MESOP NEWS : DEUTSCHE WIRTSCHAFT – KEINE KRITIK AN ERDOGAN ? Treffen mit Erdogan Merkel soll Beziehungen zur Türkei kitten

Die Kanzlerin besucht an diesem Donnerstag die Türkei. Die deutsche Wirtschaft hat Merkel eine Wunschliste mit auf den Weg gegeben – und fürchtet die negativen Folgen einer Wirtschaftskrise am Bosporus.

02.02.2017, von Christian Geinitz, Wien  – FAZ REPORT – Die deutsche Wirtschaft hofft, dass der Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in der Türkei die stockenden Beziehungen zwischen beiden Ländern wieder in Schwung bringt. An diesem Donnerstag kommt Merkel in Ankara mit Präsident Recep Tayyip Erdogan zusammen. Es soll um politische Fragen gehen, doch dürfte Erdogan auch versuchen, das Vertrauen der Investoren zurückzugewinnen, unter denen die Europäer die entscheidende Rolle spielen.

„Der Dialog darf nicht abreißen, zu groß sind die politischen und ökonomischen Abhängigkeiten“, sagt Jan Nöther, der Geschäftsführer der Deutsch-Türkischen Handelskammer in Istanbul. „Die deutsche Wirtschaft ist verunsichert. Aber nicht abzusprechen sind der türkischen Regierung die Anstrengungen, die negativen Auswirkungen einzudämmen.“ Deutlichstes Zeichen für den Vertrauensverlust ist die Kapitalflucht.

Seit Jahresbeginn hat die Lira gegenüber dem Euro 8,6 Prozent an Wert verloren, seit Anfang 2016 beträgt das Minus 22 Prozent. Im ersten Halbjahr 2016 flossen nur halb so viele Direktinvestitionen ins Land wie vor Jahresfrist. Rund 70 Prozent davon stammten aus der EU, die mehr als 40 Prozent des Außenhandels auf sich vereint. Deutschland ist der wichtigste Partner: Mehr als 6700 Unternehmen sind in der Türkei ansässig, 13 Prozent aller ausländischen Niederlassungen. Während der türkische Export von der Lira-Schwäche profitiert, sinkt der Import.Dramatisch ist der dreißigprozentige Rückgang der Touristen aus Deutschland, der wichtigsten Herkunftsregion. Auch das hat mit der Verunsicherung nach den Attentaten, dem Putschversuch und den Gegenschlägen des Regimes zu tun. Hinzu kommt die Furcht, dass sich der Nato-Partner zu einem autoritären Regime entwickelt, in dem die Macht auf eine einzige Person konzentriert wird.

„Kein Ausnahmezustand während des Referendums“

Das Referendum zur Einführung eines solchen Präsidialsystems wird türkischen Medien zufolge in der ersten Aprilhälfte stattfinden, möglicherweise am 9. April. Das aber würde früheren Versicherungen widersprechen, die Volksabstimmung nicht während des Ausnahmezustands abzuhalten. So hatte der stellvertretende Regierungschef Mehmet Şimşek gegenüber dieser Zeitung und anderen Medien gesagt: „In der Zeit vor dem Referendum wird es keinen Ausnahmezustand geben.“ Anfang Januar wurde dieser jedoch bis zum 19. April verlängert.

Seit der Verhängung im Juli sind mehr als 100.000 Staatsbedienstete entlassen worden, weil sie angeblich den Putsch unterstützten. Auch Teile der Opposition und der Medien werden verfolgt. Der Staat hat Hunderte private Unternehmen enteignet oder unter seine Kontrolle gebracht. Eigentümer und Geschäftsführer wurden festgenommen.

Die Entlassungen in den Ämtern und Gerichten gefährden die Funktionsfähigkeit der Verwaltung – und die Rechtssicherheit. Viele der geschassten Richter seien durch Referendare ersetzt worden, kritisiert die Union Türkischer Anwaltskammern UTBA. Einige von diesen hätten nur ein vierzehntägiges Training absolviert. Das Präsidialsystem werde dazu führen, dass die Gewaltenteilung verschwinde und Erdogan alle Macht in den Händen halte, warnte UTBA-Präsident Metin Feyzioglu:

„Das nennt sich Sultanat.“ Der Jurist glaubt nicht, dass das Volk die Verfassungsänderung billigt. Falls aber doch, dann drohten Instabilität und Chaos: „Dann werden das die letzten freien Wahlen sein.“ Unter diesen Bedingungen zu wirtschaften, fällt schwer. Türkische Unternehmen leiden unter Auftragsrückgängen und Finanzproblemen, falls sie in Devisen verschuldet sind. Kammerchef Nöther beobachtet, dass immer mehr Geschäftspartner darum ersuchen, die Zahlungsziele zu verlängern. Zwar arbeiteten die deutschen Konzerne ohne ernstzunehmende Einschränkungen weiter und hielten auch an ihren Erweiterungsinvestitionen fest. Neue Vorhaben anzuziehen sei indes schwer, wobei sich vor allem der deutsche Mittelstand zurückhalte.

Türkei bezuschusst die Wirtschaft stärker als bisher

Um gegenzusteuern, beschleunigt die Regierung seit dem Putsch einige Reformen. So wurde im August ein privates Pensionssystem eingeführt – nicht zuletzt, um die Sparquote zu erhöhen und das Leistungsbilanzdefizit zu lindern. Im Oktober erhielten kleine Betriebe leichteren Zugang zu Kapital. Deutschen Unternehmen kommt zugute, dass Neueinstellungen und Investitionen in Forschung und Entwicklung stärker als bisher bezuschusst werden.

Langfristig spricht der große junge Markt für einen weiteren Aufschwung und bietet der deutschen Wirtschaft viele Chancen. Bis 2050 wird die Türkei von 80 auf 90 Millionen Einwohner wachsen und Deutschland überrunden. Doch kurzfristig sieht es düster aus. Als letzte der drei großen Ratingagenturen hat auch Fitch die Bonität des Landes auf Ramschniveau heruntergestuft. Die Gründe sind klar: eine heikle Politik und Sicherheitslage, ein schwächeres Wachstum, eine hohe Inflation, ein steigendes Leistungsbilanzdefizit und eine ungesunde Verschuldung der Betriebe und Haushalte.

„Die Türkei steckt in einer Wirtschaftskrise oder steht kurz davor“, sagt der Ökonom und Sozialwissenschaftler Yasar Aydin von der Hafen-City Universität Hamburg. Diese Entwicklung unterminiere das Ziel, bis 2023 zu einer der zehn mächtigsten Volkswirtschaften der Welt aufzusteigen. „Das kann für Erdogan riskant werden.“ Der Präsident sei deshalb daran interessiert, Merkel von der Verlässlichkeit des Standorts zu überzeugen. „Auch Erdogan weiß, dass Deutschland für die Türkei wichtiger ist als andersherum.“