MESOP MIDEAST WATCH:Konflikt mit USA um Taiwan: China will nicht zögern, einen Krieg zu beginnen

FAZ 11.6.2022- Zum ersten Mal haben sich die Verteidigungsminister von China und den USA getroffen. Sie redeten über Taiwan. Die Gefahr der Eskalation ist groß. Japans Ministerpräsident warnt: „Ostasien könnte die Ukraine von morgen sein“.

Unter dem Eindruck des Ukrainekriegs wächst in Asien die Furcht vor einem militärischen Konflikt im Fall einer chinesischen Invasion Taiwans. „Lassen Sie es mich klar sagen: Wenn irgendjemand es wagt, Taiwan von China abzuspalten, werden wir nicht zögern, zu kämpfen. Wir werden um jeden Preis kämpfen und wir werden bis zum Ende kämpfen“, sagte der chinesische Verteidigungsminister Wei Fenghe beim Shangri-La-Sicherheitsdialog im südostasiatischen Stadtstaat Singapur.

Die Rede war auch eine Antwort auf den amerikanischen Verteidigungsminister Lloyd Austin. Der Amerikaner hatte China am Tag zuvor vorgeworfen, seine „provokanten und destabilisierenden“ militärischen Aktivitäten in der Nähe von Taiwan verstärkt zu haben. Dazu gehörten eine Rekordzahl an Aufklärungsflügen, die seit Monaten fast täglich in der Umgebung Taiwans stattfänden. „Unsere Politik hat sich nicht geändert, aber das scheint leider nicht für die Volksrepublik China zu gelten“, sagte Austin.

Auch Austin bemühte sich, den Eindruck einer kontinuierlichen amerikanischen Taiwan-Politik zu vermitteln. Die Vereinigten Staaten seien entschlossen, den Status quo in der Taiwanstraße aufrechtzuerhalten, sagte Austin. Die Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten und Chinas waren am Freitag zum ersten Mal am Rand der Konferenz zu einem bilateralen Gespräch zusammengekommen.

Ein Treffen war zuvor an Protokollfragen gescheitert, weil der chinesische Verteidigungsminister in der politischen Hierarchie seines Landes niedriger rangiert als der amerikanische Verteidigungsminister in den Vereinigten Staaten. Zuletzt hatte sich bei den Amerikanern Presseberichten zufolge die Ansicht durchgesetzt, dass Gespräche wichtiger sind als protokollarische Feinheiten. Ein Großteil der einstündigen Gesprächszeit war Taiwan gewidmet.

Dass China Taiwan für den Fall einer Unabhängigkeit mit Krieg droht, ist im Grundsatz nicht neu. Schon 2005 verabschiedete der Volkskongress in Peking ein Gesetz, in dem der Einsatz „nicht-friedlicher Mittel“ zur Verhinderung einer Abspaltung Taiwans festgeschrieben wurde. Auch Xi Jinpings Vorgänger hätten mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Krieg begonnen, wenn Taiwan offiziell seine Unabhängigkeit erklärt hätte.

Eine „heilige Pflicht“ für Peking

Seit der Machtübernahme 1949 betrachtet die Kommunistische Partei die „Wiedervereinigung“ als „heilige Pflicht“. Aus diesem Grund hat keine Regierung in Taipeh je gewagt, sich offiziell für unabhängig zu erklären. Eine Mehrheit der taiwanischen Bevölkerung lehnt einen solchen Schritt um des Friedens willen ab, obwohl Taiwan de facto längst ein souveräner Staat ist. Der ungeklärte internationale Status der Insel ist eine Altlast aus dem Zweiten Weltkrieg und dem chinesischen Bürgerkrieg. Eine Lösung der Taiwan-Frage wurde von China, Taiwan und den Vereinigten Staaten seither in eine unbestimmte Zukunft verschoben. Aber wie lange noch? Auf der Konferenz in Singapur wurde Verteidigungsminister Wei Fenghe gefragt, ob Peking den Status quo akzeptiere, wenn Taiwan davon absehe, seine Unabhängigkeit zu erklären. Eine Antwort blieb er schuldig.

In den vergangenen Jahren hat sich die Gefahr eines chinesischen Angriffs nach Einschätzung internationaler Beobachter erheblich erhöht. Vier Entwicklungen tragen dazu bei. Erstens baut China seine militärischen Kapazitäten mit großer Geschwindigkeit aus. Die amerikanische Geheimdienstkoordinatorin Avril Haines erklärte jüngst, Peking arbeite hart daran, die Fähigkeit zu erlangen, Taiwan auch dann einzunehmen, wenn Washington in den Krieg eingreifen sollte. Sie bezeichnete die Gefahr bis 2028 als „akut“. Der taiwanische Verteidigungsminister Chiu Kuo-cheng datierte den Zeitpunkt, bis zu dem China die Fähigkeit zu einer Invasion bei kalkulierbaren Kosten erreichen werde, auf 2025.

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Die militärischen Fähigkeiten sind von dem zweiten Faktor, den Absichten Pekings zu unterscheiden, zumal eine Invasion mit erheblichen Kosten und Risiken verbunden wäre. Manche Beobachter werten Äußerungen Xi Jinpings als Hinweis darauf, dass der Staats- und Parteichef einen Anschluss Taiwans zu seinen Amtszeiten oder spätestens bis 2049 erfüllt sehen will. Zweimal hat er geäußert, die Taiwan-Frage dürfe nicht von Generation zu Generation weitergereicht werden. Zudem hat er die Vereinigung zu einem integralen Bestandteil des „Wiedererwachens der chinesischen Nation“ erklärt, die nach seinem Willen bis 2049 abgeschlossen sein soll. Andererseits bekräftigte er in einer Grundsatzrede noch 2019 das Ziel einer „friedlichen Wiedervereinigung“. Mehr noch als ein historischer Fahrplan könnte eine innenpolitische Krise Xi Jinpings Anreize für eine militärische Intervention erhöhen.

Vorbild Hongkong?

Ein dritter Faktor sind die schwindenden Aussichten auf eine friedliche Vereinigung. Im Anti-Sezessions-Gesetz von 2005 heißt es, dass militärische Mittel ergriffen werden sollten, wenn „alle Möglichkeiten einer friedlichen Wiedervereinigung vollständig erschöpft sind“. Das scheint spätestens seit der Zerschlagung der Demokratiebewegung in Hongkong der Fall zu sein. Hongkongs Autonomiestatus unter dem Titel „Ein Land, zwei Systeme“ wurde von Peking stets als Vorbild für eine Vereinigung mit Taiwan propagiert. Das überzeugt kaum noch einen Taiwaner.

Inzwischen bezeichnen sich 62 Prozent der Bevölkerung nur noch als Taiwaner und nicht mehr als Chinesen. Das war früher anders. In den ersten Jahrzehnten nach dem Bürgerkrieg, der 1949 endete, strebte auch die Kuomintang-Führung in Taiwan eine Vereinigung an, wenn auch unter ihrer eigenen Führung. Bis heute hält die Kuomintang (Nationale Partei) an dem Ziel fest, nach einem imaginierten Sturz der Kommunistischen Partei Taiwan und China unter dem Dach der Republik China zusammenzuführen. Die Nationale Partei ist jedoch seit 2016 in der Opposition, ihre China-Politik wird von weiten Teilen der Bevölkerung abgelehnt.

Als vierter Faktor kommt hinzu, dass Taiwan aufgrund seiner strategischen Lage zum gefährlichsten Brandherd im Systemkonflikt zwischen China und den Vereinigten Staaten geworden ist. Eine chinesische Einnahme Taiwans könnte die gesamte US-geführte Sicherheitsarchitektur in Asien ins Wanken bringen. Auch deshalb rücken Japan, Australien, die Vereinigten Staaten und Taiwan enger zusammen. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat diese Annäherung beschleunigt.

Lloyd Austin hatte in seiner Rede darüber von der Taiwan-Frage abgesehen aber auch Chinas zunehmend „aggressive“ Vorgehensweise in Bezug auf territoriale Ansprüche anderer Art kritisiert. Im Rahmen des Sicherheitsdialogs in Singapur waren das bekannte Themen: die Spannungen im Ost- und Südchinesischen Meer und die Aufschüttung von Marinestützpunkten.

Die Liste der möglichen Brennpunkte, an denen ein militärischer Konflikt in Asien seinen Ausgang nehmen könnte, ist in den vergangenen drei Jahren noch weiter angewachsen. Austin sprach den Grenzstreit Chinas mit Indien sowie Vorfälle auf dem Meer und in der Luft unter Beteiligung chinesischer Schiffe und Militärflugzeuge an. „Dies sollte uns alle beunruhigen“, sagte er. Austin wies auch darauf hin, dass sich der russische Angriffskrieg in der Ukraine auch auf diese Region auswirke, und zog eine Parallele zu anderen möglichen Konfliktherden in diesem Gebiet. „Russlands Invasion in die Ukraine ist das, was passiert, wenn Unterdrücker die Regeln, die uns alle schützen, mit Füßen treten“, sagte er. Es sei ein Vorgeschmack auf eine Welt des Chaos und des Aufruhrs, „in der keiner von uns leben wollen würde“.