MESOP : „ÖCALAN ÜBT KEINEN EINFLUSS AUF DEN WAHLKAMPF AUS – KEINE KOMPROMISSE“ (DEMIRTAS)

„Wir wollen die Polarisierung der Gesellschaft bekämpfen“

 Von FRANK NORDHAUSEN – Frankfurter Rundschau – 29-7-2014 –  Der kurdische Präsidentschaftskandidat Demirtas über die Wahl in der Türkei, sein Verhältnis zur Gezi-Bewegung und die Angst von Premier Erdogan vor einem TV-Duell.

Bei der ersten direkten Wahl des türkischen Staatspräsidenten tritt Selahattin Demirtas für die prokurdische „Demokratische Partei der Völker“ (HDP) an. Als „Volkskandidat des Wechsels“ kandidiert er gegen den amtierenden Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan und den Gemeinschaftskandidaten der zwei größten Oppositionsparteien MHP und CHP, den Ex-Diplomaten Ekmeleddin Ihsanoglu.

Herr Demirtas, laut Umfragen, gewinnt Erdogan die Wahl klar schon in der ersten Runde. Warum treten Sie überhaupt an?
Noch ist nichts entschieden. Herr Erdogan sieht sich selbst als Führer des türkischen Volkes und der ganzen Welt, aber er wird erkennen, dass das Volk das anders sieht. Ich möchte zwar Präsident werden, aber uns geht es nicht nur um das Amt. Wir wollen den Wahlkampf nutzen, um ein neues Politikverständnis sichtbar zu machen und die Polarisierung der Gesellschaft zu bekämpfen. Wenn uns das gelingt, wird es unser größter Sieg sein. Wir werden eine neue Oppositionskraft etabliert haben, die es bisher in der Türkei nicht gab und die bei den Parlamentswahlen 2015 als Hauptoppositionskraft ins Parlament einziehen kann.

Sie werden als kurdischer Kandidat angesehen, wollen aber mehr als zehn Prozent der Stimmen gewinnen. Nur mit den kurdischen Wählern allein wird das nicht funktionieren.
Ich bin natürlich ein kurdischer Kandidat, stehe dazu und betrachte das auch nicht als Nachteil, denn ich sehe mich als Kandidat aller Unterdrückten. In der Türkei sind 75 bis 80 Prozent der Menschen aus dem einen oder anderen Grund unterdrückt. Ich möchte ihre Stimmen gewinnen – von Kurden, Aleviten, Arbeitern, Frauen, jungen Leuten, religiösen und anderen Minderheiten.

Viele glauben, es gehe bei der Wahl um eine Grundsatzentscheidung zwischen einem autoritären Präsidialsystem, wie es Erdogan anstrebt, und einer Präsidentschaft, die innerhalb des existierenden konstitutionellen Systems funktioniert.
Stimmt. Aber ich halte beides für falsch. Ich glaube, dass die Türkei eine neue Verfassung braucht, in der zum einen die Kompetenzen der Regierung und des Staatspräsidenten verringert werden und stattdessen die Regionalparlamente und Regionalverwaltungen gestärkt werden. Wir sind die einzige Kraft, die Erdogan wirklich etwas entgegenzusetzen hat.

In westlichen Ländern ist es üblich, dass die Kandidaten bei einer wichtigen Wahl im Fernsehen diskutieren, um ihre Positionen und Unterschiede bekannt zu machen. Wird es das in der Türkei auch geben?
Ich wünsche mir eine gemeinsame Fernsehdiskussion der Kandidaten und habe den Ministerpräsidenten dazu aufgerufen, aber ich bekomme keine Antwort. Ich glaube nicht, dass Tayyip Erdogan den Mut hat, an einer solchen Veranstaltung teilzunehmen.

Wovor sollte er Angst haben?
Im staatlichen Fernsehen bekommen Sie viel weniger Sendezeit als Erdogan. Können Sie etwas dagegen tun?
Wir klagen dagegen. Auch finanziell stehen wir viel schlechter da.

Es gibt Stimmen, die vor einer Diktatur warnen, wenn Erdogan Staatspräsident wird. Sehen Sie Gefahren für die Demokratie in der Türkei?
Es gibt Gefahren. Sie gehen aus von Erdogans Politik der bewussten Polarisierung der Gesellschaft, seiner Ein-Mann-Politik und dem damit verbundenen Autoritarismus. Parlament und Justiz verlieren immer mehr Kompetenzen. Seit fünf bis sechs Jahren gibt es gewaltige Verletzungen der Meinungs-, Presse- und Demonstrationsfreiheit, ist das Recht auf Leben immer wieder genommen worden, ohne dass dies strafrechtlich verfolgt wurde.

Enthusiasmus für die Demokratie haben wir im letzten Jahr bei der Gezi-Bewegung erlebt. Warum ist es eigentlich keiner Partei gelungen, die Gezi-Bewegung politisch zu integrieren?
Die Gezi-Bewegung hat gezeigt, dass die Politik aller Parteien defizitär ist. Es gab Missverständnisse zwischen uns und der Gezi-Bewegung, weil wir damals gerade in den Friedensverhandlungen mit der Regierungspartei AKP standen und plötzlich mit deren Politik identifiziert wurden. Wir haben uns damit auseinandergesetzt. Wir haben sogar viele Ideen von Gezi übernommen und aufgrund dieser Ideen eine völlig neue Partei gegründet (HDP), deren Ko-Vorsitzender ich bin.

Viele Türken sind sich durch die staatliche Gewalt gegen die Gezi-Bewegung erstmals der langjährigen Unterdrückung der Kurden in Südostanatolien bewusst geworden.
Ja, das stimmt. Es ist das erste Mal, dass es in der Westtürkei eine solche massive Polizeigewalt gab. Plötzlich haben die Menschen im Westen verstanden, was im kurdischen Osten passiert.

Paradoxerweise könnte es sein, dass die Friedensverhandlungen zwischen der AKP und dem inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan Ihrer Partei bei der Wahl schaden, weil der anhaltende Waffenstillstand Erdogan zugeschrieben wird.
Wir versuchen, diese Vorstellung zu kontern. Wir sagen, dass der Ministerpräsident aus politischem Kalkül heraus handelt und den Frieden nicht allein herstellt, sondern dass wir eine wichtige Rolle dabei spielen. Frieden kann man nur gemeinsam erreichen.

Wie verhält sich denn Öcalan im Wahlkampf?
Er hat mir Erfolg gewünscht. Er übt keinen Einfluss auf den Wahlkampf aus.

Bei den Umfragen in den kurdischen Gebieten liegt Erdogan trotzdem vorn.
Es mag sein, dass Erdogan gute Chancen in den kurdischen Gebieten hat. Aber wir haben neue Ideen, wir setzen uns für den Frieden ein, wir vertreten größere Ideen und Prinzipien, denen die Kurden schon immer offen gegenüber standen. Warum sollten Sie einem korrupten Politiker und Dieb ihre Stimmen geben?

Ja – warum eigentlich, wie zuletzt bei der Kommunalwahl im März?
Sie sehen keine Opposition, keine Alternative. Um wenigstens die Stabilität zu erhalten, entscheiden sie sich für Erdogan.

Erdogan hat allerdings auch mehr als jeder türkische Ministerpräsident vor ihm für die Kurden getan: Anerkennung der kurdischen Sprache, Kurdisch-Unterricht in Schulen, kurdische Radio- und Fernsehsender. Kann es nicht sein, dass viele Kurden ihm deshalb mehr vertrauen als anderen?
Das ist möglich. Aber alle diese Rechte haben wir in schweren Kämpfen erreicht, und weil wir uns jahrzehntelang dafür eingesetzt haben. Das waren keine Geschenke von Erdogans Gnaden. Die meisten Kurden sind sich dessen bewusst.

Geht es Ihnen nicht vor allem darum, einen Sieg Erdogans im ersten Wahlgang zu verhindern, damit Sie im zweiten Wahlgang am 24. August das Zünglein an der Waage spielen können und gegen Zugeständnisse zur Wahl Erdogans aufrufen? Verhandeln Sie schon mit der AKP?
Ich bin nicht Kandidat geworden, damit Tayyip Erdogan im zweiten Wahlgang gewinnen kann. Für Verhandlungen stehe ich nicht bereit, es geht hier schließlich um Freiheit und Demokratie.

Interview: Frank Nordhausen