MESOP NEWS „NO ILLUSIONS“ : THE TÜRKISCHE CHP IST NICHT DIE RETTUNG VOR ERDOGAN
Republikanische Volkspartei“ Wiederbelebung der türkischen Opposition?
Für den „Gerechtigkeitsmarsch“ konnte der türkische Oppositionsführer Kilicdaroglu Tausende Menschen gegen Erdogan mobilisieren. Doch reicht das aus, um vor allem die junge Generation aus der politischen Apathie zu reißen?
10.07.2017, von Michael Martens, Athen- FAZ –
Die Bilder aus Istanbul sahen beeindruckend aus: Eine riesige Menschenmenge hatte sich am Sonntag im Stadtteil Maltepe auf der asiatischen Seite der Metropole eingefunden, um den türkischen Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu reden zu hören. Es war der Abschluss und Höhepunkt von Kilicdaroglus „Gerechtigkeitsmarsch“ nach Istanbul, zu dem der Politiker am 15. Juni in der Hauptstadt Ankara aufgebrochen war. Aus der „Republikanischen Volkspartei“ (CHP) hieß es, in Maltepe seien mehr als 1,5 Millionen Türken zusammengekommen. Doch auch, wenn unabhängige Beobachter vermuteten, es seien eher Hunderttausende gewesen, bedeutete der starke Zulauf durchaus einen Erfolg für den CHP-Vorsitzenden Kilicdaroglu. Denn ähnlich große Massen mobilisiert in der Türkei sonst nur einer: Recep Tayyip Erdogan, der Staatspräsident.
Kemal Kilicdaroglu versuchte am Sonntag denn auch, sich wahrhaft präsidial zu geben. Vor der Veranstaltung teilte der Parteichef mit, dass bei der Kundgebung nur türkische Flaggen, Banner mit der Aufschrift „Gerechtigkeit“ und Atatürk-Bilder willkommen seien. Wer andere Symbole mitbringe, einschließlich CHP-Parteifahnen, werde als Provokateur betrachtet werden, warnte Kilicdaroglu. In seiner Rede wimmelte es dann vor staatstragenden Aufbruchs- und Erneuerungsmetaphern. Kilicdaroglu sprach von einem „neuen Anfang“, der mit dem „Gerechtigkeitsmarsch“ gemacht sei. „Der 9. Juli ist ein neuer Schritt. Es ist ein neues Klima, eine neue Geschichte, eine neue Geburt.“ Man sei für Gerechtigkeit in der Türkei marschiert, „für die Rechte der Opfer, für verhaftete Abgeordnete und Journalisten. Wir sind marschiert für Akademiker, die von ihren Universitäten entlassen wurden“, sagte Kilicdaroglu in seiner Rede, die von staatlichen oder regierungsfreundlichen Fernsehsendern weitgehend ignoriert, von den privaten Sendern Halk TV und CEM TV jedoch live übertragen wurde. Kilicdaroglu verurteilte zwar den Putschversuch vom 15. Juli 2016, sprach aber auch davon, dass die Regierung mit der Ausrufung der Notstandsmaßnahmen am 20. Juli desselben Jahres einen Gegenputsch unternommen habe, gegen dessen Folgen die Türkei sich wehren müsse. Insgesamt wirkte die große Istanbuler Kundgebung allerdings wie ein Wiederbelebungsversuch, den die klinisch tote türkische Opposition an sich selbst vornahm.
Ein gewisser Mobilisierungseffekt von Kilicdaroglus ungewöhnlicher Aktion ist zwar unverkennbar, doch fraglich bleibt, ob er sich verstetigen lässt und wie wirksam er langfristig sein kann. Bei dem Verfassungsreferendum im April hatten Kilicdaroglu und die CHP für ein „Nein“ zu Erdogans Plänen einer Umwandlung der Türkei in einem Präsidialsystem geworben. Fast 23,8 Millionen Türken oder 48,6 Prozent der Wählenden hatten tatsächlich dagegen gestimmt. Die CHP steht nun vor der Aufgabe, wenigstens einen Teil der damaligen Neinstimmen in Zuspruch für ihre Politik zu konvertieren. Doch das wird schwer. Schon die Proteste im Gezi-Park im Jahr 2013 hatten gezeigt, dass Unmut über Erdogan und die AKP sich keinesfalls automatisch in Stimmen für die Opposition übersetzen lässt. In Wirklichkeit konnte die Opposition davon nämlich kaum profitieren, stattdessen gelang es der AKP sogar, ihre Reihen zu schließen. Ob der „Gerechtigkeitsmarsch“ von Kilicdaroglu eine andere Wirkung haben wird, muss sich erst noch zeigen.
Junge Generation von Türken interessiert sich nicht für Politik
Entscheidend wird sein, ob Kilicdaroglu jene, die enttäuscht und apathisch in das Nichtwählertum abgewandert sind, erreichen kann. Es gibt eine junge Generation von Türken, die sich nicht mehr für Politik interessiert. „Das ist nichts als Aktivismus… Über den Marsch wird noch einige Wochen diskutiert werden, dann wird das verblassen“, hieß es in einem Beitrag der Zeitung „Sabah“ über Kilicdaroglus Aktion. Dass „Sabah“ eine Art Parteizeitung der AKP ist, macht diese Einschätzung nicht automatisch ungültig. Allerdings ist bis zu den entscheidenden Präsidentenwahlen auch noch Zeit. Hält Erdogan sich an den regulären Kalender, werden sie erst 2019 stattfinden.
Regierungszeitungen war auch zu entnehmen, was Kilicdaroglu blühen könnte, sollte er Erdogans alleinigem Machtanspruch tatsächlich gefährlich werden. Den äußeren Anlass für den „Gerechtigkeitsmarsch“ hatte die Verurteilung des stellvertretenden CHP-Parteichefs Enis Berberoglu zu 25 Jahren Haft im vergangenen Monat geboten. Die Richter bezeichneten es als erwiesen, dass der ehemalige Journalist geheime staatliche Unterlagen von der „Terrororganisation“ des im amerikanischen Exil lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen erhalten und diese an die regierungskritische Zeitung „Cumhuriyet“ weitergegeben habe, die sie dann veröffentlichte. In AKP-freundlichen Medien wird nun orakelt, Berberoglu habe Kilicdaroglu von seinem Schritt vorab informiert, was den CHP-Parteichef zum Mitwisser und letztlich zum Komplizen eines Hochverrats mache. Deutlicher können die Warnungen an Kilicdaroglu vor einer möglichen Verhaftung wohl kaum ausfallen. Eine der Losungen im Umfeld von dessen „Gerechtigkeitsmarsch“ lautete: „Hoffnung ist ansteckend.“
Das erinnert an einen Ausspruch des kurdischen Oppositionsführers Selahattin Demirtas, der gesagt hatte, Mut sei ansteckend. Demirtas ist inzwischen im Gefängnis, und es verdichten sich die Anzeichen, dass die Regierung anstrebt, den rhetorisch begabten Politiker als Terroristen verurteilen zu lassen. Erst auf dem G-20-Gipfel in Hamburg bezeichnete Erdogan ihn wieder als Terroristen. Demirtas’ Richter werden diesen Wink kaum missverstehen.
Der Tag nach Kilicdaroglus großer Gerechtigkeitskundgebung begann im Übrigen wie gewöhnlich. In Istanbul wurden am Montag mehr als 40 Mitarbeiter von zwei Universitäten mit der Begründung verhaftet, sie stünden unter Terrorverdacht. Außerdem wurden mehrere Dutzend derzeitige und ehemalige Beamte festgenommen, denen ebenfalls Verbindungen zu einer Terrororganisation vorgeworfen werden.