MESOP NEWS “EINBLICKE” : – ISRAELS NEUESTER WIRTSCHAFTS-BERICHT : START UPS – CYPERSICHERHEITS BOOM – WACHSTUM & APARTHEID :

„Die Bildung, die Israel seiner arabischsprachigen Bevölkerung zukommen lässt, liegt auf Drittwelt-Standard”, sagt der Makroökonom Dan Ben-David von der Universität Tel Aviv.

  • Die Ungleichheits- und Armutsraten gehören zu den höchsten in der entwickelten Welt, doppelt so hoch wie im OECD-Durchschnitt –

Israels Wirtschaft ist voller Start-ups, die gefragte Dienstleistungen anbieten. Dem Land geht es so gut wie nie. Nur den Arabern nicht. –  Von Jochen Stahnke – TEL AVIV, 22. September  – FAZ WIRTSCHAFT

Kürzlich machte Eli Cohen ein Versprechen. Gemessen an Größe (wie Hessen) und Bevölkerungszahl (8,2 Millionen) seines Landes, erschien es größenwahnsinnig. Aber trotzdem riefen die Aussagen des israelischen Wirtschaftsministers im eigenen Land höchstens Schulterzucken hervor: Im Jahr 2025, sagte Cohen, wolle Israel an fünfzehnter Stelle der größten Volkswirtschaften der Erde stehen — heute steht es auf Platz 34. Warum sollte es auch nicht klappen? Früher mag Israel noch von global operierenden Unternehmen wegen Boykottdrohungen arabischer Staaten gemieden worden sein, so Cohen auf einer Investorenkonferenz in Tel Aviv. Doch die Zeiten hätten sich geändert.

Für dieses Jahr erwartet der Minister israelische Exporte in Höhe von einhundert Milliarden Dollar. Längst sei Israel das Forschungs- und Entwicklungszentrum der Welt: Rund dreihundert multinationale Firmen haben mittlerweile Forschungseinrichtungen im Land aufgebaut.

Tatsächlich gilt Israel als die »Start-up-Nation” der Welt hinter Amerika. Der Sektor Cybersicherheit spielt dabei die größte Rolle. Allein in diesem Bereich fließen 15 Prozent des weltweiten Wagniskapitals nach Israel. Auch im Finanz-und Gesundheitswesen oder in der Wasserwirtschaft schauen globale Unternehmen längst auf den Davidstern. Kürzlich schloss Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ein Abkommen mit Indien zur Reinigung eines Teilstückes des Ganges, außerdem unterzeichnete er das größte Rüstungsgeschäft der israelischen Geschichte, zwei Milliarden Dollar schwer. Im Bereich selbstfahrender Autos zeigte der Kauf des Jerusalemer Fahrassistenten-Start-ups Mobileye im Frühjahr durch den Chiphersteller Intel für 15 Milliarden Dollar, dass Israel auch in dieser Sparte oben mitspielt. Dagegen ging der Verkauf des Pharmaherstellers Neuroderm fast unter: Rund eine Milliarde Euro bezahlte der japanische Konzern Mitsubishi Tanabe Pharma im Juli für das Start-up aus Rehovot — es ist einer der höchsten Preise, die je für eine israelische Firma gezahlt worden sind, die nicht aus dem Hightech-Bereich kommt.

Netanjahu verweist gern auf die guten Wirtschaftsdaten Israels: Die Arbeitslosenquote ist im Juli laut Statistikamt auf 4,1 Prozent gesunken, den niedrigsten Wert seit dem Jahr 1980. Das war, als sich das Land langsam von der Wirtschaftskrise nach dem Jom-Kippur-Krieg zu erholen begann. Seit einiger Zeit wächst Israels Wirtschaft im Schnitt um vier Prozent jedes Jahr. Seit dem Ende der zweiten Intifada herrscht im israelischen Kernland weitgehender Friede. Die Investitionen sprudeln, und der Schekel, in früheren Zeiten noch eine inflationsgezeichnete Weichwährung, ist so stark wie nie zuvor. Analysten sprechen schon von Überbewertung. Seit 2008 hat die israelische Zentralbank den Wechselkurs durch Ankauf ausländischer Währungen im Gegenwert von siebzig Milliarden Dollar zu drücken versucht und damit die offiziellen Auslandswährungsreserven auf rund hundert Milliarden Dollar erhöht.

Israels Wirtschaft geht es so gut wie nie zuvor. Dabei hat sich die politische Situation in der Region kaum verändert: Weiter besetzt Israel das palästinensische Westjordanland militärisch, dessen nichtjüdische Bewohner seit fünfzig Jahren weder einen Staat noch gleiche Rechte wie Israelis haben. Die internationale Kritik daran bleibt bestehen. Und doch steht es auch um die Wirtschaftsbeziehungen so gut nie zuvor. Das betrifft sogar die Nachbarn .  Durch die Exploration zweier Erdgasfelder im  Mittelmeer erhofft sich Israel  zukünftig nicht nur die Unabhängigkeit von Gasimporten, sondern auch die Möglichkeit, bald selbst exportieren zu können. Mit dem Nachbarland Jordanien wurde bereits ein entsprechendes Abkommen geschlossen.

Auch mit islamistischen Golf-Staaten wie Saudi-Arabien wollen die Israelis Wirtschaftsbeziehungen aufbauen. Schon lange unterhalten Israel und Riad verdeckte Kontakte. Wirtschaftlich gesehen, gibt es also keinen Druck auf Netanjahu, die Besatzung zu beenden. Vielmehr wirken die beiden Ebenen wie entkoppelt voneinander. Auch deutsche Landespolitiker, die Israel unablässig bereisen, konzentrieren sich auf Start-ups und erwähnen die Besatzung höchstens pro forma. –

Auf der anderen Seite schlagen die 21,7 Milliarden Dollar, also mehr als fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die Israel in diesem Jahr offiziell für sein Militär ausgibt, durchaus zu Buche. Ein großer Teil der Soldaten und Mittel wird nicht zur externen Landesverteidigung eingesetzt, sondern dient dem Unterhalt der Besatzung und dem Schutz jüdischer Siedler, von denen sich mittlerweile rund 400 000 im Westjordanland festgesetzt haben. Zugleich ist es das Militär, das den Erfolg der Start-ups in Israel indirekt entscheidend vorangetrieben hat. Ein großer, wenn nicht der größe Teil der Hightech-Start-ups wurde von Veteranen der Hacker- und Kommunikationseinheit 8200 geprägt. „In Israel herrscht allgemeine Wehrpflicht, und der Pool an jungen, talentierten Leuten ist groß”, sagt Nadav Zafrir, ein früherer Kommandeur von 8200, „und wenn du ihnen dann die richtige Ausbildung und Umgebung bietest, kannst du viel erreichen.” So sei die Einheit 8200 des Militärgeheimdienstes eine der besten Akademien für Unternehmertum im Hightech-Sektor geworden, sagt Zafrir im gläsernen Büro eines neuen Hochhauses in Tel Aviv. Rund tausend Unternehmen sollen bislang von Ehemaligen dieser Einheit gegründet worden sein. Auf deren Wissen haben es viele globale Firmen abgesehen, die in Israel Forschungs- und Entwicklungszentren etabliert haben.

Doch hinter den schönen Kennziffern verbirgt sich eine etwas weniger glamouröse Wirklichkeit. Inn der Erfolg betrifft in Israel wenige: Im Hightech-Sektor haben nur rund zehn Prozent der Israelis eine Arbeit gefunden. Das liegt zum einen daran, dass viele Start-ups —etwa Mobileye oder Neuroderm — recht schnell ins Ausland verkauft werden, bevor sie im eigenen Land Fabriken oder große Unternehmenszentralen aufbauen könnten. Andererseits weist Israel ein für westliche Länder schwaches Bildungsniveau auf: Der Pisa-Studie von 2016 zufolge kam Israel in den meisten Bereichen kaum über Platz vierzig hinaus. Die schwachen Bildungsergebnisse werden durch die wachsende Schicht an Ultraorthodoxen beeinflusst. Diese ziehen dauerhafte Talmudstudien westlicher Bildung vor. Hinzu kommt die Bevölkerungsgruppe der arabischstämmigen Israelis, die auch nach wie vor durch ein getrenntes, finanziell schwächer ausgestattetes Schulsystem benachteiligt werden. „Die Bildung, die Israel seiner arabischsprachigen Bevölkerung zukommen lässt, liegt auf Drittwelt-Standard”, sagt der Makroökonom Dan Ben-David von der Universität Tel Aviv.

Seit längerem kritisiert der Ökonom zudem die geringe Produktivitätsrate Israels. Noch immer arbeiten neunzig Prozent der Israelis weitgehend abgeschnitten in überregulierten Sektoren und kaum konkurrenzfähigen Gewerben. Zwar wurde das Telekommunikationswesen liberalisiert, doch behindern anders-wo weiter Monopole und staatliche Regulierung den Markt. Israel liegt mit einem BIP von 36 000 Dollar pro Kopf statistisch gesehen noch vor Italien, aber die Ungleichheits- und Armutsraten gehören zu den höchsten in der entwickelten Welt, doppelt so hoch wie im OECD-Durchschnitt: Die Hälfte der israelischen Steuerpflichtigen zahlt keine Einkommensteuer, weil sie zu wenig verdienen. Dies macht der Ökonom Ben-David nicht nur am Bildungsstand, fest, sondern auch an mangelnder Infrastruktur. Trotz der kleinen Fläche ist in Israel der öffentliche Nah- und Fernverkehr schwach ausgebaut. Doch die Regierung verspricht Besserung: Anfang September kündigte Netanjahu an, über mehrere Jahre 28 Milliarden Dollar in den Ausbau des Transportsektors investieren zu wollen. Im kommenden Jahr wird zudem eine Schnellbahnverbindung zwischen Tel Aviv und dem armen Jerusalem fertiggestellt.

Ein weiteres Wachstumshindernis sind die Verbraucherpreise, die ebenfalls deutlich über dem OECD-Schnitt liegen. Es fehlt ein regionaler Markt: Die Nachbarstaaten Libanon und Syrien unterhalten keine diplomatischen Beziehungen zu Israel, und Jordanien und Ägypten sind finanzschwache Länder. So muss Israel fast sämtliche hochwertige Produkte teuer importieren.

Ähnlich drücken die Wohnungspreise, die in Israel seit dem Jahr 2008 um rekord-verdächtige 130 Prozent gestiegen sind. Das lässt sich nur zu einem geringen Teil durch das Bevölkerungswachstum und die zurückhaltende öffentliche Förderung erklären. Die weltweite Immobilienkrise hat nach 2007 viele Investoren nach Israel gezogen, wo die Krise nicht durchschlug. Einem Bericht der Wirtschaftszeitung „Marker” zufolge lag die Preisexplosion auch an internationalen Gestalten, die den Immobilienkauf zur Geldwäsche nutzten.

Laut einer. Studie des Jerusalemer Taub-Zentrums wird sich das israelische Wachstum demnächst abschwächen. Schon im vergangenen Jahr sei es ohnehin vor allem auf einmalige Faktoren zurückzuführen gewesen wie die Eröffnung einer neuen Fabrik des Chipherstellers Intel in Kiryat Gat. Für das Ziel von Wirtschaftsminister Cohen, die fünfzehntgrößte Volkswirtschaft der Erde zu werden, müsste also noch einiges passieren. Vielleicht könnte Frieden mit den Palästinensern helfen: Bisherige Mittel für das Militär könnten umgewidmet werden, Wirtschaftsbeziehungen zu arabischen Staaten verbessert und Handelswege entsprechend geöffnet werden. Eine Studie der Denkfabrik Rand brachte zutage, dass eine Zweistaatenlösung Israel eine Friedensdividende von 123 Milliarden Dollar über die folgenden zehn Jahre einbringen könnte — und den Palästinensern die bislang auf dem Stand eines Entwicklungslandes leben, immerhin fünfzig Milliarden.

FAZ Wirtschaft 23 Sept 2017