MESOP NEWS : KURDISCH WAR DIE UR-BEVÖLKERUNG VON KURDISTAN NICHT !

Die Großstädt unter unseren Füßen / Im nordirakischen Kurdengebiet blüht die archäologische Forschung –  Von JOSEPH CROITORU

Befragt man den Tübinger Archäologen Peter Pfälzner zur Grabungstätigkeit westlicher Altertumsforscher im kurdischen Autonomiegebiet im Nordirak, fällt schon bald das Wort „Boom”. Tatsächlich blüht dort schon seit einigen Jahren, besonders seit der syrische Bürgerkrieg und die Terrormiliz IS ganze Landstriche in Syrien und im Irak unsicher und unzugänglich machen, die archäologische Forschung.

Das bestätigen auch die Übersichtsdarstellungen, die der Engländer Mark Altaweel für die Zeitschrift „Iraq” des „British Institute for the Study of Iraq” jährlich erstellt: Während die Zahl der Forschungs-kampagnen im Süd- und Zentralirak knapp ein Dutzend beträgt, sind es im Kurdengebiet weit über fünfzig — mit den enthaltenen Teilprojekten, die häufig von jungen Forschern durchgeführt werden, dürften es deutlich mehr als hundert sein. Die Attraktivität dieser Region für westliche Forscher hänge, sagt Pfälzner, nicht nur mit der stabilen Sicherheitslage zusammen. Hervorgehoben wird stets auch die wohlwollende Unterstützung der Regierung des Autonomiegebiets, die ein reges Interesse an der archäologischen Erschließung der Region zeigt: Diese war den Kurden unter Saddam Hussein verwehrt und wurde auch nach seinem Sturz noch etliche Jahre durch Unsicherheitsfaktoren wie den islamistischen Terror behindert.

Peter Pfälzner forscht in der nordwestlichen kurdischen Provinz Dohuk. Dort überrascht die enorme Siedlungsdichte des Gebiets über fast alle Epochen hinweg — von der Steinzeit über die parthische, akkadische und assyrische bis hin zur hellenistischen und islamischen Ära. Unter der Leitung des Tübinger Archäologen und seiner Kollegin Paola Sconzo fand 2013 mit dem „Eastern Habur Archaeological Survey” eine erste Erkundung dieser Gegend statt, der weitere Begehungen folgten, bei denen mittlerweile rund dreihundert archäologische Stätten ausgemacht werden konnten. Einige der Funde sind besonders bemerkenswert. So etwa die Faustkeile aus der frühesten Altsteinzeit, die man unter anderem in dem nördlich der Stadt Dohuk am Ufer des Flusses Rugerm gelegenen Fundort Kani Kaferke entdeckte — Überreste aus dieser Zeit sind in Mesopotamien bislang kaum nachgewiesen.

Erst kürzlich stießen Pfälzner und sein Team bei Grabungsarbeiten in dem westlich von Dohuk gelegenen kurdischen Dorf Bassetki auf die Ruinen einer bislang unbekannten großen akkadischen Stadt, die bereits im dritten Jahrtausend vor Christus von einer massiven Stadtmauer umgeben war. Die dort durchgeführten Widerstandsmessungen im Erdreich liefern Hinweise auf die Existenz eines weitverzweigten Straßennetzes sowie verschiedener Wohnviertel, herrschaftlicher Häuser und eines palastartigen Gebäudes aus der Bronzezeit. Zudem entdeckte man am Rande der Ausgrabungsstätte eine ungewöhnliche Überlandstraße, die vermutlich bis nach Anatolien führte. Pfälzner hofft, in Bassetki auf intakte Schichten aus der Akkadzeit zu stoßen, die im weiter südlich gelegenen einstigen Kerngebiet des Akkadischen Reichs eher rar sind.

Wissenschaftler aus Heidelberg und München arbeiten ebenfalls seit geraumer Zeit im Kurdengebiet. Unter der Leitung der Archäologen Peter Miglus und Simone Mühl unternahm 2009 ein Forscherteam aus Heidelberg als erstes aus dem Westen eine Untersuchung in der kurdischen Provinz Suleimanije. Ihrem Beispiel folgend, erkundeten mehrere Archäologenteams —etwa aus den Vereinigten Staaten, Italien, Polen und Frankreich — weitere Gebiete der Region. Die Heidelberger Forscher konzentrierten sich damals auf einen Teil der Shahrizor-Ebene am Tanjero-Fluss unweit der iranischen Grenze. Obwohl das Gebiet in mesopotamischer Zeit häufig Kriegsschauplatz war und daher potentiell reich an Funden, wurde es von irakischen Wissenschaftlern in den sechziger Jahren nur oberflächlich untersucht — im 1976 in Bagdad veröffentlichten „Atlas der archäologischen Stätten im Irak” finden sich dennoch Hinweise auf mehr als 700 dort gesichtete Siedlungshügel.

Peter Miglus und sein Team nahmen zu-nächst nur einen kleinen Teil in Augenschein. Gegenwärtig dokumentieren sie im 3D-Verfahren die in der Region noch erhaltenen und teilweise bedrohten Felsreliefs, die oft altorientalische Herrscher zeigen. Seit 2010 leitet Miglus dort eine Grabung nahe der kurdischen Stadt Halabja. Die freigelegte Siedlung mit einem 40 Meter  hohen Zitadellenhügel existierte ohne Unterbrechung mehrere Jahrtausende. Die Funde vertiefen das Wissen über Kontinuitäten und Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen mesopotamischen Kulturen und denen des benachbarten antiken Irans. Neben den rund 20 Keilschrifttafeln aus einem spätbronzezeitlichen Tontafelarchiv, die irakische Wissenschaftler vor einem halben Jahrhundert in Bakr Awa entdeckten, wurden jetzt noch einmal ebenso viele gefunden — auffälligerweise trägt ein kleiner Teil davon eine bislang unbekannte Keilschriftart. Erschwert wird die archäologische Arbeit in Bakr Awa allerdings durch die zahlreichen Schäden, die Antikenräuber in den letzten Jahrzehnten in der Grabungsstätte angerichtet haben.

An der Universität München widmen sich derzeit gleich drei Projekte der archäologischen Erforschung der Region. Simone Mühl, die mit Peter Miglus in der Shahrizor-Ebene gearbeitet hatte, leitet dort heute eine Grabung in dem Siedlungshügel Gird-i Shamlu südöstlich von Suleimanije. Am Beginn des 2. Jahrtausends vor Christus veränderte sich rätselhafterweise die bis dahin unter mesopotamischem Einfluss stehende materielle Kultur abrupt durch Elemente, die aus dem benachbarten Iran bekannt sind — allerdings nicht aus der gleichen Epoche. Die Archäologin vermutet nun, dass sie mit damaligen Flüchtlingsbewegungen in Zusammenhang stehen, worauf zeitgenössische Schriftquellen hindeuten, die kriegerische Ereignisse in der Region schildern. Auch konnte die bisherige Annahme, es habe sich bei den damaligen Bewohnern um eine nomadische Bevölkerung gehandelt, nun durch die Entdeckung massiver Lehmziegelhäuser widerlegt werden.

Mit einem weiteren wenig bekannten Aspekt dieser Randregion des Zweistromlands befassen sich die Münchner Archäologen Adelheid Otto und Alexander Tamm, die unweit dieses Grabungsortes in Gird-i Kazhaw eine gut erhaltene Kirche aus spätsassanidischer Zeit untersuchen, unter der sich möglicherweise ein Quellenheiligtum aus einer früheren Epoche befindet. Vielversprechend ist auch das von der Keilschriftexpertin Karen Rad-ner und dem Archäologen Janoscha Kreppner geleitete Münchner „PeshdarEbene-Projekt”, das sich mit einer Grenzmark des Assyrischen Reichs (etwa 900 bis 600 vor Christus) zu Iran beschäftigt. Anders als bei den gut erforschten größeren Städten Assyriens, wo eine auf den Geschmack der herrschenden Eliten zugeschnittne Bauweise dominiert, bieten hier zwei nah aneinander gelegene Fundstätten im Osten der Provinz Suleimanije die seltene Gelegenheit, den peripheren Bau- und Lebensstil der neuassyrischen Epoche zu studieren. Die Fundorte Gird-i Bazar und Qalat-i Dinka zu beiden Ufern des kleinen Zab-Flusses haben sich schon nach ersten Erkundungen als Teil einer großen Siedlungseinheit herausgestellt.

Von dem glücklichen Umstand, dass die Überreste hier nur einen halben Meter unter der Geländeoberfläche liegen und nicht von jüngeren Schichten überlagert sind, versprechen sich die Forscher besonders gut erhaltene Funde. Für die nächsten vier Jahre sind bereits sechs- bis achtwöchige Grabungskampagnen geplant —jeweils eine im Frühjahr und eine im Herbst.

JOSEPH CROITORU 28 Dec 2016   www.mesop.de