MESOP NEWS : CHRISTOPH REUTER INTERVIEW ZU SYRIEN IM NDR

REUTER – Syrien: “Es liegt allein in Moskaus Händen”

Seit den ersten Protesten des Arabischen Frühlings 2011 befindet sich Syrien in einem brutalen Bürgerkrieg. Die Millionenstadt Aleppo ist dabei zentraler Schauplatz. Täglich erreichen uns Bilder von sterbenden, verwundeten, hungernden Kindern. Aktivisten erzählen von Folter und Verschleppung. Und wir? Wir schauen zu, sehen die Nachrichtenbilder und können nichts tun. Der Journalist und “Spiegel”-Reporter Christoph Reuter ist regelmäßig in der Region und kennt die Lage vor Ort.

In Syrien wird gekämpft, und immer wieder steht Aleppo im Fokus. Warum ist die Stadt in diesem Krieg so wichtig?

Christoph Reuter: Sie ist – je nach Zählweise – die größte Stadt des Landes überhaupt, inklusive der Vororte noch größer als Damaskus. Und sie ist nach vier, fünf Jahren Bürgerkrieg die einzige, in der die Rebellen zumindest noch einen Teil halten. Würde sie komplett unter Kontrolle des Assad-Regimes zurückfallen, dann bestünde die Revolution da ohne irgendeine wichtige Stadt. Insofern hat sie einen immensen Symbolgehalt für die Rebellen wie für Damaskus.

In der jüngsten “Spiegel”-Ausgabe schreiben Sie, dass die dramatischen Kämpfe in Aleppo ein wenig verdecken, wer der entscheidende Akteur in diesem Krieg geworden ist: Russland. Was will Russland in Syrien konkret erreichen?

Bei der Suche nach einer Lösung im Syrien-Konflikt will niemand einen Krieg mit Russland riskieren. Somit liege es allein in Moskaus Händen, was nun geschieht, so der Journalist Christoph Reuter.

Reuter: Russland möchte zwei einander widersprechende Ziele erreichen, und dass diese Ziele einander widersprechen, ist ihnen erst in den letzten ein, zwei Monaten aufgegangen. Sie wollen auf jeden Fall die Familiendiktatur der Assads an der Macht halten – der Ausgangspunkt dafür, dass die Syrer in fast allen Landesteilen 2011 auf die Straße gegangen sind. Aber sie wollen gleichzeitig, dass es eine international akzeptierte Vereinbarung gibt – inklusive Europas und der USA – für eine Zukunft Syriens. Denn sie wollen nicht auf ewig mit Truppen in Syrien stationiert sein, weil allen Beteiligten klar ist: Assad wird ein paar Wochen, nachdem die Russen sich komplett mit ihrer Luftunterstützung zurückziehen, stürzen. Das hieße, sie müssten ewig dort bleiben. Und das riecht im Verständnis der russischen Bevölkerung zu sehr nach Afghanistan, nach einem Krieg in einem fernen Land, wo man nicht gewinnt, sondern nur stirbt. Die bittere Ironie für Russland ist, dass es mit seiner Intervention im vergangenen September Assad militärisch wieder so mächtig gemacht hat, dass man sich in Damaskus überhaupt nicht mehr schert, um Bitten oder Forderungen aus Moskau, jetzt wenigstens kosmetische Konzessionen zu machen, wenigstens mit Bombardements von Giftgas aufzuhören, Oppositionelle zuzulassen, eine Einheitsregierung zu bilden. Nichts davon setzt Damaskus um, sondern man möchte wieder den totalen Sieg erzielen. Damit gibt es aber keine internationale Vereinbarung.

 

Angela Merkel hatte sich vor vier Wochen geäußert, beschrieb die Lage als “unendlich kompliziert”. Nun hat sich Regierungssprecher Seibert geäußert: Die Bundesregierung drängt auf einen humanitären Zugang für Aleppo. Das klingt eher nach einem verzweifelten Hilferuf als nach etwas Konkretem. Warum ist – insgesamt – die internationale Staatengemeinschaft so kraft- und wehrlos?

Reuter: Weil sie ganz am Anfang dieses Konfliktes sich selbst kraft- und wehrlos gemacht hat. 2011, 2012, als es darum ging, den Druck auf das Regime in Damaskus zu steigern, oder 2013, nach dem massiven Einsatz des Giftgases Sarin, ihn in die Schranken zu weisen, wenn nicht zu stürzen, hat man jedes Mal einen Rückzieher gemacht und gesagt, man wisse nicht, was danach komme, und vielleicht würden Waffen in die falschen Hände geraten. Man wollte nie über das Maß hinaus gehen, dass man gegen eine von Moskau und China blockierte Sicherheitsresolution hätte etwas unternehmen können. Und das waren noch die Jahre, bevor der Islamische Staat aufkam, bevor Kurden und Türken in einen weiteren Krieg verwickelt wurden, bevor Russland im vergangenen Herbst intervenierte. Man hätte ein paar Hunderttausend Menschenleben retten können, und man hätte ein ungewisses Ergebnis gehabt, aber man hätte diesen Krieg zu einem Ende gebracht.

Jetzt, speziell seit Russland aller Welt klar gemacht hat, dass jeder Angriff auf Assad auch ein Angriff auf Russland sei, schreckt jeder aus weitaus besseren Gründen zurück und sagt: Wir wollen keinen Krieg mit Russland anfangen. Und damit liegt es allein in Moskaus Händen, was geschieht. Man hat sich selbst über fünf Jahre in diese Ohnmacht hineingebracht.

Die Publizistin Carolin Emcke hat auf der diesjährigen Eröffnungsfeier der Ruhrtriennale die Festspielrede gehalten und ihr Gefühl der Ohnmacht beschrieben: “Unser Zuschauen, das uns zu untätigen Mitwissern werden lässt.” Wir sind berührt von diesen Bildern, aber inzwischen nicht mehr so stark, dass man eine moralische Konsequenz ziehen würde. Warum ist das so?

Reuter: Weil man sich das ganz am Anfang – und das betrifft sowohl die Politiker wie auch weite Teile des Publikums – angeschaut hat und so ein bisschen geschmäcklerisch, wie in einem Restaurant, gesagt hat: Aber wir mögen nicht das, wir mögen das; diese Opposition ist uns zu bärtig – wir wollen da lupenreine Demokraten haben. Weil man nicht sehen wollte, was geschehen wird, wenn man das so weiterlaufen lässt. Jetzt ist es in der Tat eine Situation der Ohnmacht geworden, aber wir dürfen nicht vergessen, dass es von März 2011 bis heute gedauert hat – weit über 300.000 Tote, die Zerstörung eines Dreiviertel des Landes -, bis wir im jetzigen furchtbaren Zustand angekommen sind. Aber furchtbar war der schon 2012, als niemand so recht davon wissen wollte.

Das Interview führte Claudia Christophersen.

Christoph Reuter, Journalist und Autor des Buchs “Die Schwarze Macht – Der ‘Islamische Staat’ und die Strategen des Terrors”, spricht über die Taten und das Kalkül des “IS”.  www.mesop.de