. Amerika wird sich nicht einmischen, bis der neue Präsident an die Macht kommt.
Hat Syrien nichts Besseres verdient als den IS?
ZEIT ONLINE: Sie glauben also, dass der Krieg in Syrien sich ohne den Westen und ohne Amerika nicht beenden lassen wird?
Al-Azm: Nein, er wird nicht beendet werden. Ich glaube, es gab Zeitpunkte, an denen der Westen den Krieg hätte beenden können. Etwa, als Obama von der Überschreitung der roten Linie sprach. Ich glaube, dass er nach diesem Fiasko nicht mehr ernst genommen wird. Das hat einen irreparablen Schaden hinterlassen.
ZEIT ONLINE: Glauben Sie, dass Syrien ein Opfer der früheren Interventionen war, wie dem Krieg im Irak, der ein Desaster war, oder dem Eingriff in Libyen, der sich auch als Desaster herausgestellt hat? Obama sagt ja, er habe die Entscheidung, sich nicht in Syrien einzumischen, aktiv getroffen. Er sei stolz darauf.
Al-Azm: Es kommt darauf an, was Sie unter Interventionen verstehen. Für Obama bedeutet das immer den Einmarsch von Truppen. Das ist aber Unsinn. Es gibt so viele andere Möglichkeiten der Einmischung.
ZEIT ONLINE: Es ist eine traurige Ironie, dass es Interventionen im Irak und in Libyen gab, die beide gescheitert sind.
Al-Azm: Für uns sind sie gescheitert, ja. Aber Sie dürfen nicht die Erleichterung unterschätzen, die durch das Verschwinden von Saddam, Gaddafi und Mubarak eingetreten ist. Dies sollte nicht als Fehler bewertet werden. Diese Personen hielten die Region in einer Stagnation. Sie blockierten jede Art von Bewegung, von Evolution, von Fortschritt und auch von Zerfall. Wenn die Menschen über das Versagen und die Konsequenzen sprechen, kommen sie immer zu dem Ergebnis, dass die Beseitigung dieser Diktatoren ein Fehler war, aber immerhin merkt man wieder, dass die Geschichte sich bewegt. Und wenn sich Geschichte bewegt, kommt es oft zu Gewalt.
ZEIT ONLINE: Was denken Sie über das Phänomen, dass alle über den “Islamischen Staat” sprechen? Einige Menschen im Westen sagen, dass es falsch war, diese Diktatoren zu beseitigen. Sie zeigen auf den IS und sagen: Das ist die Konsequenz.
Al-Azm: Das ist, als würde man uns sagen: Ihr habt nichts Besseres verdient. Wenn Saddam Hussein und Gaddafi und Assad weg sind, dann ist das Einzige, was ihr zustande bekommt so etwas wie der IS.
ZEIT ONLINE: Haben Sie irgendeine Vorstellung davon, wie Syrien aus diesem Durcheinander herauskommen kann?
Al-Azm: Mein Prognose ist, dass Assad am Ende nutzlos geworden sein wird. Auch für die Russen und die Iraner. Ich sehe nicht, wie Syrien jemals wieder vom Assad-Clan regiert werden kann oder von der Minderheit der Alawiten. Zwei weitere Faktoren werden entscheidend sein: Die Türkei, Saudi-Arabien und die Golfstaaten, die den Irak schon an die Schiiten verloren haben, werden nicht erlauben, dass so etwas mit Syrien und dem Libanon geschieht. Das bedeutet, dass noch viel gekämpft werden wird. Außerdem glaube ich, dass der Westen nicht zulassen wird, dass Syrien oder der Irak in die Hände von Dschihadisten gelangen.
ZEIT ONLINE: Der Iran hat aber ebenso genaue Vorstellungen über die Zukunft Syriens. Sie werden Syrien auch nicht gehen lassen. Wie kann man diese verschiedenen Ansprüche miteinander aussöhnen?
Al-Azm: Ich glaube, die lassen sich nicht miteinander aussöhnen. Die einzige Möglichkeit ist es, weiterzukämpfen bis eine Seite gewonnen hat.
Der “good for business”-Islam
ZEIT ONLINE: Welche Rolle wird die Religion in einem zukünftigen Syrien spielen? Bisher war Syrien ja eher säkular.
Al-Azm: Syrien ist säkular in der Hinsicht, dass das Gesetz der Scharia nicht angewendet wird. Nur im Familienrecht spielt die Scharia eine Rolle. Die Richter in Syrien sind Juristen, keine Theologen. Dies ist die Minimalbedingung für Säkularismus. Die Religion spielt keine Rolle, außer dass sie ein Teil der Kultur ist. Die Islamisten wollen die Zeit wieder zurückdrehen, sie wollen die Bildung wieder übernehmen, die Armee, das Recht und die Medien. Was das Regime betrifft, stellt sich das aber ein wenig anders dar. Das Regime, als alawitische Minderheitenregierung, hatte immer einen Sinn für den Mangel an Legitimität ihrer Regierung. Aus diesem Grund ist dieses Regime an die Religion von einer anderen Seite herangetreten. Die Regierung hat den Klerus unterstützt, sie ist auf Pilgerfahrt gegangen und hat mehr Koranschulen und Schulen für die islamische Wissenschaft und Moscheen gebaut als alle anderen sunnitischen Regierungen vor ihr. Seit 40 Jahren wird Syrien von einer Minderheit regiert.
Auf der einen Seite gibt es in Syrien die spontane Religiosität der Menschen. Die ist nicht besonders ideologisch, nicht aggressiv und auch nicht politisiert. Sie konzentriert sich auf religiöse Handlungen und das menschliche Miteinander. Seit der Gründung Syriens in den 1920er Jahren ist sie grundsätzlich tolerant. Es gab zwar immer Spannungen, man hat sich auch gehasst, aber es gab nie Vorfälle von Verfolgung oder Konflikte zwischen den verschiedenen religiösen Gemeinschaften. Auf der anderen Seite gibt es den Islam der Händlerklasse. Dieser Islam ist der good for business-Islam. Er ist ebenso wenig ideologisch und insofern politisch, als die Händler Kontakte mit den Politikern haben und, um Geschäfte zu machen, manchmal ein wenig die Gesetze überdehnen. Der Kern ist Handel und Politik. Dieser Islam wird als ideal angesehen, als Norm, als ein Vorbild, dem man nacheifern möchte. Wenn Sie vom Land stammen, sich ausbilden lassen und in die Stadt ziehen, dann ahmen sie die Damaszener Art und Weise nach.
ZEIT ONLINE: Dann gibt es noch den radikalen Islam.
Al-Azm: Ja. Der dschihadistische Islam hat sich in Syrien durch die Muslimbrüder etabliert. Dieser war gewalttätig und wurde unterdrückt; es war nur eine kleine Gruppe. Und auch jetzt, während dieses Krieges, haben sich die religiösen Gruppen nicht gegeneinander in Stellung gebracht. Die Drusen kämpfen nicht gegen die Christen oder Sunniten. Die Region der Drusen ist ohnehin recht ruhig, abgesehen von internen Konflikten. Die Drusen haben sich auch nicht dem Regime angeschlossen, um mit ihm zu kämpfen, und sie kämpfen auch nicht als Gemeinschaft gegen das Regime. Sie versuchen lieber, gute Kontakte zu ihren Nachbarn zu erhalten. Das gilt auch für die Sunniten und die Christen, für die Turkmenen und Ismaeliten. Die verschiedenen Gruppen geben einander Zuflucht, wenn sie durch Zerstörungen gezwungen sind, umzuziehen. Aus diesem Grund passt der Begriff Bürgerkrieg nicht zum Krieg in Syrien. Der Staat ist immer noch der Hauptakteur.
ZEIT ONLINE: Unter all der Zerstörung gibt es also immer noch einen Zusammenhalt der Gesellschaft?
Al-Azm: Nein. Das, was eine Gesellschaft zusammenhält, ist vollständig zerrissen. Sollte Syrien jemals wieder als Land zusammenkommen, wird die Religion, die Syrien rettet, eine Kombination sein aus der spontanen Religiosität der Menschen und der Religion der Händler.
ZEIT ONLINE: Sie sprechen vom Business-Islam und nannten manchmal die türkische AKP als Vorbild. Was denken Sie jetzt über Erdoğan und seine Art der Politik?
Al-Azm: Zu Beginn hatte ich die Hoffnung, die Türkei würde ein Beispiel für ein muslimisches Land mit einer überwiegend funktionierenden Demokratie präsentieren. Und ich wartete auf den Moment, an dem Erdoğan die Wahlen verlieren und nach Hause gehen würde. Diese Hoffnung ist nun beeinträchtigt durch die Tatsache, dass er sich in einen Autokraten verwandelt. Meine Hoffnung war auch, dass die Europäische Union die Türkei an die Hand nehmen und auf diese Weise sicherstellen würde, dass das Experiment Erfolg hat. Dies wäre gut für den Nahen Osten, für den Islam und auch für Europa. Ich glaube, es ist noch nicht gescheitert.
ZEIT ONLINE: Der autoritäre Schwenk, den Sie erwähnen, findet sich ja nicht nur im Nahen Osten. Er ist ein globales Phänomen geworden. Die Kräfte des Autoritarismus, des Tribalismus, der Religion, des Islamismus, des Nationalismus werden stärker …
Al-Azm: Für die Gesellschaften des Nahen Ostens gilt: Es gibt hierarchische Strukturen, Klassenstrukturen, das Patriarch, das Neopatriarch – auch nach dem türkischen Experiment –, die immer noch zulassen, dass sich sogar gewählte Offizielle schnell in Autokraten wandeln können. Aber ich gebe nicht auf! Ich glaube, dass die Türkei der einzige Ort im Nahen Osten und vielleicht sogar in der islamischen Welt ist, an dem Wahlen, die stattgefunden haben, nicht infrage gestellt werden. Die türkischen Bürger glauben an die Wahl. Sie haben sogar zweimal gewählt. Auch die Opposition, die verloren hat, hat das Ergebnis nicht infrage gestellt. In der arabisch-islamischen Welt ist das ein Wunder! http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-12/sadik-al-azm-syrien-krieg-russland-iran/komplettansicht